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Digital In Arbeit

„Als ob sie meine eigenen wären..."

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In Österreich gibt es kaum noch ungewollte, zur Adoption freigegebene Säuglinge. Zahlreiche, meist ältere Kinder warten dennoch in Heimen auf einen Platz bei einer Pflegefamilie. Um ihre Zahl zu verringern, wird Pflegeeltern jetzt die Möglichkeit einer Arbeitsanstellung angeboten.

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In Österreich gibt es kaum noch ungewollte, zur Adoption freigegebene Säuglinge. Zahlreiche, meist ältere Kinder warten dennoch in Heimen auf einen Platz bei einer Pflegefamilie. Um ihre Zahl zu verringern, wird Pflegeeltern jetzt die Möglichkeit einer Arbeitsanstellung angeboten.

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Als meine Kinder selbständig und zum Teil ausgezogen waren, war ich den ganzen Tag alleine zu Hause und nicht ausgelastet", erzählt Eva Amec*. In einem Radiobeitrag habe sie gehört, daß dringend Pflegeeltern gesucht werden und sich sofort gemeldet. „Ich habe mir gedacht: na, dann haben wir halt noch ein paar Kinder. In unserem großen Haus ist Platz genug."

Eva Amec ist selbst Mutter von fünf Kindern. Der älteste Sohn ist 24 Jahre alt. Die Zwillinge sind 22 und die beiden Mädchen 14 und 16. Dann kamen noch die drei Pflegekinder. Nel-li ist zwei Jahre, die beiden Halbgeschwister Birgit und Stefan sind vier und sechs. Bevor die Pflegekinder zur Familie Amec am Stadtrand von Wien gezogen sind, sprachen die Eltern ausführlich mit ihren eigenen Kindern über die Möglichkeit einer Pflegefamilie. „Die Mädchen waren anfangs nicht gerade begeistert. Aber jetzt ist meine Jüngste ganz froh darüber, weil ich nicht mehr so viel Zeit habe, sie zu kontrollieren. Sie besucht die Tanzschule' schmunzelt die jetzt achtfache Mutter und: „Mittlerweile herrscht auch geschwisterliche Eintracht."

Jede Woche zum Arzt

Eva Amec hat die damals einjährige Nelli zum ersten Mal im Krankenhaus gesehen. Sie wog mit nur sechs Kilogramm die Hälfte des für ihr Alter normalen Gewichts. „Die leibliche Mutter von Nelli wohnte bei der Tante. Die beiden Frauen haben so viel gestritten, daß das kleine Mädchen aus Protest nichts mehr gegessen hat", erzählt die Pflegemutter. „Nelli war im Spital so verstört, daß sie nur im Sitzen geschlafen hat. Wenn der Arzt ihr eine Spritze geben wollte, hat sie gelacht, wenn sie hätte lachen sollen, hat sie geweint. Nachdem ich sie bekommen habe, hat sie anfangs nur in meinen Armen geschlafen."

Das eigene Kind einer fremden Frau anzuvertrauen, sei der Mutter von Nelli sehr schwer gefallen, erzählt Eva Amec. „Sie war selber sehr dünn, noch so jung, sie hätte meine Tochter sein können und Nelli mein Enkelkind. Nellis Mutter hat mir sehr leid getan, weil sie so sehr mit sich gerungen hat und eine Woche nicht schlafen konnte, bis sich entschloß, ihre Tochter herzugeben, um ihr eine schöne Kindheit zu ermöglichen."

Das Verhältnis zur leiblichen Mutter ist noch immer gut. Sie kommt einmal im Monat zu Besuch. Jetzt hat Nelli bereits zwölf Kilogramm und hat nicht nur gewichtsmäßig viel aufgeholt. Sie ist lebhaft und aufgeweckt. „Obwohl", sagt Amec und streichelt

Evo Amec mit den Pflegekindern Birgit (4),

Nelli, „ein bißchen hinten nach ist sie noch immer."

Das Verhältnis zur Mutter von Stefan und Birgit ist nicht so reibungslos. Zuerst wurden die Kinder von den leiblichen Eltern regelmäßig besucht, dann kam niemand mehr. Die vierjährige Birgit fragt oft nach ihren Eltern und zeigt stolz ein Foto von ihr als Baby in den Armen ihrer Mutter. Eva Amec weiß, daß ihre Schützlinge auch bei noch so liebevoller Pflege in Loya-litäi.skoiiilikte kommen können. „Ich hebe sie so, als wären sie meine eigenen Kinder und sie sagen natürlich alle Mama zu mir. Nur ist mir auch bewußt, daß sie, wenn sie einmal älter sind, nach ihren eigenen Eltern suchen werden. Sie brauchen einfach auch den Kontakt zu ihren Familien. Sie werden fragen, woher sie kommen, wieso sie jene Eigenschaften und diese Nase haben."

