"Über Zeichen des Todes und die Überlebenskraft"

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György Konr*d, ungarischer Autor und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, über die Aufgabe der Schriftsteller, die Situation der Demokratie in Ungarn, sein literarisches Werk und seine Leidenschaft, Sätzen zum Leben zu verhelfen ...

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György Konr*d, ungarischer Autor und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, über die Aufgabe der Schriftsteller, die Situation der Demokratie in Ungarn, sein literarisches Werk und seine Leidenschaft, Sätzen zum Leben zu verhelfen ...

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dieFurche: Herr Konrad, die Hauptfigur Ihres jüngsten Romans "Der Nachlaß", der Bürgermeister Antal Tombor, trägt auch Züge von Ihnen selbst, was die Erlebnisse im Krieg oder im kommunistischen System anbelangt. Ist er eine Figur, in der sich Erkenntnisse und ein Teil Ihres Lebens spiegeln?

György Konr'ad: Teilweise ja. Ich denke, es ist eine ganze Generation von Intellektuellen im sogenannten ehemaligen Ostblock, die in der Opposition waren und nach 1990 so eine Versuchung in sich selbst entdeckt haben, ob sie jetzt in diese Rollen eintreten sollen, was bedeutet: Bisher haben sie nur eine unterirdische und verzweifelte Opposition gemacht, jetzt können sie das tun, was sie bisher kritisierten. Können sie es wirklich anders machen? Was heißt es, Macht zu haben, für Menschen, die normal gewählt wurden, aber irgendwie unsicher sind, wie man das machen kann?

In diesem Roman gelingt es; der Mann war ein Regisseur, und die Theaterleute haben es leichter mit der politischen, mit der Bürgermeisterrolle. Denken Sie zum Beispiel an Vaclav Havel; er kommt auch aus einer Theaterumgebung. Aber ich kenne noch einige andere, die das getan haben, ich bin in Ungarn viel gereist und habe mich oft mit verschiedenen Gruppen von Menschen getroffen, ich kenne mindestens 100 Bürgermeister, und irgendwie gefällt mir dieser Job, denn das ist ein Allround-Job, und er ist so konkret und sinnlich.

Ich habe auch etwas mit den Städten zu tun, nicht nur weil ich ein Stadtbewohner bin, sondern ich habe auch acht Jahre lang als Stadtsoziologe gearbeitet. Die Stadt war für mich so ein großes Meisterwerk - die Philosophie der Stadt, die alles in sich aufnimmt, verarbeitet und vergißt und weitergeht als Ewigkeit, voll mit Episoden und Momenten, war für mich immer sehr interessant.

dieFurche: Und der alte hundertjährige Jeremias, der noch einmal nach Jerusalem will, ist der eine Art Gegenmodell dazu?

Konr'ad: Irgendwie. Und vielleicht eine Ouvertüre für ein nächstes Buch. Aber dazu muß ich noch ein wenig intelligenter sein, denn der alte Mann hat schon ein Jahrhundert hinter sich und hat schon viel mehr verstanden und überlebt als ich selbst.

dieFurche: Darf man den Jeremias auch so verstehen, daß das Judentum, jüdische Erinnerung, vielleicht auch die Bibel im religiösen Sinn Ihnen etwas bedeutet und auch wichtig ist für den Roman?

Konr'ad: Ja, man darf; obwohl dieser Jeremias Halbjude ist. Aber er mag wahrscheinlich auch diesen Judaismus mit einer gewissen Distanz, denn er ist eigentlich ein Mann, der seine eigene Religion hat. Mir imponiert diese Entschiedenheit, wie die Juden in ihrem Glauben das Menschliche und das Göttliche voneinander trennen, weil sie denken: Darum brauchen wir das Göttliche, weil es nicht menschlich ist, weil es nicht so ist wie wir selbst. Das ist die Transzendenz, denn alles, was wir mit unseren Wörtern definieren, darstellen können, was wir mit unseren Mitteln zeichnen, malen können, das sind nur unsere Bilder.

dieFurche: Im Roman habe ich auch den schönen Satz gefunden: "Den großen Befreiungen folgen große Enttäuschungen, denn befreit vom großen Bösen begegnen wir einem neuen großen Bösen." Ist das die Erfahrung in Ungarn zehn Jahre nach der Wende?

Konr'ad: Ich möchte nicht so pauschal sagen, daß es ein großes Böses ist, was wir haben. Nein, es ist das kleine Böse und das kleine Gute; es ist irgendwie eine Mischung. Wenn Sie mich so fragen, würde ich sagen, es ist noch eine Demokratie und man hat niemanden verhaftet, und in diesen zehn Jahren ist niemand durch die Politik gestorben - das ist schon etwas.

Was ist der große Mißbrauch in einer Demokratie? Meistens Korruption und Arroganz der Gewählten; davon haben wir viel. Natürlich wird das nie wirklich überprüft, und die verschiedenen Gewalten sind nicht wirklich voneinander getrennt. In dieser Hinsicht ist Ostmitteleuropa noch immer ein wenig osteuropäisch, denn was wirklich in diesen ehemaligen Regimes typisch war, war die Verschmelzung der verschiedenen Sphären der Macht: Gesetz, Durchführung, Presse, Gericht, Polizei - irgendwie war alles sehr nah miteinander verbunden.

Ich habe einmal ein Buch geschrieben, "Antipolitik"; das ist vielleicht eine innere Tendenz der Politik oder der politischen Klasse: Sie möchten immer ihre Macht verbreitern; und wenn es viel Servilismus gibt in einem Staat - vielleicht kann man westlich der Leitha auch so etwas finden - dann können die alten hierarchischen Strukturen auch in demokratischen Gebäuden noch miteinander verbunden sein.

