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Digital In Arbeit

Ich und der „Große Bruder“

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Orwell schildert in seiner Zukunftsvision die Aengste des Zeitgenossen des Jahres 1984. Ein lächerliches Nichts ist der Mensch in der Masse, Tag und Nacht beschattet vom „Großen Bruder“, dem unbekannten, allgegenwärtigen Diktator. Dank, Dank, daß wenigstens wir in unserer österreichischen Demokratie so weit davon entfernt sind! Oder … ?

Der Verfasser

1.

Heute war Expertenkonferenz. „Er" war auch angekündigt.

Man würde es ihm schon sagen; so geht es nicht mehr weiter: das Durcheinander, die Willkür, die Angriffe von Seiten völlig Unbefugter, die Abtötung jeder Initiative.

Als er kam, waren alle sehr devot, man hörte ihn an wie eine Offenbarung. Am Durcheinander war man höchstens selbst schuld. Willkür? Nein: weise Regelung durch Wohlerfahrene. Abtötung von Initiative? Man kann doch nicht jede Eigenbrötelei dulden und gutheißen!

Als er ging, war man sich einig: besser, nicht aufmucken, laufen lassen; am besten, sich in gutes Licht setzen. ,

2.

Früher, als wir noch nicht im Wirtschaftswunder lebten und uns noch mit den Nöten des Wiederaufbaues abmühten, habe ich die in jedem Jahr fälligen Reparaturen im Werkgebäude nach Maßgabe der dafür vorgesehenen Geldmittel den Gewerbetreibenden selbst übertragen und ihre rasche Durchführung betrieben.

Jetzt ist das anders: es sind mehrere Stellen damit befaßt; alles Fachleute, sehr erfahren, natürlich viel sparsamer als wir draußen, viel umsichtiger. Von Montag, halb neun, bis Freitag, halb siebzehn, kann es sein, daß sie einem „helfen“ kommen. Natürlich im Dienstwagen, mit Chauffeur, in sehr dringendem Geschäft und überarbeitet. Das, was du bisher — wahrscheinlich sehr unzulänglich — selbst gemacht hast, soll nun, entsprechend weiter ausholend, besser gemacht werden.

Man redet viel, längst Klares wird wieder unklar. Die Gewerbetreibenden merken sich, daß man, wenn zwei anschaffen, viel leichter um Geld nichts machen kann.

Nur gut, daß man um halb siebzehn sehr nervös auf die Uhr schaut und abfährt. Die Tagesdiät ist erreicht — und du selbst bist so klug als wie zuvor und gehst an die Durchführung der eigentlichen Arbeit. Und weil die nun termingemäß doch fertig sein muß, schaust du nun besser nicht auf die Uhr.

3.

Ich öffne sehr ungern die Schreiben des „Großen Bruders“.

Meist hat man schon wieder irgend etwas verbrochen; und meist sind es Anweisungen für den Betrieb, die bis ins Detail gehen.

Aus der Entfernung regelt sich der Ablauf unseres täglichen Betriebes doch offenbar viel leichter und man sieht, wie überflüssig man eigentlich ist. Wenn es dann zu Schwierigkeiten kommt, hat der „Große Bruder“ leider keine Bürostunden mehr oder erklärt sich, für nicht zuständig oder bedeutet: dazu bist eben du, kleiner Bruder, da.

Zum Beispiel hat da ein Mitarbeiter sein Werkzeug sorglos behandelt. Der „Große Bruder“ erfuhr das hintenherum: der Mitarbeiter ist zu rügen und muß das Werkzeug ersetzen.

Sollte der Mitarbeiter freilich auf und davon gehen, sorgt der „Große Bruder“ nicht für Ersatz von Werkzeug oder Mitarbeiter. Da muß schön der kleine Bruder sehen, wie er fertig wird.

Oder: Damit das Arbeitssoll erreicht werden kann, mußten Ueberstunden gemacht werden. Der „Große Bruder“ schreibt: Warum machtet ihr Ueberstunden?

Und wenn das Soll dann picht erreicht werden kann, schreibt der „Große Bruder": Schuld bist du, kleiner Bruder, weil du nicht genügend Umsicht walten ließest.

Der „Große Bruder" darf natürlich diktieren, denn er weiß alles besser. Der Mitarbeiter kann einfach davonlaufen. Du aber, kleiner Bruder, bist das Korn zwischen den Mühlsteinen.

Im übrigen: du bist genau bekannt. Anonym bleiben Stets der „Große Bruder“ und der Mitarbeiter, sein „stets geschätzter Kollege".

4.

