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Viel zuviel wird noch versteckt”

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Familienminister Martin Bartenstein will die „schweigende Mehrheit” im Kampf gegen die Brutalität im Alltagsleben mobilisieren.

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Familienminister Martin Bartenstein will die „schweigende Mehrheit” im Kampf gegen die Brutalität im Alltagsleben mobilisieren.

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DIEFURCHE: Fühlen Sie sich eigentlich noch zuständig für die so oft zitierte „heile Welt im trauten Heim” oder sind Sie nicht schon längst eherein Mi-nisterfür „kaputte Familien”, wenn man bedenkt, welche Tragödien sich dort täglich abspielen (siehe Seite 1)? Familienminister Martin Barten -stein: Als Familienminister bin ich selbstverständlich für alle Familien zuständig. Es wäre naiv zu glauben, daß Familie automatisch eine „heile Welt” bedeutet. Daß dem nicht so ist, wurde uns gerade in den vergangenen Tagen in erschütternder Weise vor Augen geführt. Um so mehr muß Familienpolitik bemüht sein, Familien auf der einen Seite bei der Erfüllung ihrer positiven Aufgaben zu unterstützen und Rahmenbedingungen für ein glückliches Familienleben zu schaffen, auf der anderen Seite aber dort, wo Familie versagt und sogar Leid zufügt, einzugreifen und wirksame - vorbeugende und nachgehende - Maßnahmen anzubieten.

DIEFURCHE: Wo beginnt ßr Sie Gewalt^

Martin Bartenstein: Gewalt beginnt für mich dort, wo die physische und psychische Integrität des einzelnen systematisch und vorsätzlich durch andere Personen oder Institutionen verletzt wird. Unter das Gewaltverbot in der Erziehung fällt jede die Menschenwürde verletzende Handlung, somit nicht nur physische Gewalt, sondern auch die Androhung von Gewalt und die Zufügung seelischen Leides und selbstverständlich auch die bewußte Vernachlässigung bis zur Verwahrlosung hin. Das kann von unterschwelligen Eingriffen in die Intimsphäre des Kindes durch Berührungen oder verbale Äußerungen bis zu körperlichen Mißhandlungen reichen.

DIEFURCHE: Wie wollen Sie gegensteuern?

Bartenstein: Zuerst einmal löst es in mir tiefe Betroffenheit für die Opfer aus. Ich sehe es als vorrangiges Problem, daß körperliche und sexuelle Mißhandlungen, die bekannt werden, weit hinter dem wirklichen Ausmaß der Fälle zurückbleiben, und dabei die Dunkelziffer in bezug auf Kindesmißhandlungen in der frühen Kindheit besonders groß ist. Für mich stellt daher die Aufdeckungsarbeit, verbunden mit angemessener und sofort einsetzender Intervention, die absolute Priorität dar.

DIEFURCHE: Wird seitens der Politik überhaupt genug getan, damit das Zusammenleben in der Familie besser gelingen kann? bartenstein: Die Problematik „Gewalt in der Familie” ist dem Ministerium schon seit Jahren ein entscheidendes Anliegen, zu dem neben Grundlagenforschung auch direkte Aktionen zur Reduzierung von Gewalt durchgeführt wurden und werden. So läuft jetzt schon vier Jahre hindurch die österreichweite „Plattform gegen die Gewalt in der Familie” sehr erfolgreich, von der, zugeschnitten auf die regionalen Bedürfnisse, laufend Schulungen mit Polizisten, Lehrern, Kindergärtner(inne)n, Ärzten und Richtern durchgeführt werden, um sie auf Verhaltensauffälligkeiten von mißhandelten Kindern aufmerksam zu machen und die angesprochenen Berufsgruppen zu motivieren, bei begründetem Verdacht die Beratungsstellen der Plattform oder das Jugendamt einzuschalten. Auch die Eltern selbst werden von uns mit den Elternbriefen für gewaltlose Erziehung angesprochen, die alle Mütter aus Anlaß der Geburt eines Kindes in ganz Österreich erhalten.

Weiters wurde 1995 gezielt mit der Einbeziehung des Gesundheitssystems in die Gewaltprävention begonnen. In Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden aller Ärzte in Österreich und dem Ludwig Boltzmann In -stitut für Gesundheitspsychologie der Frau wurde eine gesamtösterreichische Ärztebefragung über ihre Erfahrungen mit Gewalt an Kindern und Frauen in Spital und Praxen durchgeführt. Das Ergebnis brachte Defizite im Wissen und im Vorgehen mit Gewaltopfern zutage. Daher starten wir noch dieses Jahr zusätzlich neue Projekte zur Sensibilisierung der Ärzteschaft zu dieser Thematik.