Das heißt: Es ist nicht schrecklich, es ist Alltag; es ist schlimmer, wenn man tötet; hier tötet man nicht. Ein kleiner Krieg ist vorbei - das war nicht sehr schön - und Ungarn ist unaufhaltsam auf dem Weg, sich in Westeuropa zu integrieren, und das begrüße ich.

dieFurche: Gerade Ihre Stellung gegen den Krieg im Kosovo und auch die Kontroverse mit Peter Nadas in der "Frankfurter Allgemeinen" deutet ja darauf hin, daß Schriftsteller noch immer - oder wieder - wichtige öffentliche Figuren in Ungarn sind und gehört werden.

Konr'ad: Schriftsteller sind auch Bürger, aber wenn Sie die "Frankfurter Allgemeine" verfolgt haben - dort waren mehr als 40 Artikel über diesen Krieg im Feuilleton, und fast die Hälfte davon stammte von Schriftstellern, und das ist nicht typisch osteuropäisch - aus Österreich waren auch zwei Schriftsteller in dieser Reihe, und aus ganz Europa. Ich denke, es ist ganz normal, daß Leute, die sich artikulieren und die denken können, präsent sind, wenn solche politische Probleme auf den Tisch kommen, die auch von Demokraten von verschiedenen Seiten betrachtet werden können, wo man wirklich einen Grund zur Diskussion hat. Ich denke nicht, daß die Schriftsteller sich in allen tagtäglichen Fragen hören lassen sollen, aber töten oder nicht töten - das ist eine Frage, die traditionell schon zu unserem Beruf gehört.

dieFurche: Es sind jetzt 30 Jahre, daß Ihr erster Roman "Der Besucher" in Ungarn erschienen ist. Was ist Ihr Resümee über den Weg, den Sie in den drei Jahrzehnten als Romanschriftsteller gegangen sind?

Konr'ad: Die schwierigen Wege des Handelns, des gutwilligen Handelns, das oft in lächerliche oder nicht gewollte Fallen geraten ist: Man will etwas Gutes machen, und man macht nicht unbedingt etwas Gutes. Man will nicht handeln, und man handelt doch. Die Geschichte möchte uns irgendwohin zwingen und bringen, aber wir möchten in eine andere Richtung gehen, diese Distanzen, Konflikte und Spannungen zwischen dem Menschen und seinem Schicksal; die paradoxe Situation, daß wir etwas Gutes tun möchten und vielleicht Gewalt dabei herauskommt - das ist eigentlich ein Aspekt dieser Romane.

Und die Augen sind geöffnet, der Ich-Erzähler sieht auch viel Sinnliches und genießt es sogar. Es gibt eine Lebenslust auch in den schwierigen oder schrecklichen Perioden. Nichts ist eindeutig schwarz oder weiß. Und vielleicht gibt es auch eine zurückgehaltene Solidarität und Zärtlichkeit gegenüber den anderen. Es gibt viele Zeichen des Todes und es gibt vielleicht auch - wie bei den Menschen, die um uns herum leben - eine gewisse Überlebenskraft.

dieFurche: Im "Nachlaß sagt Antal Tombor: "Ich konnte nicht vorhersehen, wohin mich unvoreingenommenes Denken führen würde" - das ist doch ein Satz, der auch für Sie selbst gilt?

Konr'ad: Eigentlich, wenn Sie mich über diese 30 Jahre fragen, würde ich sagen: Seit meiner Zeit als Gymnasiast habe ich immer die besten Stunden meines Tages am liebsten dem Schreiben gewidmet. Und wenn ich das tun konnte, war ich zufrieden, auch wenn ich arm war, wenn ich unter unangenehmen Bedingungen lebte, aber das war vielleicht der wichtigste Impuls bei mir, das möglich zu machen. Und vielleicht hat mich in allen wichtigen Entscheidungen dieser schreckliche Dämon der Literatur hin und her gezwungen.

Und wenn ich etwas gesehen habe, was zu Papier kommen wollte, dann habe ich irgendwie einen Weg dafür gefunden. Wer was dazu sagen würde, war für mich irrelevant, unwichtig. Denn wahrscheinlich gibt es etwas, was sich auf dem Papier aufbauen will, es gibt mindestens einen Satz, der geboren sein möchte. Und vielleicht war dieser demütige Dienst, dem nächsten Satz zum Leben zu helfen, auch der Dämon, vielleicht auch ein innerlicher Freund, der mich an der Hand genommen und irgendwo hin geführt hat.

Das Gespräch führte Cornelius Hell Zur Person Träger des Friedenspreises György Konrad, 1933 in einer jüdischen Familie in Debrecen geboren, tauchte als Elfjähriger nach der Deportation seiner Eltern unter. Er studierte Literaturwissenschaft und wurde zu einem Wortführer der Opposition in Ungarn. Essaybände wie "Antipolitik" oder "Die Melancholie der Wiedergeburt" und die Romane "Der Besucher", "Geisterfest", "Melinda und Dragoman" oder "Steinuhr" haben ihn international berühmt gemacht. Zur Frankfuter Buchmesse erschien heuer das Werk "Der Nachlaß".

Konrad erhielt 1991 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, war mehrere Jahre Präsident des internationalen PEN-Clubs und ist seit 1997 Präsident der Akademie der Künste in Berlin.

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