Heute fuhr man hinaus zum Betrieb in B. Früher fuhr man mit dem Fahrrad, und das

Wichtigste war einem die in B. zu betreibende Arbeit. Es war zuerst die Arbeit da und dann das Fahren.

Heute ist das etwas anders. Zuerst ist das Fahren da, die Möglichkeit, ein Dienstgeschäft zu verrechnen. Dann wird daraus ein Dienstgeschäft, und dieses wird solange erstreckt, und dorthin, wo es sich bezahlt macht.

Früher waren einem die Leute, mit denen man sprach, vielleicht sogar Herzensangelegenheit, heute ist das Sprechen mit ihnen Routine, und man muß nur lange genug sprechen, damit eine volle Diät daraus wird.

Wozu der Eifer von seinerzeit? Die anderen sagten ohnehin immer: Fleißaufgabe! Wenn du erst gar unter der Last stöhnst, mußt du es eben sein lassen.

Ist ja auch wahr: Wozu denn etwas tun, wenn man nichts „davon hat“!

5.

Letzthin übersandte mir Kollege A eine Darlegung, in der er uns mit gleichen Sorgen Belasteten und der uns vorgesetzten Stelle gegenüber diese Sorgen erörterte und um Abhilfe bat.

Ich habe lange nichts mehr von diesem initiativen Bemühen des Kollegen A gehört.

Vielleicht hatte Kollege A erwartet, daß ich ihm meine Auffassung mitteile oder zumindest den Empfang seines Initiativantrages bestätige. Ich tat es nicht.

Später dann hörte ich, daß ihm von der Direktion mitgeteilt worden war, daß er von solchen „unerhörten Praktiken“ Abstand nehmen müsse, die nur geeignet seien, Unzufriedenheit im Kollegenkreis zu stiften; es sei ohnedies alles in bester Ordnung, und wenn etwas nicht in Ordnung sei, dann seien daran nicht die vorgesetzten, sondern andere Stellen schuld. Und im übrigen — die Sorge um das Ordnungschaffen sei Sache der vorgesetzten Stelle und niemandes anderen.

Ich habe später bemerkt, daß Kollege A merklich in seinem sonst stets bereiten Bemühen, initiativ an der Klärung von Fragen mitzuwirken, nachgelassen hat. Es macht den Eindruck, als ob er es ganz aufgegeben hätte, aber sich dabei nicht wohlfühle.

Wie ist das eigentlich mit mir selbst?

Bei der letzten Tagung bin ich wieder schwerstens aufgefallen, dabei wollte ich von vorneherein nur zuhören. Aber dann nahm mich die Frage gefangen, ich sah einen Weg, in aller Freundschaft mußte er gesagt sein, ganz sicher nicht als Angriff, auch wenn ich, von der Sache erfüllt, dafür entflammte.

Aber ich machte wieder zweierlei falsch. Denen da rundherum, nicht allen, aber den meisten, ging es doch gar nicht um die Klärung der Sache, ihnen genügte das Plätschern, die Zeit verging, der Tag und die Diät waren sicher.

Und dann das zweite. Ich bezog Stellung, ich zwang mich zu einem Für und Wider. Damit aber schuf ich mir Gegner, ohne daß ich es wollte. Mir ging es um Klärung, die anderen aber sahen darin einen Angriff. Und wieder einmal sank die Klärung eines Problemes unter den persönlichen Benommenheiten in nichts zusammen. Und wieder hatte ich mir mit meiner Sucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, Feinde gemacht und eine beruhigend verlaufene Tagung und zu nichts verpflichtende Diskussion vorwitzig gestört. x

Ich bin ein asozialer Mensch.

PS.: Alles, was hier geschrieben steht, ist nicht wahr. Ich habe geträumt gehabt. Alles ist herrlich, und es ist eine Lust, zu leben.

Das Staatsgrundgesetz, Freiheit der Persönlichkeit, ist oberstes Gebot und wird allenthalben praktiziert.

Anregungen werden gerne gehört, Kollegen und Vorgesetzte freuen sich, auf neue Gesichtspunkte eingehen zu können.

Alles ist bestrebt, Mißstände, woher sie immer kommen, abzustellen. Amtsschimmel kennt man nicht.

Man gehört Parteien an, aber wer ist parteiisch?

Cäsarenkult? Lächerlich!

Wir sind alle freie, aufrechte, verantwortungsfreudige, initiative, selbstbewußte Bürger unseres bis in seine letzten Verzweigungen wahrhaft demokratischen, vom Wirtschaftswunder überstrahlten Zusammenlebens.

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