Das Dilemma mit der "richtigen" Erziehung

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dieFurche: Wir sehen derzeit in Amerika ein für unsere Begriffe gnadenloses Rechtssystem und dieses wird gerade in seiner ganzen Strenge auf Kinder ausgedehnt. Was halten Sie als Erziehungswissenschafter davon?

Bernhard Rathmayr: In Amerika spielt sich derzeit ab,was möglicherweise auf uns erst zukommt - nämlich die Gleichsetzung von Kindern mit Erwachsenen. Das bedeutet, daß dort im Grunde auch die herkömmliche Vorstellung von Erziehung aufgekündigt wird. Wenn Erziehung jetzt hauptsächlich als ein Verfahren konzipiert wird, um Kinder zur Räson zu bringen, damit sie sich nach den Vorstellungen der Erwachsenen verhalten, dann geht etwas ganz Wichtiges verloren - die Berücksichtigung der Andersartigkeit, des anderen Erlebens, des unterschiedlichen Entwicklungsstandes, der unterschiedlichen Verantwortlichkeit von Kindern. Das passiert ja dann nicht nur in der Erziehungsphilosophie, sondern bei allem, was man mit Kindern tut.

dieFurche: Es gibt doch längst eine stärkere Angleichung der Kinderwelt an das Erwachsenenleben.

Rathmayr: Der Aktivitätsradius von heute Zehnjährigen hat sich - verglichen mit einem Gleichaltrigen vor zehn Jahren - gewaltig erweitert. Vom Shopping angefangen über das Ausmaß der Zeit, die Kinder heute außer Haus verbringen dürfen, bis hin zu den unterschiedlichen Formen der Kommunikation mit den Eltern, die Ansprüche und Wünsche, die geäußert werden können, den Widerspruch, den Kinder heute provozieren dürfen ...

Sehr vieles hat sich gegenüber früheren Vorstellungen verändert, wo Kinder sich unterzuordnen hatten. Früher mußten sie bei vielen Dingen die Erwachsenen fragen, wurden von vielen Aktivitäten ausgeschlossen, es wurde ihnen gesagt, dies und jenes dürften sie jetzt nicht tun, sondern erst später und so weiter.

dieFurche: Könnte das nicht bedeuten, daß die US-Justiz einfach nur nachvollzieht, was im normalen Leben ohnehin schon im Gange ist - Kinder sind keine Kinder mehr, sondern leben wie kleine Erwachsene?

Rathmayr: So könnte man es interpretieren. Dann hätten allerdings diejenigen recht wie Neil Postman, die feststellen, daß die Kindheit allmählich verschwindet. Das allerdings wäre eine fatale Entwicklung! Denn eines darf man nicht vergessen, Kinder sind trotz aller Zugeständnisse, die sie heute erhalten, immer noch Kinder. Und dieser Status Kindheit darf nicht über Bord geworfen werden!

Für mich ist das deshalb so drängend und bitter, weil ich sehe, daß es in unserer Kultur ein grundlegendes Dilemma im Umgang mit Kindern gibt. Wir hatten zunächst die Ablöse des autoritären Umganges. Dann gab es die verschiedenen pädagogischen Bewegungen, die auf Veränderung setzten. Wir hatten verschiedene pädagogische Versuche mit allen möglichen Übertreibungen und Fehlern. Aber im Grunde gibt es bis heute noch immer keine allgemeine "Normalform" des Umganges zwischen Erwachsenen und Kindern. Eine Art, die sozusagen zu einer ruhigen, für einen Großteil der Menschen selbstverständlichen und handhabbaren Umgangsform geworden wäre.

dieFurche: Aber es laufen doch schon Diskussionen: Zurück zu mehr Strenge gegenüber dem Nachwuchs, lautet eine der häufigen Parolen.

Rathmayr: Es gibt immer diese Ambivalenz: die einen wollen wieder zur alten Strenge zurück. Die anderen haben resigniert, weil sie meinen, die Kinder von heute lassen sich ohnehin nichts mehr sagen. Und jetzt haben wir noch eine weitere Entwicklung, die lautet: wir schalten auf stur und verfahren mit den Kindern so, als ob sie voll verantwortliche erwachsene Personen wären.

Schauen Sie sich zum Beispiel die US-Filme an, in denen Kindheit thematisiert wird. "Kevin allein zu Haus" ist so ein Beispiel. Hier wird uns ein Kind vorgeführt, das sich - alleingelassen - in verschiedenen Situationen wie ein Erwachsener total bewährt. Oder der Film "Darling, ich habe die Kinder geschrumpft". Hier werden die Kinder ganz klein gemacht, beziehungsweise verschwinden. Man spielt also mit der Realität Kindheit als etwas, wo man die Größe verändern kann.

Auch die amerikanische Gesellschaft findet offensichtlich kein ruhiges, einvernehmliches Altersverhältnis zu ihren Kindern mehr.

Wir müssen aufpassen, daß uns die gute alte europäische Tradition mit einer fürsorglichen Einstellung gegenüber Kindern, unter der Berücksichtigung der besonderen körperlichen und psychischen Voraussetzung nicht einfach verlorengeht. Das darf nicht passieren, auch wenn die Kinder sozial und ökonomisch mehr Rechte bekommen als bisher.

dieFurche: Wird das die große pädagogische Herausforderung für das nächste Jahrhundert?

Rathmayr: Ja, und ich wünsche mir schon seit langem, daß wir endlich einen langen, ruhigen Meinungsaustausch in der Öffentlichkeit über Erziehung machen. Einen Austausch, der nicht geführt wird anhand von Themen: sollen wir jetzt wieder strenger sein oder nicht? Es müßte eine Diskussion sein, die sehr stark erfahrungsgesättigt ist.

dieFurche: Welche Fragen müßten denn gestellt werden, auf die man dann eine Antwort sucht?

Rathmayr: Die Fragen müßten lauten: Wie geht es eigentlich unseren Kindern? Was glückt den Eltern bei der Erziehung? Es gibt doch auch so viele Erziehungsprozesse, die glücken und wo die Eltern sagen: Ach, es klappt eigentlich ganz gut. Darüber müßte man endlich ins Gespräch kommen.

Mit dem Erziehungswissenschafter an der Universität Innsbruck sprach Elfi Thiemer.

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