Die leiblichen Eltern haben jederzeit ein Besuchsrecht. Außerdem haben sie die Möglichkeit, beim Pflegschaftsgericht einen Antrag auf Wiederrückführung des Kindes zu stellen. „Das Gericht muß prüfen, ob eine Wiederrückführung zu den leiblichen Eltern im Interesse des Kindes ist", erklärt Elisabeth Lutter vom Verein „Initiative Pflegefamilie", der auch die Familie Amec betreut. „Und da liegt auch das Problem, denn die elterlichen Rechte sind unheimlich stark. Daher kann es passieren, daß ein Pflegekind oft nach mehreren Jahren wieder zurück in die Ursprungsfamilie kommt. Das sind dann wirklich tragische Fälle. Meiner Meinung nach ist es massiv gegen das Wohl des Kindes, wenn man nach zwei oder drei Jahren, nachdem das Kind in der Ersatzfamilie eingewurzelt ist, neuerlich einen Beziehungsabbruch herbeiführt. Das müßte gesetzlich geregelt werden", meint Lutter.

Daß ihre drei Pflegekinder später einmal wieder den leiblichen Eltern zugesprochen werden, das glaubt Eva Amec aber nicht, obwohl der (angebliche) Vater von Stefan und Birgit die

Kinder damals gerne zu sich geholt hätte, jedoch im Gefängnis gesessen ist.

Birgit war 18 Monate als sie in die Pflegefamilie kam. Stefan bereits dreieinhalb. „Da gab es die größten Probleme. Je jünger die Kinder sind, desto weniger Schwierigkeiten gibt es in der Be-gel", erzählt Amec. „Ich habe gar nicht gewußt, was da alles auf einen zukommen kann." Stefan hatte eine Hüftkrankheit. Zwei Jahre lang mußte er eine Schiene tragen. „Das hat ihn natürlich schlimm getroffen, weil er sowieso ein sehr unruhiges Kind ist." Danach hat sich herausgestellt, daß er unter Wahrnehmungsstörungen leidet. Seine Zähne waren abgefault, nun kommen die Zweiten nach, die sind gesund. „Ich bin mit Stefan jede Woche bei irgendeinem Arzt. Jetzt haben wir festgestellt, daß er Polypen hat. Auch die Mandeln sind zu groß. Er war in allem so weit hinten. Er konnte sich nicht konzentrieren, nicht sitzen bleiben und er folgt nicht." Als die Familie den dreieinhalb Jahre alten Stefan

zu sich geholt hat, konnte er kein Wort verstehen und mußte noch Windeln tragen.

Die Fortschritte stellten sich überraschend schnell ein. „Man mußte es ihm nur zeigen und ihm helfen. Ich habe ihm einen Topf gekauft, der Musik gemacht hat, das hat ihm so gut ge -fallen, daß er nach nur drei Wochen sauber war. Er hat dann alles andere auch schnell nachgeholt. Natürlich ist er noch immer ein bißchen hinten.

Daß er aber zum Beispiel etwas mit den Holzklötzen baut", Amec deutet lachend auf den am Boden spielenden Stefan, „das ist ein unheimlicher Erfolg, und ich freue mich über jeden kleinen Fortschritt."

Angst vor Versagen

Stefan hat ungewöhnlich starke Aggressionen. Eva Amec besucht mit ihm eine Einzeltherapie, auch um ihn auf die Schule vorzubereiten. „Wenn ich manchmal mit anderen Menschen spreche und die sehen und erleben meinen Stefan, dann bekomme ich gelegentlich zu hören, na dem gehört einfach nur der Hintern versohlt. Sie wissen einfach nicht, was in diesem Kind vorgeht, warum er so ist. Diesbezüglich haben mir die Fortbildungsprogramme des Vereins sehr geholfen."

Amec besucht einmal pro Monat Fortbildungsseminare für Pflegeeltern, die vom Verein „Initiative Pflegefamilie (VIP)" organisiert werden. „Pflegeeltern müssen wissen, daß ihre Pflegekinder Beziehungsabbrüche hinter I sich haben und die sind für KingjM' der immer trau-Jm WK matisch. Reaktio-™ nen darauf können Verhaltensauffälligkeit bis hin zu psychosomatischen Krankheiten sein. Wenn wir Eltern schulen, dann machen wir sie belastbar und kompetent für die Probleme der Pflegekinder", erklärt Elisabeth Lutter vom VIP. „Denn sonst glauben sie: Wir waren doch lieb zu dem Kind. Warum ist es dann so boshaft? Oder: Was haben wir nur falsch gemacht? In beiden Fällen trauen sie sich oft nicht zu fragen, weil sie fürchten, man könnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie versagt haben und ihnen deshalb wieder das Kind wegnehmen."

