Enttabuisiert - oder einfach bloßgestellt?

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Constantin Wulffs Dokumentarfilm "Wie die anderen" will die Kinder- und Jugendpsychiatrie von ihrem Stigma befreien -und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Rechte psychisch kranker Kinder zu verletzen. Über einen ambitionierten Film zwischen den Fronten.

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Constantin Wulffs Dokumentarfilm "Wie die anderen" will die Kinder- und Jugendpsychiatrie von ihrem Stigma befreien -und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Rechte psychisch kranker Kinder zu verletzen. Über einen ambitionierten Film zwischen den Fronten.

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Christian hat Zwangsgedanken und Schlafstörungen, manchmal hört er auch Stimmen. "Keine schwere Basisstörung", beruhigt der Oberarzt ihn und seiner Mutter, aber vermutlich "dissoziative Signale", die man mit Antidepressiva behandeln sollte.

Sophie wiederum hat Bulimie und verletzt sich selbst, ihre Arme sind übersät von wulstigen Narben. Manchmal schafft sie es, sich wochenlang nicht zu schneiden, doch dann sind die Hämoglobinwerte wieder so niedrig, dass eine Bluttransfusion nötig wird.

Dominik schließlich kriecht allein den Gang entlang und presst sein Gesicht gegen die Wand. Als die Heilstättenlehrerin den Siebenjährigen zurück zum Unterricht ziehen will, beginnt er lautstark zu toben. Eigentlich könnte er längst nach Hause, doch wo ist das überhaupt? Bei seiner Mutter? Oder doch bei Pflegeeltern? "Er schwebt im luftleeren Raum", klagt man in der Teamsitzung.

Szenen wie diese gehören zum Alltag der Abteilung für Kinderund Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Tulln -und Constantin Wulff hat sich entschieden, sie in einem Dokumentarfilm zu zeigen: ohne Interviews, ohne Musik, ganz im Stil des "Direct Cinema", wie er es schon in seinem preisgekrönten Geburtsklinik-Porträt "In die Welt" praktizierte. Nicht nur die Situation der Kinder, auch jene ihrer Betreuenden kommt dabei in den Blick - ihr Bemühen ebenso wie ihre Überforderung. "Wir schaffen das ressourcenmäßig nicht mehr", sagt eine verärgerte Kollegin zu Paulus Hochgatterer, dem ärztlichen Leiter der Abteilung. "Also: Was streichen wir?"

enttabuisierte instimsphäre?

Drei Jahre lang hat Constantin Wulff für sein neues Opus, das die Kinder- und Jugendpsychiatrie endlich "entstigmatisieren" sollte, gedreht. Kein leichtes Unterfangen, schließlich war nicht nur die Zustimmung von Hochgatterer nötig, der neben seiner ärztlichen Tätigkeit wie Wulff an der Wiener Filmakademie lehrt, sondern auch das Okay der Niederösterreichischen Landesklinikenholding sowie - natürlich - auch jenes der Protagonisten. Waren sie minderjährig, mussten auch ihre gesetzlichen Vertreter zustimmen.

Als "Wie die anderen" vergangenes Frühjahr beim Grazer Filmfestival Diagonale präsentiert wurde, waren die Reaktionen einhellig positiv. Nächste Woche kommt der Film nun regulär in die Kinos. Tatsächlich ist dem Regisseur, der auch das Drehbuch verfasste, über weite Strecken ein einfühlsames Institutionen-Porträt gelungen. Doch wie sieht es mit dem Persönlichkeitsschutz der psychisch kranken Darsteller aus? Zwar hat man auf Nachnamen und biographische Details verzichtet und die Vornamen nachträglich auf Christian, Sophie oder Dominik geändert - aber ist das genug, wenn zugleich ihre Gesichter in Kino und Internet zu sehen sind?

Fragen, die seit Wochen polarisieren. Bereits Anfang Juni hat der Kinder-und Jugendpsychiater Patrick Frottier im Falter heftige Kritik geübt. "In einem Film als jugendlicher psychiatrischer Patient dargestellt zu werden, kann noch nach Jahren als erinnerte Belastung präsent werden, egal, wie differenziert diese Präsentation auch gelingt", erklärte er. Selbst die Zustimmung der Eltern würde das nicht legitimieren, denn die Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht sei "unvertretbar".

