"Das Leiden am Leben bleibt niemanden erspart"

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Alfred Pritz, der Präsident des Weltverbandes der Psychotherapeuten, über das Massaker von Littleton, gewalttätige Jugendliche und die emotionale Verwahrlosung in der Wohlstandsgesellschaft.

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Alfred Pritz, der Präsident des Weltverbandes der Psychotherapeuten, über das Massaker von Littleton, gewalttätige Jugendliche und die emotionale Verwahrlosung in der Wohlstandsgesellschaft.

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dieFurche: Zwei Jugendliche töten an einer amerikanischen Highschool kaltblütig zwölf Mitschüler und einen Lehrer, verletzen Dutzende Men-schen und begehen schließlich Selbstmord (siehe Furche 17/1999). Haben Sie als Psychotherapeut eine Erklärung für solche Massaker, die sich in letzter Zeit häufen?

Alfred Pritz: Zunächst muß man von der idealistischen Vorstellung Abschied nehmen, daß der Mensch ohne Gewalt leben kann. Gewalt ist etwas, was uns ständig umgibt, es gehört zum Wesen des Menschen dazu. Die Tat dieser Jugendlichen ist allerdings eine ganz besondere, amerikanische Sache. Das hat mehrere Gründe: 1. Die amerikanische Gesellschaft und Kultur ist wesentlich gewalttätiger angelegt als unsere derzeitige in Europa. Das hängt wahrscheinlich mit unserem Trauma des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zusammen. Was aber nicht heißt, daß wir nicht auch vor der eigenen Tür kehren müssen, wenn man die Ereignisse im Kosovo anschaut.

2. Amerika ist eine sehr junge Nation, die einen ganz anderen Stil im Umgang mit praktischer Gewalt an den Tag legt. In jedem Haushalt ist der Gebrauch von Waffen möglich, der Waffenbesitz gilt als Zeichen der freien amerikanischen Gesellschaft. Dazu kommen noch eine Cowboy- und Eroberungsmentalität und das Gefühl "Wir sind die Welt, und wir beherrschen sie". So eine Großmannsucht bildet sicherlich auch eine Struktur für solche unglaublichen Gewalttaten.

dieFurche: Kann man solche Täter als "ein paar Wahnsinnige" abtun, oder ist die Angst berechtigt, daß solche Menschen immer mehr werden?

Pritz: Ich glaube nicht, daß sie mehr werden. Sie werden eher gefährlicher, was das Ausmaß und die Auswirkungen ihrer Taten betrifft.

dieFurche: Die jugendlichen Killer von Littleton protzten auch mit Hitler-Symbolen, trugen SS-schwarze Trenchcoats, fielen mit rassistischen Sprüchen auf. Könnten solche exzessiven Haltungen nicht eines Tages umschlagen in eine totalitäre Strömung, die sich dann auch auf der politischen Bühne inszenieren möchte?

Pritz: Nein, das glaube ich nicht. Was die Trenchcoats und die Hitler-Symbole betrifft, so handelt es sich ganz offenkundig um einen bewußten Akt der Selbstentwertung. Man bedient sich eines Symbols, das in der Welt einen ganz, ganz negativen Touch hat.

Es geht hauptsächlich um das Schockieren der Umwelt und die Ästhetisierung von Gewalt.

dieFurche: Gibt es nachvollziehbare Gründe, warum Jugendliche in den reichen Gesellschaften in solchem Ausmaß aufrüsten und ihre Wut und Aggression mit Gewalt und Waffen austragen?

Pritz: An und für sich finde ich diese Gewaltausbrüche nicht unerklärlich, wenn man bedenkt, wie viele verquere Persönlichkeitsstrukturen wir bei Jugendlichen vorfinden. Unerklärlich bleibt derzeit manches nur, weil wir zuwenig über die Entstehungsgeschichte dieser Tat wissen.

Aber in erster Linie sehe ich hinter diesen Aggressionsakten Verzweiflung. Die Jugendlichen leben in einer Welt, die zwar viele materielle Güter vorweisen kann, aber ein Sinnvakuum entstehen hat lassen. Das wird mit Verzweiflung aufgefüllt.

dieFurche: Wie läßt sich diese Entwicklung eindämmen?

Pritz: Wir müssen uns ganz entschieden um eine Erziehung kümmern, die Aggressionen verarbeiten hilft. Die Frage ist, wie schafft man eine Umgebung, die es Menschen ermöglicht, ihre aggressiven Impulse konstruktiv zu verarbeiten.

Man darf eines nicht vergessen: es ist normal, daß Jugendliche rebellieren. Das ist nicht pathologisch, im Gegenteil. So finden sie ihre eigene Rolle im Leben. Daß da auch dunkle Gedanken eine Rolle spielen, ist Teil der Jugendrevolte. Die Frage ist, wie die Umwelt drauf eingeht. Sagt sie, das sind Verrückte, die gehören weg, und die beachten wir gar nicht. Oder versucht die Gesellschaft, mit ihnen trotzdem in Kontakt zu bleiben. Dieser Kontakt, diese Zugewandtheit ist es meist, woran es mangelt.

dieFurche: Was läuft hier falsch?