*Namen der Familienmitglieder von der Redaktion geändert

PROFESSIONELLE PFLEGEELTERN GESUCHT

Um die Betreuung eines Pflegekindes auf eine professionelle Basis zu stellen, rief der Verein „Initiative Pflegefamilie" das Projekt „Mama. Papa. Gesucht. Gefunden" ins Leben. Dabei hat ein Pflegeelternteil die Möglichkeit, von der Gemeinde angestellt zu werden. Zu den bisher üblichen Unterhaltszahlungen (von rund 4.500 Schilling) für das Pflegekind wird ein Gehalt zwischen 5.800 und 6.800 Schilling netto pro Kind bezahlt. Der Pflegeeltern teil ist somit auch sozial abgesichert. Das Dienstverhältnis wird zwischen 20 und 40 Stunden bemessen. Für eine Anstellung verpflichtend ist eine zweisemestrige Ausbildung, sowie regelmäßige Teilnahme an Fallbesprechungen, Supervisionen und kontinuierliche Berichte an die Behörden.

Zur Zeit ist der unbefristete Pilotversuch auf Wien, Niederösterreich und die Steiermark begrenzt. Insgesamt beschäftigt der Verein derzeit 14 professionelle Pflegeeltern. „Leider konnten wir unser Ziel, nämlich 20 Angestellte bis Ende 1997, nicht verwirklichen", bedauert Lutter. „Die Gemeinde Wien hat nicht, wie zugesagt, ihr Budget verdoppelt." Diese Vorgangsweise ist für Lutter

nicht ganz einsichtig, denn: „Wenn ein Kind in einer Wohngemeinschaft oder in einem Heim untergebracht wird, sind die Kosten um ein vielfaches teurer. Außerdem ist man sich darüber glücklicherweise einig, daß Kinder Familien oder familienähnliche Bezugspersonen existentiell brauchen. Kinder brauchen nicht Heime, sondern verläßliche Beziehungen."

Allein in Wien sind derzeit rund 1.400 Kinder in Heimen und rund 1.600 bei - nicht angestellten - Pflegeeltern untergebracht. Das soll sich, hofft Lutter, in Zukunft ändern. „Femziel wäre, daß alle Pflegeeltern die Möglichkeit einer Anstellung bekommen. Oberösterreich kommt als nächstes Land dazu und da soll dieses Konzept realisiert werden. Auch hoffen wir, daß wir durch die EU Rückenwind bekommen, denn unser Modell stößt international auf hohe Akzeptanz und großes Interesse."

Auch Eva Amec ist vom Verein „Initiative Pflegefamilie" angestellt worden. „Mir ist es wichtig, daß ich angestellt bin. Dadurch ist meine Arbeit als solches anerkannt Es gibt aber Menschen, die meinen, das tut man nur aus Liebe, da darf man nichts dafür verlangen. Es hat mich

sogar schon einmal jemand gefragt, ob ich mich nicht schämen würde, dafür Geld anzunehmen. Liebe sei unbezahlbar. Ich habe natürlich sehr viel Freude und Spaß dabei, aber es ist auch anstrengend und nervenaufreibend. Ich muß für die Kinder Tag und Nacht da sein. Das ist eine Arbeit, die sehr wichtig ist, wTeil diese Kinder die Chance bekommen, zu erleben, was eine Familien alles bieten kann."

„Leider", weiß auch Lutter, „ist es ein unausrottbares Klischee, daß man nur großherzig sein muß, um für diese ,armen Kinder' sorgen zu können. Liebe alleine genügt aber nicht. Das ist zwar eine unverzichtbare Voraussetzung, greift aber zu kurz. Ersatzeltern müssen die Elternrolle mit pädagogischen Erzieher-qualitäten kombinieren. Wissen Eltern nicht, was für Probleme diese Kinder mitbekommen haben, können sie auch nicht auf erste Signale reagieren und kommen in der Regel nicht oder nicht genügend mit dem Pflegekindes zurecht. Im Heim delegiert man die Verantwortung ja schließlich auch nur an geschulte Betreuer." M. K

Nähere Auskünfte zum Projekt gibt der Verein VIP unter der Wiener Telefonnummer: 368 71 91.

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