"Die Tragödie war vermeidbar"

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Fünf erstickte Mädchen, Dutzende verletzte Jugendliche: was als das größte Snowboard-Spektakel der Welt gedacht war, endete in einer katastrophalen Massenpanik. Der Innsbrucker Erziehungswissenschafter Bernhard Rathmayr über die Gefährlichkeit solcher Mega-Events.

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Fünf erstickte Mädchen, Dutzende verletzte Jugendliche: was als das größte Snowboard-Spektakel der Welt gedacht war, endete in einer katastrophalen Massenpanik. Der Innsbrucker Erziehungswissenschafter Bernhard Rathmayr über die Gefährlichkeit solcher Mega-Events.

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dieFurche: Neben Verzweiflung, Schock und tiefer Trauer gab es in Innsbruck auch Erschrecken darüber, daß sich ein Teil der Jugendlichen als extrem gefühllos gezeigt hat. Es wurde weitergefeiert, als ob nichts gschehen wäre. No risk, no fun - Spaß muß sein, auch wenn es das Leben kostet.

Bernhard Rathmayr: Diese Darstellung ist zum Teil wirklich nur ein Medienprodukt. Man hat offensichtlich ein paar angetrunkene Jugendliche gefunden, die in ihrem Rausch vor laufender Kamera gesagt haben: "Was geht uns das an? Alles no problem!" Wann immer Sie Betrunkene fragen, sagen die irgendeinen Blödsinn. Ähnliche Szenen kenne ich von überall, wo solche Massenunglücke passiert sind. Es gibt immer welche, die sich betrinken und hingehen in der Hoffnung, daß irgendwas passiert, was sie aus ihrer Alltagslethargie reißt. Das darf man auf gar keinen Fall generalisieren. Etwas anderes scheint mir da viel bedeutsamer. Es ist das große Erschrecken der Jugendlichen darüber, das so etwas überhaupt passieren kann.

dieFurche: Wie gefährlich solche Massenveranstaltungen werden können, weiß man doch aus der Vergangenheit. Immer wieder sterben Teenager bei panikartigen Tumulten in Rockkonzerten, in Fußballstadien ...

Rathmayr: Die Tragödie im Bergisel-Stadion zeigt genau wieder die Struktur dieser Maga-Events auf, die eben solche fatalen Folgen haben kann. Diese Struktur besteht darin, daß der ästhetische Schein so einer Mega-Party dem physikalischen Vorgang absolut nicht gerecht wird. Das heißt, bei solchen Veranstaltungen wird der Schein einer großen, friedlichen Gemeinschaft erweckt. Es herrscht große Harmonie, alle Anwesenden richten ihre Aufmerksamkeit auf den gleichen Punkt. Das ist immer ein visuelles Zentrum, entweder ein Fußballspiel, oder ein Rocksänger, oder eine sportliche Veranstaltung wie eben diese Snowboard-Künste.

dieFurche: Was fasziniert da so?

Rathmayr: Es ist die Faszination des gemeinsamen Erlebens. Solche Veranstaltungen sind die einzigen Orte in dieser Gesellschaft, wo Jugendliche noch zwei ganz wesentliche Erfahrungen machen können: Erstens, daß es ganz allein auf sie ankommt. Daß es wichtig ist, daß sie da sind. Zweitens, daß es so viele Jugendliche gibt, die ähnlich denken, ähnlich erleben und fühlen wie man selbst.

Warum ist das so? Weil heute alles in Richtung Vereinzelung geht. Die Schulen leisten diese Funktion der Gemeinschafts- und Identitätsfindung nicht mehr. Auch sie werden differnzierter, organisieren die Schüler in einer gewissen Konkurrenz zueinander statt das Miteinander und das gemeinsame Erleben zu fördern.

Die Kirchen hatten einst diese große Bedeutung. Aber nur noch ein Teil der Jugendlichen geht dorthin, um Gemeinschaftserlebnisse zu haben. Und sonst? Es gibt nichts mehr. Eine große Lücke hat sich aufgetan zwischen den kleineren, alltäglichen Möglichkeiten, diese Zugehörigkeit noch direkt erleben zu können und eben diesen Mega-Events. Diese werden den Wünschen und Sehnsüchten der Jugendlichen voll gerecht. Allerdings - und das ist den Teilnehmern nicht bewußt - sind diese Inszenierungen immer mit einem ganz großen Risiko verbunden. Es kann immer etwas passieren. Wo Zehntausende zusammengepfercht sind, braucht wirklich nur ganz wenig vorzufallen und es kommt zu Paniken, Tumulten und zur Katastrophe.

dieFurche: Heißt das, über einer gewollt paradiesischen Inszenierung lauert immer die Gefahr, die aber bewußt verschleiert wird?

Rathmayr: Ja. Es darf für die Teilnehmer nicht durchkommen, in welcher riskanten Situation sie sich eigentlich ständig befinden. Das muß vertuscht werden. Und das ist das Problem. Es müßte den Jugendlichen endlich vermittelt werden, daß das, was sich abspielt, immer ein Kompromiß sein muß zwischen ihren Sehnsüchten und einer sehr realen, gefährlichen Situation.

