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Statt privater Hilfe wird das Amt gestärkt

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„Früher stand das Elternrecht im Mittelpunkt, heute ist es das Kindrecht." So charakterisiert Herbert Ent, Justizexperte in Sachen Familien- und Jugendrecht, die Tendenz eines neuen Jugendwohlfahrtsgesetzes. Das aus dem Jahr 1954 stammende Recht - in den Grundsätzen reicht es überdies auf das Verfassungsgesetz aus 1929 zurück - ist stark veraltet und „muß dem neuen Familien- und Kindschaftsrecht angepaßt werden" (Broda-Sprecher Sepp Rieder).

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„Früher stand das Elternrecht im Mittelpunkt, heute ist es das Kindrecht." So charakterisiert Herbert Ent, Justizexperte in Sachen Familien- und Jugendrecht, die Tendenz eines neuen Jugendwohlfahrtsgesetzes. Das aus dem Jahr 1954 stammende Recht - in den Grundsätzen reicht es überdies auf das Verfassungsgesetz aus 1929 zurück - ist stark veraltet und „muß dem neuen Familien- und Kindschaftsrecht angepaßt werden" (Broda-Sprecher Sepp Rieder).

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Bund, Länder und die Arbeitsgemeinschaft für öffentliche Fürsorge und Jugendwohlfahrt arbeiten denn auch an einem Gesetzesentwurf, der noch.im ersten Halbjahr 1980 zur Begutachtung vorliegen soll. In außerparlamentarischen Verhandlungen diskutieren Experten über Schwerpunkte wie etwa

• das Vormundschaftsrecht der ledigen Mutter,

• die gesetzliche Anpassung an die Tendenz, Kinderheime abzubauen; in diesem Zusammenhang

• über eine verbesserte Rechtstellung der Pflegeeltern (FURCHE 51/52 vom 19. 12. 1979: „Sehnlichster Wunsch ein eigenes Kind") und

• eine wirksame Hilfe gegen Kindesmißhandlung.

So wurden in jüngster Zeit gerade zu diesem Problemkreis vermehrt Stimmen laut. Die Generalsekretärin der ÖVP-Frauenbewegung, Marilies Flemming, forderte wiederholt die Einrichtung von Kinderschutzzen-tren und plädiert „für die Verankerung dieser Institution im Wohlfahrtsrecht".

Primäres Ziel dabei wäre: neben der pädagogischen Betreuung der gesamten Familie sollen mißhandelte Kinder nicht in Heimen, sondern vorübergehend in einer Art von Großfamilie aufgenommen werden.

Überdies möchte die engagierte Generalsekretärin auch den Sozialarbeitern das Leben leichter machen: „Ich bin zwar nicht Kronjurist, ich könnte mir aber vorstellen, daß der Sozialarbeiter - so wie der Bewährungshelfer ja derzeit schon - von der gesetzlichen Anzeigepflicht befreit wird."

Erleben die Sozialarbeiter doch infolge ihrer fast schizophrenen Situation starke Spannungen: Sie sollen sich therapeutisch verhalten, müssen jedoch diagnostisch mit Gerichtsfragebogen und anderen amtlichen Aufträgen umgehen. „Wer aber unter Anzeigepflicht arbeitet, findet keine Möglichkeit zur Verbesserung von familiären Konfliktsituationen." So klagt ein Papier, das eine Gruppe von Sozialarbeitern des Bezirkes Mürzzuschlag zum Thema Kindesmißhandlung erarbeitet hat.

Die Reformbemühungen werden freilich kaum Wurzeln schlagen, solange die Ohrfeige nach wie vor gesellschaftsfähig ist. Flemming kritisiert daher auch erneut die seinerzeitigen Überlegungen um das Kindschaftsrecht. Wohl wurde damals das

Recht der Eltern auf körperliche Züchtigung eliminiert, „man hatte jedoch nicht den Mut, zu sagen, Kinder dürfen nicht geschlagen werden". Mehr noch: in den erläuternden Bemerkungen des Gesetzes findet sich ein Passus, wonach Erziehung durch „körperliche Einwirkung" durchgesetzt werden könne. Flem-ming: „Ich liege quer durch die Parteien sehr schlecht, aber solange eine Ohrfeige von der Gesellschaft akzeptiert wird, bleiben die Grenzen zur Mißhandlung fließend."

