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„Die Täter sind unglaublich raffiniert”

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Beinahe jedes fünfte Mädchen wird in Österreich das Opfer eines sexuellen Mißbrauchs. Wir müssen endlich ganz offen darüber reden, fordert Professor Max H. Friedrich, designierter Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie der Universitätsklinik Wien.

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Beinahe jedes fünfte Mädchen wird in Österreich das Opfer eines sexuellen Mißbrauchs. Wir müssen endlich ganz offen darüber reden, fordert Professor Max H. Friedrich, designierter Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie der Universitätsklinik Wien.

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DIEFURCHE: Kaumein Tag vergeht, an dem nickt über den sexuellen Mißbrauch von Kindern berichtet wird Ist das nur die Spitze eines Eisberges?

Max H. friedrich: Aufgrund internationaler Untersuchungen und einer Befragung hier in meiner Klinik läßt sich sagen, daß 18,5 Prozent aller Mädchen - vom Säuglingsalter bis zum 14. Lebensjahr - von diesem Problem betroffen sind. Bei den Knaben sind es etwa drei Prozent, die Übergriffen ausgesetzt sind.

DIEFURCHE: Sind Frauen gleichermaßen Täter wie die Männer? friedrich: Frauen begehen ganz, ganz selten sexuelle Übergriffe an Kindern. Ich muß ganz ehrlich sagen: es fehlen mir in meiner sonst ungeheuren Erfahrung in diesem Bereich die entsprechenden Erkenntnisse.

DIEFURCHE: Sie haben eine Ambulanz” eingerichtet, wohin sich Mütter, Väter, Großmütter, Lehrerinnen - auch anonym ~~ wenden können, die den Verdacht hegen, ein Kind sei sexuell mißbraucht, worden Bei wie vielen erhärtet sich der Verdacht' friedrich: Von all den Kindern und Jugendlichen, die ich in den letzten fünf Jahren gesehen habe, hat sich in nur 0,5 Prozent der Fälle der Verdacht als nicht haltbar erwiesen. Das heißt, 99,5 Prozent haben tatsächlich einen Mißbrauch erlebt. Und ich habe es derzeit jeden Tag mit zirka drei bis vier neuen Fällen zu tun.

DIEFURCHE: Aus welchen Schichten* friedrich: Quer durch alle Schichten und durch alle Altersgruppen.

DIEFURCHE: Ist das Problem in diesem Ausmaß neu*

FRIEDRICH: Es ist nicht neu. Dieses Problem war immer schon in der Gesellschaft vorhanden. Es gab beispielsweise um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen regelrechten Boom in Richtung Kindersexualität. Ein Peter Altenberg hat wahllos kleine Mädchen geschändet. In England sind die gesamten pornographischen Romane in dieser Zeit entstanden und ähnliches.

Ich glaube aber, daß heute die entsprechenden Tabugrenzen, Gott sei Dank, gefallen sind. Die Scheu ist ein -fach weg, darüber nicht zu reden. So ekelhaft zwar manchesmal die Flut der Berichte über sexuellen Mißbrauch von Kindern ist, so wichtig sind die Berichte für deren Schutz. Denn nur, wenn etwas transparent gemacht wird, dann sieht die Gesellschaft auch genauer hin.

Allerdings, und das muß ich einschränkend sagen: es ließe sich mit sehr viel mehr Diskretion darüber berichten. Ich bin über die Sensationsaufmachungen fast immer erschüttert. Nämlich deswegen, weil diese Berichte die Voyeure damit letztlich befriedigen und zusätzlich andere Menschen auf die Idee bringen, so etwas auch zu tun. Das wissen wir aus anderen Bereichen der psychischen Störungen.

DIEFURCHE: Wer vergreift sich an Kindern? Gibt es ein eindeutiges Täterprofil oder einen Täterkreis? friedrich: Die Täter lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen: 1.Diejenigen, die in ihrer Sexualentwicklung bereits ganz früh stecken geblieben sind; also beispielsweise in dem Alter, wo man Vater-Mutter-Kind-Spiele beziehungsweise Doktor-Spiele macht.

2. Diejenigen, die in der sogenannten „Necking-Phase” steckengeblieben sind. In dieser Phase geht es darum,

über Gewalt und Rauferei erste Körpererfahrungen mit Mädchen zu machen.

3. Diejenigen, die in der „Petting-Phase”, einer Beziehung ohne Geschlechtsverkehr, steckengeblieben sind. Die haben es nicht zu einer reifen und erwachsenen Sexualität gebracht.

4. Der Mr. Higgins-Tpy: Dieser Typ Mann meint, er sei der Einzige, Beste und Größte. Nur er kann einem jungen Mädchen beibringen, wie „es” wirklich ist.

5. Eine Gruppe von kranken Tätern. Die können wirklich nichts für ihr Tun. Die gehören allerdings in eine Anstalt für geisteskranke Rechtsbrecher.

6. Die greisen Täter, die die Tragweite ihres Tuns gar nicht mehr erfassen.

DIEFURCHE: Ist der Tatort die Familie? friedrich: Es passiert in der Familie beziehungsweise in deren Umgebung. Ich habe einmal ein Sprichwort gefunden, das lautet: wenn du einen Feind hast, dann suche ihn im Schatten deiner Hütte. So ist das auch hier. Die Täter sind auch häufig der Vater, Onkel, Großvater, Stiefvater...

