Ein zweiter Schlag ins Gesicht

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Eine verschärfte Anzeigepflicht bei Kindesmisshandlung sei kontraproduktiv, so Experten: Opfer könnten sich zurückziehen, Ärzte gemieden werden.

Ein Fall, mit dem Kinder- und Jugendanwälte nicht selten konfrontiert werden: Ein Mädchen nimmt allen Mut, den es hat, zusammen, wendet sich an seine Lehrerin und erzählt ihr, dass sein Vater es sexuell missbrauche. Was soll die Lehrerin tun, fragt die oberösterreichische Kinder- und Jugendanwältin Christine Winkler-Kirchberger anlässlich eines Pressegesprächs gegen die geplante verschärfte Anzeigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung am vergangenen Montag.

In einer ersten Variante wendet sich die Lehrerin an ein Kinderschutzzentrum, auch die Jugendwohlfahrt wird eingebunden. Die Mutter des Kindes will zunächst der Tochter nicht glauben. Während einer Therapie mit Mutter und Tochter beendet sie ihr Verdrängen und steht hinter der Tochter. Nach einer gewissen Zeit der Therapie ist das Mädchen auch bereit, den Vater anzuzeigen.

In einer zweiten Variante bringt die Lehrerin gemäß des Gesetzesentwurfs den Fall sofort zur Anzeige. Die Polizei sucht die Familie auf, die Mutter streitet es ab, der Vater kommt vorübergehend in U-Haft, das Mädchen fühlt sich überrumpelt und erneut traumatisiert. Das Kind zieht sich noch mehr zurück. Die Beweisfindung vor Gericht ist extrem schwierig.

Erneut traumatisiert

Mit diesem Beispiel aus der Praxis wollen Vertreter verschiedenster Professionen, die sich im "Netzwerk Kinderrechte Österreich" zusammengeschlossen haben, das diffizile Vorgehen bei Gewalt gegen Kinder verdeutlichen. Eine schnelle Anzeige könne in manchen Fällen sinnvoll sein, in vielen ist sie es aber nicht, so der Protest der Experten gegen die geplante Anzeigeverschärfung (siehe Kasten oben). Es bestehe die große Gefahr, dass genau das Gegenteil von dem erreicht würde, was man beabsichtige: nämlich einen besseren Schutz der Kinder vor Gewalt, warnt Ernst Berger von der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie: Die Dunkelziffer bei Gewalt, sexuellem Missbrauch und Verwahrlosung werde nur noch größer. Viele Opfer seien durchaus bereit, sich jemandem anzuvertrauen, aber in einem ersten Schritt meist nur, wenn es zu keiner Anzeige komme, betont Berger. Die zweite Gefahr sei jene einer sekundären Traumatisierung. Zu oft komme es wegen mangelnder Beweislage zu einem Freispruch des Täters oder zu einer Einstellung des Verfahrens. "Die Einschüchterungen des Täters schon zuvor, es werde dir eh niemand glauben, trifft dann tatsächlich ein", sagt Udo Jesionek, früher Präsident des Jugendgerichtshofes und nun Leiter des "Weißen Ringes" für Kriminalitätsopfer. Er selbst hat 1993 für eine Lockerung der damals bestehenden allgemeinen Anzeigepflicht gekämpft, was schließlich gelungen war. Nun drohe ein Rückschritt.

Es bestehe auch die große Sorge, dass Eltern, die ihre Kinder verletzen, nicht mehr medizinische Hilfe suchen, warnt Klaus Vavrik von der Gesellschaft für Kinder und Jugendheilkunde. Die Arbeit von Kinderschutzgruppen in Krankenhäusern würde zunichte gemacht, denn die wichtige Phase der Abklärung und Auslotung von Lösungen zwischen Verdacht und Anzeige werde gestrichen (siehe Kasten unten). Olaf Jürgenssen, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde am Krankenhaus Wiener Neustadt und der dortigen Kinderschutzgruppe, kann dies nur unterstreichen und setzt hinzu: Er würde das Gesetz, sollte es so kommen, nicht vollziehen: "Da müsste man mich schon klagen", sagt der Kinderarzt der Furche.

Am Tag des Gesprächs in Wiener Neustadt wurde ein Säugling mit Schütteltrauma ins Spital gebracht. Das Kind verstarb. "Natürlich wurde da sofort eine Anzeige gemacht." Für dieses Kind kam der Schutz zu spät, weshalb früh angesetzte Prävention, etwa niederschwellige Elternberatung und auch -schulungen, der Schlüssel sei, wie Fachleute betonen.

Berger: Änderungen möglich

Warum Justizministerin Maria Berger, deren Entwurf zum Gewaltschutz in anderen Punkten auch gelobt wird, eine Verschärfung der Anzeigepflicht einführen will, liegt laut Experten vermutlich daran, dass eine solche Maßnahmen in der Öffentlichkeit populär erscheint.

Im Justizministerium ist man gesprächsbereit: Man nehme die Kritik sehr ernst und sei für Änderungen in puncto Anzeigepflicht offen, hieß es aus Bergers Büro. Tatsache sei aber, dass auch das jetzige Gesetz nicht optimal sei und es zu Verbesserungen kommen müsse. Es habe mehrere Beispiele gegeben, die gezeigt hätten, dass zu lange zugewartet wurde, wehrt man sich gegen Vorwürfe, dies sei eine "Anlassgesetzgebung".

Die Experten in der Kinderschutzarbeit wollen das jetzige Gesetz im Großen und Ganzen so beibehalten, sehen aber Handlungsbedarf in der besseren Koordinierung zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen und Behörden und vor allem in einer Verstärkung der Ressourcen, allen voran von Jugendämtern. Wenn es zu Fehleinschätzungen gekommen sei, dann weil es in der Koordinierung und in der personellen Ausstattung gemangelt hätte.

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