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Im Buch "Kindsein zwischen Leben und Überleben" werden 15 wahre Lebensgeschichten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geschildert. Ihre Kindheit ist geprägt von Gewalt, Missbrauch, Sucht, aber auch Behinderung und Flucht. Und trotzdem gelingt es einigen Betroffenen, der Gewaltspirale zu entkommen.

Ich bin kein Kind, ich bin eine Frau", sagte Jaqueline immer wieder. Sie war nur schwer von dieser Meinung abzubringen, hatte sie doch diese Rolle so stark verinnerlicht.

"Ich bin kein Kind, ich bin eine Frau", sagte Jaqueline erneut - sie war erst fünf. Sie wurde von ihrem Vater missbraucht. So wie ihre Mutter als Kind von nahen Angehörigen sexuell missbraucht wurde. "Es war gar nicht so schlimm", sagte die Mutter über das, was ihr angetan wurde. Sie hatte es verdrängt, sie wollte das Leid der Tochter nicht sehen. Es war für sie Normalität: Missbrauch, Gewalt, Sucht, Verwahrlosung - vererbtes Leid. So war es bei ihr, warum sollte es bei ihrer Tochter anders sein. Doch Jaqueline hatte eine Chance. Das Kind musste aus der Familie genommen werden und wuchs in einer Pflegefamilie auf. Es dauerte lange, bis das kleine Mädchen anfing, sich als Kind zu sehen und sich wie ein solches zu verhalten.

Wenn Gewalt zum Erbe wird

Diese Schilderung eines traumatischen, kalten Startes ins Leben ist eine von 15 wahren Lebensgeschichten, die im Buch "Kindsein zwischen Leben und Überleben" erzählt wird. Das Buch wurde zum Auftakt des 60-Jahr-Jubiläums des SOS-Kinderdorfs herausgegeben und vergangene Woche vorgestellt. Die Geschichten werden mit Hintergrundinformationen, Kommentaren von Expertinnen und Experten und mit Gedanken ergänzt. Bittere Kindheit dürfe kein Randthema bleiben, betont Christian Moser, Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Österreich. "Über Kindheit wird viel gesprochen. Das ist meist Schönes. Über Kindheit wird viel geschwiegen. Das ist meist Furchtbares. Von Zeit zu Zeit wird das Verschwiegene laut und das Dunkle grell. Dann rollen Wellen von Betroffenheit durchs Land. Der Ruf nach Veränderung verhallt meist in der stillen Zeit, in der Zeit des Wartens, bis es wieder grell und laut wird. Dazwischen passiert Kindheit, schöne und schreckliche", schreibt Moser am Ende des Buches. Die Seiten davor berichten vor allem von einem: von Grenzen.

Grenzen, auf die die Eltern stoßen, wenn sie durch Alkoholsucht oder psychische Erkrankung nicht mehr weiterwissen; wenn sie die Behinderung des Kindes überfordert; wenn sie keinen anderen Ausweg kennen, als wieder Gewalt auszuüben, die sie wahrscheinlich auch selbst nur zu gut kennen. Es sind auch die Grenzen von Bindungen, die oft als so natürlich angesehen werden, die aber in Wahrheit sehr zerbrechlich sind, aber, wenn gelungen, auch tragfähig für ein ganzes Leben: die Bindungen des Kindes zu seinen unmittelbaren Bezugspersonen wie Vater und Mutter. Es sind aber auch Grenzen des Mitgefühls, die in den Geschichten deutlich werden: Gefühlskälte, Ausgrenzung in der Familie und außerhalb.

Und doch zeigen die tragischen Geschichten auf, dass Grenzen überwunden und niedergebrochen werden können, dass ein Neuanfang trotz traumatischer Erlebnisse möglich ist, wenn vor allem mitfühlende und auch professionelle Hilfe so früh wie möglich eingreift. Es werden aber auch Grenzen von Therapien und Heilungsmöglichkeiten aufgezeigt.

Dennoch: Zu oft wird auch übersehen, welche Ressourcen jene Kinder entwickeln, deren Start ins Leben derart schwierig verläuft. So weist Alexandra Puhm, Expertin für Alkoholismus in Familien vom Anton-Proksch-Institut, bei der Präsentation des Buches darauf hin, "dass viele Kinder aus Alkoholikerfamilien trotz zahlreicher Risikofaktoren eine unauffällige Entwicklung durchlaufen, weil sie eben Ressourcen entwickeln, die sie in ihrer schwierigen Lebenssituation überleben lassen. Diese Ressourcen gilt es zu stärken."

Doch zunächst gilt es für die Gesellschaft, noch mehr hinzuschauen, vor allem wohl auf sich selber und auf die nächste Umgebung. Und es gibt genügend, wo man noch hellhöriger sein und genauer hinsehen müsste: 2007 erhielten hierzulande über 23.000 Kinder und Jugendliche Hilfe von der Jugendwohlfahrt, um in der Familie bleiben zu können. Über 10.000 mussten aber aus den Familien genommen und bei Pflegeeltern, Kinderdörfern oder anderen Einrichtungen untergebracht werden. Jedes vierte Kind ist laut Anton-Proksch-Institut von Alkoholproblemen in der Familie betroffen. Solche Kinder haben ein vier bis sechsfach höheres Risiko, später selbst am Alkoholismus zu erkranken. Jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebte bis achte Bub wird laut Kinderschutzzentrum "die möwe" als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch. Das sind nur einige Zahlen, die das Leiden vieler Kinder und Familien verdeutlichen.

Ein dichtes Netz früher Hilfen

Betroffene selbst sprechen aber auch von Hoffnung, wenn Hilfe rechtzeitig kommt, was eines verdeutlicht: Das Netz an Hilfen, an frühen Hilfen, müsse noch dichter werden, fordern Betroffene und Fachleute.

So schildert das Buch auch die Leidensgeschichte einer Frau, deren Leben mit eigenen Worten großteils aus Missbrauch bestand. "Hinter mir liegen nun fast zehn Jahre Psychiatrie, knapp 30 psychiatrische Aufenthalte, zerschnittene Arme, Beine, fünf Selbstmordversuche, endlose Therapie, Medikamentendosen von bis zu 18 Tabletten täglich. Manchmal hat man mich zu meiner eigenen Sicherheit ans Bett gegurtet", erzählt die Frau heute, was sie als erneuten Missbrauch empfunden hat. Und sie schließt ihren berührenden Bericht dennoch mit Mut zur Heilung und zum Leben: "Man hat mir vieles genommen, aber mein Lachen nicht. (…) Da draußen wartet eine Zukunft auf mich. Sie ist entweder gut oder schlecht, aber sie ist unvermeidlich!" Der Titel der Geschichte: Ich lebe und ich lache."

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