Tatsächlich könnte man den Film nach einem Urteil des Wiener Oberlandesgerichtes vom Mai dieses Jahres in dieser Form wohl nicht mehr drehen: Die auf Persönlichkeitsschutz spezialisierte Rechtsanwältin Maria Windhager hatte im Namen eines Mädchens das Boulevardblatt Österreich geklagt - und gewonnen. Bilder, die den "höchstpersönlichen Lebensbereich" von Kindern verletzen, dürfen demnach nicht mehr von Medien veröffentlicht werden - selbst wenn die Eltern zugestimmt haben. "Auch Therapiegespräche sind höchstpersönlich", erklärt Windhager im FURCHE-Interview. Entsprechend kritisch sieht sie Wulffs Film - auch wenn sie vorerst nur den Trailer kennt (s. u.).

Auch in der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, deren erster Vizepräsident Paulus Hochgatterer ist, scheiden sich die Geister. Ralf Gößler, Vorstand der Abteilung für Kinder-und Jugendpsychiatrie des Neurologischen Zentrums Rosenhügel in Wien, empfindet den Film "ethisch-moralisch als Katastrophe". Welche Nachteile die öffentliche Darstellung für die Betroffenen habe, sei "nicht abschätzbar". Auch sei fraglich, ob der Film überhaupt zur Entstigmatisierung beitrage: "Aus meiner Sicht wirkt die Atmosphäre nicht unbedingt einladend, es dominieren eher die Nöte der Protagonisten. Dabei hat die Kinderpsychiatrie oft auch etwas sehr Freudvolles und Lebendiges", so Gößler.

Völlig anders die Einschätzung von Andreas Karwautz, Präsident der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Experte für Essstörungen: "Der Film zeigt sehr gut, wieviel Reflexion auf so einer Station geschieht, aber er beschönigt auch nichts", sagt Karwautz. "Er zeigt die Realität. Insofern ist er für die Kinder und Jugendlichen und auch für unser Fach von großem Wert." Gerade aus seiner Arbeit mit Bulimie-Patientinnen wisse er, wie wichtig es sei, gegen die Stigmatisierung von psychischen Krankheiten anzukämpfen. Die Gesichter der Betroffenen zu verpixeln, hätte einmal mehr "signalisiert, dass man hier etwas verstecken muss", glaubt Karwautz.

Torpedierte entstigmatisierung?

Ein Argument, das auch Constantin Wulff vorbringt. "Als wir in einer ersten Version die Gesichter unkenntlich gemacht haben, hat man sich sofort gefragt: Warum zeigen die die Kinder nicht? Ist das so schlimm dort? Das hätte unser Ziel der Entstigmatisierung völlig torpediert." Das Urteil des Wiener Oberlandesgerichtes über einen üblen Fall von Boulevard-Berichterstattung auf seine künstlerische Dokumentation zu übertragen, hält er jedenfalls für unzulässig. "Unser Film ist der falsche Anlass: Erstens gibt es viele Dokus, die noch viel mehr zeigen; zweitens werden die Kinder bei uns ganz und gar nicht bloßgestellt, sondern sie haben mit ihren Eltern jede Szene vorab sehen können und stehen völlig dahinter. Und wenn man dieses Einzelurteil drittens radikal interpretieren würde, müssten alle Fotos von Kindern und Jugendlichen aus der Öffentlichkeit verschwinden", sagt Wulff.

Umso überraschter ist er über die ganze Aufregung - wie auch über die Landeskliniken-Holding. Auf die Frage der FURCHE, unter welchen Bedingungen man den Dreharbeiten überhaupt zugestimmt habe, teilte man nur mit, "dass eine Abstimmung mit der Produktionsfirma (Navigator Film, Anm.) hinsichtlich der PatientInnenrechte derzeit am Laufen ist." Und das eine Woche vor dem Kinostart ...

Wie die anderen

Ö 2015. Buch und Regie: Constantin Wulff. Stadtkino. 95 Min. Ab 11.9.

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