In Zusammenarbeit mit den Ärzten erstellen wir für diese Berufsgruppe ein Handbuch sowie eine CD-Rom zur Identifizierung und Behandlung physisch und/oder sexuell mißhandelter Kinder. Außerdem wollen wir an drei Wiener Spitälern modellhaft unter Einbeziehung einer Kinderberatungsstelle als zentrale Anlaufstelle eine Vernetzung aller Unfalldaten durchführen. Damit wollen wir erstmals in Österreich vor allem jenen Kindern helfen, deren Eltern die Mißhandlungen durch oftmaligen Spitalswechsel zu verheimlichen versuchen.

DIEFURCHE: Müßten nicht die Kinder, die die hilflosesten Opfer sind, besser geschützt werden?

Bartenstein: Vermehrte regelmäßige Unterstützung und Hilfe durch mobile Beratung soll vor allem jenen Familien geboten werden, die schon in der Vergangenheit Auffälligkeiten aufweisen. Weiters stellt die Mitwirkung der bisher schweigenden Um-Martin Bartenstein:

Die Arzte in den Spitälern wissen meist nicht einmal, ' wie sie mit den Opfern familiärer Gewalt überhaupt umgehen sollen. weit bei der Aufdeckung von Gewaltfällen die beste Präventionsmöglichkeit vor weiterer Gewalt gegen Kinder dar.

DIEFURCHE: Die Opfer von Gewalt in der Familie werden - auch die Kinder selbst - in Zukunft- beantragen können, daß der gewalttätige Elternteil aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muß. Kann das in der Praxis überhauptfunktionieren? Bartenstein : Das Antragsrecht auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung - wodurch das gewalttätige Familienmitglied die Wohnung zu verlassen hat - steht nicht direkt dem Kind zu, sondern seinem gesetzlichen Vertreter. In den meisten Fällen wird das die Mutter sein - beziehungsweise wenn diese(r) nicht bereit oder nicht in der Lage ist, einen solchen Antrag zu stellen, oder wenn das Kind gerade von diesem(r) bedroht wird -dem Jugendwohlfahrtsträger als besonderem Sachwalter des Kindes. Diese Bestimmung, die auch auf Betreiben des Familienministeriums geschaffen wurde, soll für Kinder denselben Schutz ermöglichen wie für die anderen nahen Angehörigen eines Gewalttäters, die mit ihm im selben Haushalt leben. Nicht zuletzt soll mit diesem Gesetz auch ein Zeichen gesetzt werden: Es soll nicht (wie meistens bisher) das Opfer sein, das - etwa durch Überstellung in ein Kinderheim oder durch Zuflucht in einem Frauenhaus - seine gewohnte Umgebung verlassen muß, sondern der Täter soll diese Konsequenz aus seinem Handeln ziehen müssen.

DIEFURCHE: Wer fällt unter die Bezeichnung „Kind”? Gilt das auch für Enkelkinder, die beispielsweise von ihren Großvätern mßbraucht werden? bartenstein: Selbstverständlich sind nach dem vorliegenden Gesetzesentwurf nicht nur die leiblichen Kinder des Gewalttäters geschützt, sondern auch Pflege- und Adoptivkinder, Stiefkinder und die Kinder der (des) Lebensgefährtin(en), Geschwister, Eltern und Enkelkinder.

DIEFURCHE: Durch dieses Gesetz wird auf das Probleme zwar jetzt verstärkt Opfer .eingegangen Die wirklichen Ursachen liegen doch auch darin, daß prügelnde Eltern überhaupt kein Unrechtsbewußtsein haben. bartenstein: Gerade öffentliche Diskussionen wie die über den erwähnten Gesetzesentwurf können einen Beitrag zur Verstärkung des Unrechtsbewußtseins von Eltern und anderen Erziehungspersonen leisten. Darüber hinaus sind natürlich ständige Bemühungen notwendig, um das nötige Bewußtsein überhaupt erst zu schaffen, andererseits aber auch das Wissen um Hilfs- beziehungsweise Abwehrmöglichkeiten zu vergrößern. Beispielsweise veranstaltet mein Ministerium von 22. September bis 2. Oktober im Museumsquartier in Wien die Ausstellung „(K)ein sicherer Ort”, die sich mit sexueller Gewalt an Kindern beschäftigt. Die Fragen • stellte Elfi Thiemer.

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