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Der Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger über die zwei Seiten der gestiegenen Sensibilität gegenüber auffälligen Kindern und Jugendlichen: Es werde eher mit Ausgrenzung und Strafe reagiert als mit Hilfe.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

Es werde zwar oft über verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche geklagt, wenn helfende Maßnahmen zum Einsatz kommen sollten, fehle aber der Wille, beklagt der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger.

Die Furche: Herr Professor, stimmt es, dass immer mehr Kinder und Jugendliche verhaltensauffällig werden?

Ernst Berger: Die Gesamtquantität nimmt nach unseren Einschätzungen nicht zu. Das, was sich offensichtlich in den letzten Jahren verändert hat, ist die Intensität von einzelnen Erscheinungsformen. Es hat innerhalb des Spektrums von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Krankheiten Verschiebungen gegeben. Externalisierende Störungen – also jene psychischen Konflikte, die nach außen getragen werden – haben innerhalb des Spektrums zugenommen. Der Schub liegt aber schon einige Jahre zurück.

Die Furche: Gibt es in Österreich dazu Studien?

Berger: Wenige. Wir stützen uns in erster Linie auf internationale und deutsche Studien. Bei den Studien muss man die begrifflichen Schwierigkeiten bedenken. In welchem Rahmen wird Verhaltensauffälligkeit definiert. Das sind komplexe Fragen.

Die Furche: Haben Sie eine brauchbare Definition?

Berger: Man könnte es provokant definieren: Was fällt mir am Verhalten eines anderen auf. Damit ist die ganze Schwierigkeit deutlich gemacht. Das heißt, Auffälligkeit definiert sich nicht nur über das Individuum, das wir beurteilen wollen, sondern auch über das Wahrnehmungsfeld der Umwelt. Das heißt, es gibt geografische, soziale und zeitliche Schwankungen. Als ich in den frühen 70er Jahren in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen bin, gab es auf diesem Gebiet eine andere Wahrnehmung als heute.

Die Furche: Welche Unterschiede nehmen Sie wahr?

Berger: Der deutlichste Unterschied hat zwei Seiten: Man kann sagen, dass die Sensibilität der Umwelt und die Bereitschaft, auf irritierende und störende Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zu reagieren, gestiegen ist. Das kann man aus fachlicher Perspektive positiv sehen: Signale und Hilferufe der Kinder werden rascher wahrgenommen. Aber welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Hier muss ich die negative Seite in den Vordergrund stellen: Wir merken, dass mit der gestiegenen Sensibilität eher Reaktionsweisen verbunden sind, die weniger Hilfe anbietende und organisierende als viel mehr strafende und ausgrenzende Konsequenzen im Angebot haben.

Die Furche: Haben Sie ein Beispiel?

Berger: Erst kürzlich wurde mir ein Fall geschildert: Ein zehnjähriger Bub, der eine Kooperative Mittelschule besucht, hatte Streit mit einem Mädchen. Das Mädchen behauptete, dass der Bub sie über die Stiege gestoßen hätte. Eine Körperverletzung lag nicht vor. Die Eltern des Mädchens erstatteten Anzeige. Die Mutter des Buben musste zur Polizei. Es wurde festgestellt, dass es keinen greifbaren Tatbestand gibt, aber die Anzeige musste abgewickelt werden. Ob das für irgendjemanden hilfreich ist, sei dahingestellt.

Die Furche: Lehrer klagen, sie müssten immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen. Das wird damit begründet, dass Kinder immer mehr alleingelassen werden, Familien brüchig geworden sind und Kinder zu viele Medien konsumieren.

Berger: Ich glaube, dass viele dieser Befunde nicht falsch sind, dass aber dahinter ein größerer und wichtiger Zusammenhang steht. Wir leben in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Strukturen verändern – angefangen von der Kommunikationstechnologie über Arbeitsorganisationen bis hin zu Formen des Zusammenlebens. Es ist eine Zeit, in der sich all diese Bereiche schnell verändern, das wird verbunden mit der Forderung nach lebenslanger Flexibilität und der Bereitschaft, seinen Lebensplan öfter zu verändern. Das alles stellt Anforderungen an Menschen, die nicht leicht zu bewältigen sind. In diesen globalen Veränderungen ist die Wurzel für das zu finden, was als Verunsicherung der Eltern wahrgenommen wird.

Die Furche: Teilen Sie die These, dass Kinder deswegen auffällig werden, weil die Erwachsenenwelt ihnen ein entsprechendes Vorbild vorlebt?

Berger: Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass in einer Epoche, in der – plakativ gesagt – die Ellbogengesellschaft als wünschenswertes gesellschaftliches Modell dargestellt wird, in der solidarisches Verhalten abgewertet wird und nur mehr als Privatinitiative, aber nicht mehr als gesellschaftlicher Auftrag gesehen wird, Kinder und Jugendliche Vorbilder haben, die ihnen genau das vorleben.

Die Furche: Wie sieht es mit Hilfsangeboten für Familien aus?

Berger: Diese gibt es nicht im ausreichenden Maße. Hier könnte ich viele Bereiche ansprechen: von der Schule bis zur Jugendwohlfahrt. Im Schulsystem erleben wir eine langsame und schwierige Veränderung. Die Möglichkeit in Schulen, kontinuierlich mit Kindern in Ganztagsmodellen zu arbeiten, mit Hilfe mehrerer Lehrersysteme, damit man auf alle Bedürfnisse eingehen kann, werden nach wie vor blockiert. Auch in der Jugendwohlfahrt: Die Länder wollen dafür nicht mehr Geld in die Hand nehmen.

Die Furche: Es wird also schnell gerufen: Immer mehr Kinder sind verhaltensauffällig. Wenn es aber darum geht zu helfen, regiert der Sparstift.

Berger: So ist es. Es wird danach gerufen, Anzeigen zu machen. Dann wird geklagt, wie groß die Anzeigenzahl in der Polizeistatistik und jene der Gefährdungsmeldungen bei der Jugendwohlfahrt sind. Das wird zum Anlass genommen, um zu sagen, wie schrecklich die Jugend sei; es brauche mehr Polizei. Sogar nach geschlossenen Einrichtungen wurde gerufen. Das konnten wir glücklicherweise abfangen.

Die Furche: Wie könnten Familien unterstützt werden?

Berger: Das sind Antworten, die ohnehin auf der Tagesordnung stehen, die aber wegen konservativer Widerstände elendslangsam umgesetzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Erweiterung von Bildungsangeboten für Kinder, der frühzeitige Eintritt in den Kindergarten oder die Schaffung von Ganztagsschulen Familien unterstützen würde. Natürlich braucht es die soziale Sicherheit. Wenn die Arbeit verloren geht, gehen Orientierung und Lebensentwürfe verloren, dann werden Beziehungen verunsichert.

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