DIEFURCHE: Macht das die Aufdeckung nicht besonders schwierig? friedrich: Ja. Denn sehr häufig wird das Kind als unglaubwürdig erklärt. Man will einfach nicht wahrhaben, daß der Opa das kleine Mädchen am Abend beim Fernsehen auf den Schoß nimmt und dann irgendwo hingreift, wohin er nicht darf. So eine Situation ist dann extrem schwierig für die Tochter oder Schwiegertochter. Da gibt es dann massive moralische Schranken, die Dinge beim Namen zu nennen...

DIEFURCHE: Haben die Täter das Gefühl, Unrecht zu tun* friedrich: Alle haben das Gefühl, Unrecht zu tun. Aber letztlich bleiben sie trotzdem völlig in der Verleugnung stecken. Das machen sie grundsätzlich so, denn sie können nur weiterleben, indem sie sich sagen: Ich bin einem Justizirrtum erlegen.

DIEFURCHE: Welches Motiv steckt hinter sexuellem Mißbrauch von Kindern* Wird die Gesellschafteinfach immer perverser?

FRIEDRICH: Es kommt mir manchesmal schon so vor, als wären wir im alten Rom, wo man sich anfrißt und danach mit einer Feder kitzelt, um noch etwas hinunterzuschlingen. Es muß ununterbrochen ein noch stärkerer Kitzel her.

DIEFURCHE: Bevorzugte Objekte der Begierde scheinen ja die 11- bis 14jährigen Mädchen zu sein

FRIEDRICH: Wenn Sie sich beispielsweise die Hochglanzmagazine der letzten zehn Jähre anschauen, dann sehen Sie lauter Models auf der Titelseite, die alle nicht sehr viel älter als 14 Jahre sind. Von hier wird der Gesellschaft ja schon einiges signalisiert. Die 13-, 14jährigen Mädchen von heute haben bereits ein sehr hohes Maß an Neugierreiz und ein hohes Maß an Verführungsreiz. Pubertierende Mädchen machen sich außerdem gerne wichtig und ähnliches.

Und eines muß man schon auch wissen: Die meisten Täter gehen überhaupt nicht brutal vor. Im Gegenteil: Sie verhalten sich ungeheuer raffiniert. Ich habe selten so viel Einfallsreichtum erlebt wie auf diesem Gebiet. Was diese Männer an Gehirnschmalz einsetzen, ist wirklich unglaublich. Sie erkaufen und ertricksen sich die Aufmerksamkeit der jungen Mädchen, und zwar immer wieder mit den Tenor: „Ich hebe dich aus allen anderen heraus”.

Ein gewaltsames Vorgehen ist, wie gesagt, eher selten. Es kommt schon einmal vor, aber eigentlich signalisiert offensichtlich das Kind dem T8ter - und jeder Mann kann Täter sein - Weichheit, Zartheit, Unschuld oder welche Reize auch immer. Ich nenne sie „die Mädchen mit den sprechenden Augen”. Die lösen im Kopf etwas aus. Und das große Problem liegt ja darin, daß Sexualität im Kopf stattfindet. Es gibt natürlich eine ganze Menge von Kindern, die Signale aussenden, durch die sie selber dann gefährdet sind.

DIEFURCHE: Spielt auch die emotionale Verwahrlosung in Familien eine große Rolle?

FRIEDRICH: Wer in einer verwahrlosten Situation aufwächst, ist sicher verführungsanfälliger.

DIEFURCHE: Erst kürzlich wurde der schockierende Fall einer Elfjährigen bekannt, die durch sexuellen Mißbrauch schwanger geworden ist und demnächst ein Kind bekommen soll Sind Elfjährige heute schon geschlechtsreif?

FRIEDRICH: In Österreich ist das noch eine Ausnahme. International wissen wir schon von einer Fülle von ge-schlechtsreifen 11-, bis 12jährigen Mädchen. Wir haben einen Paradigmenwechsel. Der Eintritt in die Geschlechtsreife findet heute generell viel früher statt. Außerdem wurde das Jugendalter nach oben und nach unten hin verbreitet. Wir sind ja auch alle irgendwie Berufsjugendliche, wir wollen alle nicht alt werden. Das muß man aussprechen. Denn andererseits haben Kinder einen Status bekommen, der vor 20 Jahren noch völlig un -vorstellbar war.

DIEFURCHE: Eines ist trotzdem irritierend- Es gab in den Schulen so vielA uf klärung wie nie zuvor. Hat sie nichts genutzt?

FRIEDRICH: Aufklärung hilft schon. Sie greift aber in dieser Sache zu kurz, weil Aufklärung in eine andere Richtung geht und gar nicht die Wachsamkeit schult. Aufklärung findet auf drei Ebenen statt:.

Der anatomisch-physiologische Bereich: wie funktioniert ein Mann, wie funktioniert eine Frau?

Der moralisch-sittlich-ethische Bereich: Achtung des Partners und ähnliches.

Der erotische Bereich: der ist schwierig, weil man ihn nicht kognitiv vermitteln kann. Das Essen einer Schokolade läßt sich halt nicht mit einem Sexualakt vergleichen.

DIEFURCHE: Was kann die Gesellschaft tun*

FRIEDRICH: Wir wurden immerhin durch Aids gezwungen, intensiver als bisher über die Intimssphäre zu sprechen. Auf keinen Fall dürfen wir noch länger vor dem Problem des sexuellen Mißbrauchs von Kindern die Augen verschließen.

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