Pritz: Die Psychotherapie macht immer wieder auf Fehlentwicklungen aufmerksam. Es geht meist um ein langes Kontinuum an versäumten Gelegenheiten. Wir sehen in vielen Fällen, daß sich Eltern nicht um die Kinder kümmern. Wenn man nachforscht, kommt man drauf, daß sich auch die Eltern schon in einem Zustand der emotionalen Verwahrlosung befanden. Wenn man sich Familienchroniken ansieht, so sind da oft Entwicklungsketten festzustellen, die über 100 und mehr Jahre zurückgehen. Emotionale Verwahrlosung ist ein ganz großes Kapitel in der Kindererziehung.

Realistischerweise muß man aber sagen, daß Gewaltausbrüche nicht zur Gänze vermieden werden können.

dieFurche: Bleibt trotzdem die Frage, wie sich so etwas verhindern läßt?

Pritz: Jeder muß bei sich anfangen, bei seinen eigenen Gewaltphantasien, bei seinen eigenen Handlungen. Der erste Schritt liegt bei jedem einzelnen, wie er mit Gewalt umgeht. Aggression und Gewalt steckt in jedem Menschen drinnen. Wir haben eben auch eine Raubtiernatur neben den anderen Persönlichkeitsanteilen und der geistigen Welt. Jeder von uns muß damit fertig werden. Gewalt in der Familie ist der Quell der Gewalt in der Gesellschaft. Die Aggression unserer Kinder muß so kanalisiert werden, daß sie zum Guten und nicht zum Bösen eingesetzt wird. Das ist eine ganz zentrale Erziehungsfrage.

Wenn ich mir die heutigen Schulen anschaue, so wird dort wesentlich mehr auf Persönlichkeitsentwicklung Wert gelegt als das noch zu meiner Zeit der Fall war. Es gibt viele positive Ansätze, aber die sind immer noch zuwenig. Außerdem gibt es Schulen, in denen noch wie vor 30 Jahren unterrichtet wird.

Auch die Politik wäre hier gefordert. Die Politik ist aber meist nur reaktiv tätig. Das heißt, sie wird erst dann tätig, wenn etwas passiert. Aber auch die Reaktion dauert und wird oft verwässert. Und wenn das Problem keine Schlagzeilen mehr bringt, ist es letztlich weg. Auch die Politik denkt diesbezüglich oft nur an ihren eigenen Vorteil.

dieFurche: Es wird oft Kritik geübt, daß die Jugendlichen heute ein Leben nach Lust und Laune leben. In der Erziehung wird zu wenig auf Selbstverantwortung, Selbstdisziplinierung und das Aushalten von Frustrationen Wert gelegt.

Pritz: Ich glaube, das täuscht. Abgesehen davon, daß mehr Lust und gute Laune wirklich niemanden schaden. Würde mehr davon gelebt, so wäre das Leben viel, viel leichter.

Unübersehbar ist natürlich, daß man heute sicher dem Konsumismus mehr huldigt als früher. Es gibt einfach mehr Konsumwaren, ein stärkeres Marketing, stärkere Werbung, einen stärkeren Stimulus für kurzlebige Dinge. Der Vorteil dieser Entwicklung ist, daß die Welt nicht mehr so hart und streng ist wie früher. Der Nachteil ist, daß natürlich eine gewisse Oberflächlichkeit Einzug hält.

Aber eines ist auch klar: Das Leiden am Leben bleibt trotzdem niemandem erspart. Die Frage ist nur, wie wird man mit seinen Impulsen, vor allem den aggressiven, fertig?

Mich macht in Wirklichkeit auch etwas anderes viel besorgter: In Österreich nehmen sich 1.500 Leute pro Jahr das Leben. Das heißt, ein ganzes Dorf rottet sich jährlich selbst aus. Das ist im internationalen Durchschnitt sehr hoch. Dazu gibt es rund 30.000 Selbstmordversuche pro Jahr.

Wir haben also eine unglaubliche Zahl von Menschen, die unsere schöne Welt als reine Hölle empfindet. Manche von denen richten ihre Aggression nicht nach innen, sondern nach außen, gegen andere Menschen.

Sie sehen, daß wir hier in Österreich auch unsere Massaker und Amokläufe haben, nur halt in einem anderen Ausmaß und in einer anderen Form.

dieFurche: Lassen sich diese Massaker in der österreichischen Gesellschaft quantifizieren?

Pritz: Schwer. Das ist nicht leicht quantifizierbar, vieles passiert in der Interaktion. Wenn zum Beispiel Eltern nur negativ reagieren, wenn ihr Kind schlechte Noten bekommt. Wenn sie es als Person ablehnen und nicht sehen wollen, daß es doch nur in einem bestimmten Bereich eine schlechte Note hat.

Oder wenn die Kinder nach Selbständigkeit streben, die Eltern das nicht zulassen und sich gekränkt zurückziehen, wenn das Kind nicht mehr so reagiert, wie sie sich das gewünscht haben.

Da fängt es an.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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