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Behinderte werden häufig sterilisiert

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Zwangssterilisation Gespräch über Geschichte und Gegenwart dieses Eingriffs bei Behinderten mit dem Autor einer einschlägigen Studie.

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Zwangssterilisation Gespräch über Geschichte und Gegenwart dieses Eingriffs bei Behinderten mit dem Autor einer einschlägigen Studie.

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DIEFURCHE: In einer unveröffentlichten Studie zu Zwangssterilisation bei geistig Behinderten zerstreuen Sie den Irrglauben, daß mit diesem Eingriff die Entstehung behinderten Lebens verhindert werden kann Wie ist das zu verstehen?

ERNST BERGER; Nur ein kleiner Teil geistiger Behinderung ist genetisch bedingt und damit vererbbar. Der größere Teil der Behinderungen hat seine Wurzel in Schädigungen -durchaus auch vorgeburtlichen. Aber diese sind nicht vererbbar. Insofern geht das Argument „Die Behinderten dürfen sich nicht vermehren, daher muß man sie sterilisieren”, ins Lsere. Sterilisation kann nur einen sehr kleinen Beitrag leisten, um Behinderung zu verhindern, wenn man das überhaupt als ethisch akzeptable Position vertreten würde, nämlich daß behindertes Leben zu verhindern sei.

DIEFURCHE: Gibt es aus Ihrer Sicht andere medizinische Gründefiir den diskutierten Eingriff?

BERGER: Nein, ich sehe keine medizinischen Gründe, die eine Zwangssterilisation rechtfertigen.

DIEFURCHE: In der Praxis wird der Eingriff teilweise sogar als Zahnbehandlung verschleiert In welchen Dimensionen passiert das? BERGER: Es gibt keine Zahlen in Osterreich, nur Schätzungen. Man muß dennoch davon ausgehen, daß es im Behindertenbereich in Österreich nach wie vor gängige Praxis ist.

DIEFURCHE: Es wird auch damit argumentiert, daß geistig Behinderte nicht imstande wären, Kinder zu erziehen Ist da nicht was dran? BERGER: Natürlich gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen, die sich aufgrund ihrer aktuellen Lebenssituation oder ihrer psychischen Verfassung dauerhaft oder vorübergehend außerstande sehen, für ein Kind zu sorgen. Dieser Umstand ist nicht behinderungsspezifisch. Es gibt auch sozial definierte Risken. Wir betreuen hier an der Klinik auch Kinder von drogenabhängigen Müttern. Gott sei Dank kommt heute noch niemand auf die Idee, man müsse alle drogenabhängigen Frauen sterilisieren. Endgültige Maßnahmen wie eben die Sterilisation sind gegen oder ohne den Willen der Betroffenen nicht legitim, weil wir auch als Fachleute nicht beurteilen können, wie sich die weitere Biographie eines Menschen - auch nicht eines behinderten - entwickelt. Ich kenne Kinder, die nach einem Jahr rehabilitati-ver Förderangebote völlig andere Perspektiven hatten als davor.

DIEFURCHE: Heißt das, geistige Behinderung ist behebbar? BERGER: Bei leichter geistiger Behinderung würde ich locker ja sagen - bei entsprechender Strukturierung des Lebensumfeldes!

OIEFurchE: Ein gängiges Argument fiir Sterilisation ist der angebliche Schutz vor Vergewaltigung. In Ihrer Studie zeigen Sie auf, daß der Eingriff den sexuellen Mißbrauch geistig Behinderter sogar noch fördert Wie das? BERGER: In der klinischen Alltagspra xis stellen wir fest, daß sexueller Mißbrauch stattfindet, in Institutionen und in der Familie. In welch großem Ausmaß das intrafamiliär in der Realität passiert, darüber war ich überrascht. Im Bewußtsein der Täter wird dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet, wenn der Geschlechtsverkehr - wie nach einer Sterilisation -biologisch folgenlos bleibt. Psychisch bleibt er ja nicht folgenlos.

DIEFURCHE: Was bedeutet denn eine Sterilisation für die Psyche einer Frau? BERGER: Genauso wie bei einem Schwangerschaftsabbruch oder bei verschiedenen anderen Ereignissen -sogenannten life events - muß grundsätzlich von einer möglichen psychischen Belastung ausgegangen werden. Und wir kennen klar definierte Fälle, in denen durch die Sterilisation psychische Krisen aufgetreten sind. Es gibt heute auch genug biographische Schilderungen von Frauen, die in der Nazi-Zeit sterilisiert wurden. Sie reden darüber, welche Belastung es bis heute bedeutet, kein vollwertiger Mensch, keine vollwertige Frau gewesen zu sein.