Eine 1977 veröffentlichte IFES-Studie bestätigt das Volksbewußtsein: 85 Prozent der Befragten bejahten die Norm, daß ein kleiner Klaps einem Kind nicht schade.

Dennoch weigern sich die Justizverantwortlichen, im neuen Jugendwohlfahrtsrecht die ÖVP-For-mulierung „Kindesmißhandlung muß unterlassen werden" zu verankern: „ ... weil das selbstverständlich ist", argumentiert Justizminister Christian Brodas Zuarbeiter Ent und öffnet damit jenen Spekulationen Tür und Tor, wonach Kindesmiß--handlung „entkriminalisiert" werden soll.

Allerdings werden nicht alle Ideen der ÖVP von den Rechtsreformen verworfen. Das Vorarlberger Modell der „offenen Wohnungen" soll bei den Bemühungen um die Zurückdrängung der Kinderheime Pate stehen.

Vor Jahren schon haben Experten im schwarzen Ländle ein Betreuungsmodell für Jugendliche gefunden, das den behördlichen Anstrich weitgehend verloren hat und familienähnliche Strukturen schafft. In einem Vier-Phasen-System soll der junge Mensch - von geschulten Sozialarbeitern betreut - lernen, sich in die Gesellschaft einzugliedern.

Nach einer anfänglichen Intensivbehandlung kommt der Jugendliche in eine lockere Wohngemeinschaft. Dort können mehrere Jugendliche im normalen Wohnbereich inmitten der anderen Stadtbewohner wohnen. Als letzte Phase gilt das freie Verhältnis zur Bezugsperson und ambulante Betreuung.

Unter dem Motto „freie Sozialarbeit" wird die Initiative von pärtei-und staatsunabhängigen Stiftungen und Vereinigungen getragen. Das Land Vorarlberg subventioniert das Projekt.

Ähnliches wurde 1973 in der BRD von vier Pädagogen als Alternative zur üblichen Heimerziehung ins Leben gerufen. In Marburg, im „Kinder-und Jugendhaus Erlengraben", verpflichten sich die Erzieher langfristig und wohnen deshalb immerauch mit ihrem Lebenspartner in dem Haus. „Nicht nur auf Grund der enormen Defizite der uns Anvertrauten, sondern weil wir Schichtdienst mit Erziehung für unvereinbar halten." Davon ist die Erzieherin Marianne überzeugt. „Der Erzieher bringt sich selbst als Person ein. In zwei der sechs Wohnungen sind die Männer angestellt, in den anderen die Frauen.

Nur jeweils einer soll Erzieher sein, der andere abends aus einem normalen Beruf heimkommen, denn Erziehungsprozesse haben eine sehr praktische Seite."

Österreichs Legisten wollen das hochgelobte Modell freilich nur modifiziert übernehmen. Statt der Privatinitiative wird das Jugendamt gestärkt. „Eine moderne Servicestelle in jedem Jugendamt soll eine Umschichtung in Richtung Beratung vollziehen", hofft Ministerialrat Ent vom Justizministerium. Gleichzeitig soll die sogenannte Sachwalterfunktion der Behörde - amtliches Einschreiten bei gestörten Familienverhältnissen - auf alle Kinder ausgedehnt werden. Bislang nämlich konnte das Amt lediglich im Unterhaltsfall in die Normalfamilie eingreifen.

Der Vorarlberger Jugendexperte Hermann Girardi ortet Entmündigung: „Man kann doch nicht von vorneherein alles unter Kuratel stellen."

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