Diese Gefährlichkeit muß auch zum Ausdruck kommen durch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Die Jugendlichen würden sich zwar am Anfang aufregen, aber dann doch froh darüber sein. Vieles, was heute streng geregelt ist, hat genau in dieser Ungeordnetheit begonnen. Bis klar geworden ist, wenn man nicht handelt, dann passieren eben dermaßen viele Unglücke. Wer regt sich heute noch auf, daß wir Vekehrsregeln haben? Daß man bei Rot an der Kreuzung stehen bleiben muß? Solche Vorschriften würden sicher bald Normalität werden. Man sagt, weil die Jugendlichen sich aufregen würden, bleiben die Sicherheitsvorkehrungen möglichst unsichtbar beziehungsweise unterläßt man das entsprechenden Ausmaß. Das sind aber völlig falsche Argumente.

dieFurche: War die Katastrophe gar keine Verkettung unglücklicher Umstände, wie das immer betont wurde?

Rathmayr: Nein. Auch die Bergisel-Katastrophe hätte sich leicht vermeiden lassen können. So wie andere Katastrophen davor auch. Es hätte den Teilnehmern klar gemacht werden müssen, daß niemand, der sich nicht in einer Not-Situation befindet, das Stadion noch vor dem Ende verläßt. Die Räumung hätte in anderer Form vor sich gehen müssen. Fast so, wie man die Rinder-Pferchen in Chicago räumt. Sektor für Sektor, und mit genügend Schutzleuten.

dieFurche: Warum passiert das nicht?

Rathmayr: Um den ästhetischen Genuß der Veranstaltung nicht zu zerstören! Die Jugendlichen regen sich ja schon darüber auf, daß überhaupt Polizei präsent ist. Es soll doch so aussehen, als wäre das Spektakel ein kleines Familienfest. Und deshalb geschieht auch nichts. Die Veranstalter wissen sehr genau, was sie bieten müssen, damit den Jugendlichen die Sache gefällt. Natürlich wollen die auch, daß nichts passiert! Natürlich passen auch die Veranstalter auf, daß Ordnerdienste im Hintergrund sind. Aber die Sicherheitsmaßnahmen dürfen eben nicht allzu sichtbar in den Vordergrund kommen. Und das ist das große, wirkliche Problem. Das weiß man seit den großen Katastrophen wie im Brüsseler Heysel-Stadion. Trotzdem kann man sich nicht entschließen, diesen Widerspruch aufzuheben. Ganz offensichtlich liegt allen weiterhin zu sehr an der Inszenierung dieser Scheinwirklichkeiten.

dieFurche: Nun hieß es doch, bei Tageslicht hätte so etwas nicht passieren können ...

Rathmayr: Nein, das kann beim Skispringen genauso passieren. Es braucht beispielsweise nur das Springen abgebrochen werden und es kommt zu einem kleinen Tumult, weil alle raus wollen. Dann haben Sie dieselben Effekte.

Was mich so ärgert ist, daß man das aber alles längst weiß! Das weiß man seit der Katstrophe im Heysel-Stadion, mit der ich mich sehr ausgiebig befaßt habe. Ein kleines Scharmützel zwischen italienischen und englischen Fans - da waren vielleicht 50 Leute beteiligt - und in der Folge sterben Dutzende Menschen. Es ist immer dasselbe Szenario. Es setzen sich ein paar hundert Menschen in Bewegung, die stoßen dann irgendwo an einen Zaun oder an einen zu kleinen Ausgang, und die Katstrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Es ist völlig klar, daß man bei solchen Mega-Events verlangen muß, daß sich die Leute nach allen Richtungen hin bewegen können. Es muß möglich sein, ganz rasch sehr große Öffnungen aufzumachen. Das würde relativ große Tore, Schiebetore oder ähnliches, erfordern. Es müßte das entsprechende Umfeld frei gemacht werden, was beim Bergisel-Stadion sehr schwer wäre, weil dort Wald ist.

dieFurche: Wieso muß ausgerechnet dort das größte Snowboard-Spektakel der Welt stattfinden?

Rathmayr: Ich glaube, daß dahinter auch eine gewisse "Guinness-Mentalität" steht. Es müssen immer neue Rekorde aufgestellt werden. Wir sind die tollsten und größten. Das gefällt den Jugendlichen und deshalb kommen sie auch. Ich bezweifle, ob sich das überhaupt finanziell lohnt.

dieFurche: Welche Lehren sollten gezogen werden?

Rathmayr: Ein- und Auslaß müssen auf eine ziemlich diktatorische Weise organisiert werden. Schauen Sie sich die als höchst unordentlich verschrieenen englischen Jugendlichen an. Die müssen in kilometerlangen Zweierreihen in das Fußballstadion marschieren, wenn ein Schlagerspiel auf dem Programm steht. Und sie tun es.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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