DIEFURCHE: Sehen Sie in unserer Gesellschaft einen steigenden Druck, behindertes Leben auszuradieren, wegzuschieben* Ich denke an die pränatale Diagnostik, die bereits 35jährigen Schwangeren angeboten wird mit der Erwartungshaltung, im Zweifelsfall abzutreiben

BERGER: Ich sehe solche Tendenzen, würde aber nicht meinen, daß das die dominierende Position ist.

DIEFURCHE: Woher kommen diese Tendenzen'

BERGER: Die Fortschritte in der molekulargenetischen Forschung lassen den Eindruck entstehen, wir wüßten in der Medizin und Biologie schon genau, an welchem Punkt Defekte zu suchen sind und was man dagegen tun kann. Wenn man sich die Ergebnisse im Detail anschaut, zeigt sich, wie minimal unsere Handlungsmöglichkeiten in Wirklichkeit sind. Mit Genmanipulation eine Unmenge von erbbedingten Krankheiten zu vermeiden, ist ja heute noch Illusion.

DIEFURCHE: Aber kann das allein schon die manchmal starke emotionale Ablehnung von behindertem Leben erklären'

BERGER: Die Wurzeln dieses Denkens wurden mit der Rassenlehre und Eugenik am Anfang dieses Jahrhunderts gelegt. Eugenisches Denken existiert weiterhin, vielfach aufgrund irriger sachlicher Vorstellungen. Der Idee, man könnte durch sehr einfache biologische Maßnahmen soziales Leid verhindern, wird immer wieder von den Wissenschaftlern Vorschub geleistet. In all diesen Gedankenkonstruktionen gibt es viel Irrationales. Wie wirkt dieses Irrationale? Da gibt es eine ganz brauchbare tiefenpsychologische Erklärung: Der früher legale Tötungswunsch gegenüber Behinderten ist heute gesellschaftlich nicht akzeptiert, hingegen der Sterilisationswunsch schon. Es könnte sich hier um einen Ersatzgedanken handeln, daß also hinter dem Sterilisationswunsch der alte Tötungswunsch lauert.

DIEFURCHE: Wie sehen Sie die kürzlich beschlossene Bioethik-Konvention des Europarates, die ja Menschen versuche mit „nicht-einwilligungsfähigen Personen ” auch ohne Heilungsnutzen für die Betroffenen legal vorsieht1 BERGER: Ich denke, daß diese Bioethik-Konvention einen Schritt zurück zum Denken der Nazi-Zeit bedeutet, indem behinderte Menschen gewissermaßen „nützlich” gemacht werden sollen für die Gesellschaft. Der Gedanke der Nützlichkeit des einzelnen für das Volksganze, wie es damals geheißen hat, leuchtet da meines Erachtens deutlich durch.

DIEFURCHE: Was halten Sie von Justizminister Nikolaus Michaleks Ankündigung, die Rechtssituation rund um Sterilisationen zu durchforsten' BERGER: Ich finde es gut, daß der Justizminister das Thema rasch aufgegriffen und den Handlungsbedarf erkannt hat. Allerdings bin ich über eine aktuelle Aussendung des Ministeriums erstaunt, in der es heißt, daß bei Minderjährigen die Zustimmung der Eltern ausreichend ist für einen medizinischen Eingriff, der ganz eindeutig nicht der Heilbehandlung dient. Mir leuchtet eigentlich nicht ein, daß Eltern sagen können: „Ich will, daß mein Kind verstümmelt wird.” Wenn ich mit meinem Kind zum Arzt ginge und sagen würde: „Bitte schneiden Sie ihm das rechte Ohr ab, das gefällt mir-nicht”, würde wahrscheinlich nie: mand sagen, das sei korrekt. Da müßte nach meiner Auffassung Klarheit geschaffen werden - auch bei den Minderjährigen. Bei den Erwachsenen, die Sachwalter haben, ist meiner Meinung nach die schwedische Regelung die adäquateste, daß eine Sterilisation ohne und gegen den Willen der Betroffenen grundsätzlich nicht möglich ist.

Das Gespräch führte Roland Schönbauer. Die in der ersten Frage erwähnte Studie erscheint im November in der „ Wiener Klinischen Wochenschrift”.

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