Der Wert der Kinder

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Der Nationalrat stärkt die Rechte der Jüngsten. In der Praxis wäre aber noch viel zu tun, wie vier Expertinnen und Experten im FURCHE-Gespräch sagen.

Für Monika Pinterits ist völlig klar: "Da ist ein Jahrhundert-Ereignis versäumt worden.“ Wenige Tage, nachdem im Nationalrat am 20. Jänner über die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention in der Bundes-Verfassung abgestimmt worden war, traf die Kinder- und Jugendanwältin mit drei weiteren Expertinnen und Experten auf Einladung der FURCHE zusammen, um über die der gemeinsamen Auffassung nach vertane Chance zu diskutieren.

Von den 45 Kinderrechten, die die Vereinten Nationen 1989 ausgearbeitet haben, sind nämlich nur sechs in den Verfassungsrang gehoben worden (siehe Artikel unten). Als einzige Partei hatten die Grünen der in Anlehnung an das Lottospiel als "6 aus 45“ bezeichneten Vorlage nicht zugestimmt. Der Initiativantrag von Abgeordneten der Regierungsparteien liegt seit Ende 2009 vor.

Neben Monika Pinterits von der Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) Wien brachten sich der Mediziner Klaus Vavrik sowie Alfred Trendl, stellvertretender Vorsitzender des Katholischen Familienverbands der Erzdiözese Wien, und Roswitha Laminger-Purgstaller, zuständig für Kinder- und Jugendrechte beim SOS-Kinderdorf Wien, ins Gespräch ein.

Aushebelung der Kinderrechte

Nicht einmal die sechs übrigen Punkte seien unumstritten, kritisierte die Runde, weil der darauf folgende siebte das Ganze wieder ad absurdum führe. So erklärt Pinterits die mögliche Aushebelung der Kinderrechte, die aufgrund irrationaler Befürchtungen eingefügt wurde: "Es herrscht die Angst vor, man könnte Jugendliche nach einer Straftat nicht mehr einsperren dürfen, wenn es den Artikel 7 nicht gibt. Das ist völlig irre.“

Als Hintergrund vermutet sie die anstehenden Novellierungen des Fremdenrechts. "Man muss sich nur anschauen, was die Politik schon wieder möchte: Wenn Eltern in Schubhaft kommen, dürfen sie künftig aussuchen, ob sie ihre Kinder mitnehmen oder sie von der Jugendwohlfahrt unterbringen lassen. Das sind ganz klare politische Hintergründe, warum die Verfassung so ist, wie sie ist.“ Die Politik begreife nicht, worum es in der Sache ginge. Nämlich darum, "Rechte einklagen zu können. Die KJA "als Institution, welche die Kinderrechte wahren sollte, kann derzeit nur beratend tätig sein“.

Rechte wie jenes auf Bildung oder auf Gesundheit haben es von der UN-Kinderrechtskonvention nicht in die österreichische Verfassung geschafft. Roswitha Laminger-Purgstaller von SOS-Kinderdorf erklärt, dass es zwar die hinlänglich bekannte Schulpflicht gebe, aber "kein Recht auf Schule“. Sie erlebe fast täglich, "dass Kinder vor die Türe gestellt oder überhaupt der Schule verwiesen werden“. Nach einer Odyssee durch verschiedene Schulen stünden viele mit 15 Jahren ohne Schulabschluss da, wonach in der Folge keine ordentliche Ausbildung begonnen werden kann. Wenn sie 18 sind, fallen sie aus der Jugendwohlfahrt raus, weil die wiederum an eine Ausbildung gebunden sei. Dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, so aus dem System gestoßen werden, dürfe es nicht geben, fordert Laminger-Purgstaller.

Ganz konkret positiv würde sich das Recht auf Gesundheit samt entsprechender Klagsmöglichkeit im Gesundheitsbereich bemerkbar machen, so Klaus Vavrik, der als Kinder- und Jugendarzt, Psychiater und Psychotherapeut spricht.

Kindergesundheit: letzte Stelle

So gebe es allein in Wien für Kinder mit einer Entwicklungsbeeinträchtigung Wartezeiten von ein bis eineinhalb Jahren auf einen Therapieplatz. "Wir haben etwa tausend chronisch kranke Kinder auf Wartelisten“, klagt Vavrik. "Wenn das bei Erwachsenen der Fall wäre, dann würden alle Interessenvertreter Sturm laufen. Ein Skandal wäre das.“ Entgegen der oft vertretenen Volksmeinung sei unser Land keineswegs "top“, was die Gesundheitsversorgung für Kinder betreffe. "Erst ab 45 Jahren aufwärts sind wir traditionell in den Top-3. Laut OECD und UNICEF sind wir bei der Kindergesundheit aber an letzter Stelle.“

Wenn Pinterits die Verhinderung der Kinderarmut als rechtlich bindendes Anliegen in der Verfassung vermisst, ergänzt Vavrik: "Die heute armen Kinder sind die chronisch kranken Menschen der Zukunft. Das ist nicht nur flapsig dahergeredet. Letztlich sind Diabetes, Übergewicht und Depressionen die riesigen Kostenfresser der Zukunft“, betont er die volkswirtschaftliche Sicht.

"Man kann es auch so sehen“, legt Alfred Trendl die Argumentation des Katholischen Familienverbands dar: "Wäre alles okay, dann bräuchten wir diese Punkte nicht in der Verfassung. Wenn es aber zur Einklagbarkeit käme, hätten wir die normative Kraft des Faktischen auf unserer Seite. Man könnte auch Schadenersatz einklagen, dann ginge der Tanker langsam in die richtige Richtung.“

Grundlegende Übereinstimmung zeigten die Kinderexperten bei der Frage der symbolischen Bedeutung des Bundes-Verfassungsgesetzes: Die Verankerung umfassender Kinderrechte würde "einen Prozess der Bewusstseinsbildung bei den Behörden und der Bevölkerung in Gang bringen“; das könne aber nur funktionieren, "wenn es ernst gemeint ist“ - und deshalb müssten diese Anliegen ins Grundgesetz.

Dass allein über das Einfügen oder die Reform einzelner Paragraphen und Artikel in einen Gesetzestext unsere Welt jeglichen Unheils entbehrte, will freilich niemand behaupten. Zur Tatsache, dass die Politik nicht gewillt ist, bestimmte Kinderrechte eindeutig sicher zu stellen, kommt das Bewusstsein, dass unsere Gesellschaft immer noch nicht fähig ist, alle Kinder ausreichend vor Gewalt zu schützen.

Unglücksfälle wie der des dreijährigen Cain in Bregenz Mitte Jänner oder jener des eineinhalbjährigen Luca im Herbst 2007, deren andauernde Misshandlung schließlich mit ihrer Tötung endete, seien nicht immer zu verhindern. Aber einem Großteil wäre vorzubeugen, so die vorherrschende Überzeugung.

Dafür bräuchte es aber ein moderneres Versorgungswesen - ein berufs- und behördenübergreifendes Kindergesundheitsnetzwerk mit einem zusätzlichen Kinderschutzregister etwa. Bei Cain und Luca denkt Vavrik sofort an international erprobte Modelle von Frühwarnsystemen, die es z. B. in Deutschland bereits seit Jahren gebe. Er fordert, nicht zu warten, bis die Menschen kommen, sondern selbst vor Ort zu gehen.

Hilfestellung statt Drohgebärden

So sei es in Schweden gang und gäbe, dass nach einer Geburt eine Hebamme auf Besuch kommt, nach dem Rechten sieht und Unterstützung anbietet, ergänzt Pinterits - "egal, ob jetzt die Prinzessin ein Kind bekommt oder sonst jemand“. Auch in Korneuburg gebe es etwa die mobile Gemeinde-Kinderkrankenschwester, die alle Risikofamilien kennt, sagt Vavrik. Insbesondere brauche es "nicht immer höhere Strafen und Drohgebärden des Staates, sondern flankierende Maßnahmen und Hilfestellung. Dann ist man bei den Familien natürlich auch viel besser angeschrieben, als wenn das Jugendamt sagt: Wir werden Ihnen die Kinder wegnehmen.“

Die "g’sunde Watsch’n“ ist seit 1986 verboten; seither ist rechtlich verankert, dass in Österreich kein Kind geschlagen werden darf. Dennoch, verweist Pinterits auf empirische Daten, würden hierzulande nur 30 Prozent der Familien ihre Kinder gewaltfrei erziehen. "Ohne Schreien, Herabwürdigung oder psychische Misshandlung“, erweitert sie sicherheitshalber den Begriff, und betont: "Wir wissen, dass psychische Misshandlungen teils gravierendere Auswirkungen haben als Schläge.“ Wieder stehen die skandinavischen Länder weitaus besser da, in denen die gewaltfreie Erziehungsarbeit zu 90 Prozent realisiert sei.

Was aber tun, wenn auf der Straße, auf Spielplätzen - generell im öffentlichen Raum - verbale und körperliche Züchtigungen beobachtet werden? Die Runde rät zur unbedingten Einmischung, auch wenn das nicht immer leicht ist. Dabei seien Herz, Verstand und Seele die besten Maßstäbe. Vavrik empfiehlt in diesem Sinne: "Sollten Sie das Gefühl haben, dem Kind wird Unrecht getan oder Sie würden selbst nicht so behandelt werden wollen, dann schreiten Sie ein. So einfach ist das.“

Pinterits macht auch Mut, einem eventuellen Verdacht auf Verwahrlosung nachzugehen oder Eltern, die den Anschein der Überforderung machen, Hilfe anzubieten. "An der Art, wie jemand darauf reagiert, merkt man sehr viel“, erklärt sie. Und zwar vor allem, "ob man sich Sorgen machen muss“.

"Eine liebende Beziehung zum Kind“ nennt Trendl als Grundlage für das Zusammenleben ohne Gefahr eines ausartenden Konflikts. Dies sei jedoch keineswegs so selbstverständlich, wie man gemeinhin glaube, "sondern hängt auch von den jeweiligen Kapazitäten und Ressourcen ab“.

"Stress“, ergänzt Vavrik, spreche im Alltag nur zu oft gegen dieses harmonische Familienbild. Bei vielen Gewalttätern wisse man, dass sie den Kindern nichts Böses tun wollten. Sie hätten ihre Situation nur auf einmal nicht mehr ausgehalten - und sich plötzlich das Kind anschreiend und (zu Tode) schüttelnd wiedergefunden.

Der Großteil der Eltern sei wohl bestrebt, eine liebende Beziehung zum Kind zu entwickeln, ist Laminger-Purgstaller sicher. Aber: "Wir können nicht sagen, der heute gegebene Rahmen ist ausreichend dafür.“ Armut und Not, Arbeitsbelastung und Mobbing werden als mögliche Auslöser für eine Eskalation der Gewalt genannt.

"Blut ist nicht dicker als Wasser“

Das Allerschlimmste für jeden Sozialarbeiter sei natürlich, wenn ein Kind sterbe, das man nicht aus der Familie genommen habe“, sagt Pinterits. Eine solche Entscheidung sei aber stets "eine schwere und knappe“. Wenn das positive Gefühl "nur ein bisschen zu sehr überwiegt“, dann könne es schiefgehen: "Heute geht man auf einen Hausbesuch und das Kind ist halbwegs in Ordnung - am nächsten Tag ist es verbrüht und tot. Da geht es jedem schlecht dabei.“

Laminger-Purgstaller plädiert dafür, die Fremdunterbringung eines Kindes nicht als letzte Station zu sehen. Immerhin gebe es oft noch eine Verbundenheit mit den Eltern, "und zum Teil haben Rückführungen auch fünf oder sechs Jahre später noch funktioniert, weil die Eltern doch noch das notwendige Bewusstsein entwickelt haben“. Pinterits sieht das etwas nüchterner: "Eine Rückführung muss nicht um jeden Preis sein. Blut ist nicht dicker als Wasser.“

Was die Bundes-Verfassung unserem Nachwuchs garantiert

Vorbehaltlich der Akzeptanz durch den Bundesrat am 3. Februar regelt der am 20. Jänner im Parlament gefasste Mehrheitsbeschluss folgende Punkte: Das Kinderrecht auf "Schutz und Fürsorge“ sowie "bestmögliche Entwicklung und Entfaltung“; den "Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und Kontakte zu beiden Elternteilen“, so dies nicht dem Kindeswohl zuwiderläuft; das Verbot von Kinderarbeit; die Berücksichtigung der persönlichen Meinung "in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten“; das Recht auf "gewaltfreie Erziehung“; und schließlich den "Anspruch auf Schutz und Fürsorge“ von behinderten Kindern.

Diese Garantien obliegen aber der Einschränkung des nachfolgenden Artikel sieben, der ein Übergehen dieser Ansprüche gestattet, wenn das "eine Maßnahme darstellt, die (...) für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“ - Kritiker sehen dadurch das Wohl der Kinder materiellen Interessen hintan gestellt. (mad)

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