Klimasturz in der Berufsswelt

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Viele Politiker sind unwillig und unfähig, auf neue Entwicklungen in der Gesellschaft zu reagieren, klagt der Grazer Kultursoziologe Manfred Prisching.

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Viele Politiker sind unwillig und unfähig, auf neue Entwicklungen in der Gesellschaft zu reagieren, klagt der Grazer Kultursoziologe Manfred Prisching.

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dieFurche: Ist die Planung der Zukunft überhaupt noch ein politisches Projekt oder dominiert in Wahrheit nicht ohnehin längst die Wirtschaft weltweit die gesellschaftliche Entwicklung?

Professor Manfred Prisching: Es herrscht weltweit Unsicherheit darüber, wo die Politik denn überhaupt noch zu Hause ist. Ob wir überhaupt noch von der alten Dominanz der Politik sprechen können oder ob sie bereits abgedankt hat? Gerade im Wirtschaftsbereich beziehungseise am Arbeitsmarkt ist wie nie zuvor und in einer unglaublichen Weise von "Sachzwängen" die Rede. Wir erleben den Triumph einer Art Sachzwangwelt, die mit einer expliziten oder verschleierten Abdankung der Politik einhergeht. Man hat den Eindruck, es gibt überhaupt nur mehr eigendynamische Entwicklungen, die sich nicht steuern lassen und die nur mehr mit einem Schulterzucken beobachtet werden können. In Wahrheit ist es natürlich so, daß auch diese neue Ordnung, in der sich diese Sachzwänge entfalten können, zum Teil politisch gemacht oder unterstützt ist. Die offene Frage ist, wie die Sachzwangwelt eigentlich wirklich ausschaut.

Dazu kommt noch etwas: Die Politik selbst befindet sich in einem unglaublichen Umbau und ist zutiefst verunsichert über ihre eigene Leistungsfähigkeit. Viele Politiker wissen zwar ganz im Innersten um ihre Ohnmacht, aber sie fühlen sich trotzdem verpflichtet, ihren Wählern Allmacht vorzuspielen. Das hat damit zu tun, daß die Österreicher mit ihrem Obrigkeitsdenken im Grund auch allmächtige Politiker haben wollen, auch wenn sie dann immer auf sie schimpfen ...

Das heißt, es gibt auch Desorientierung, Verunsicherung, Unübersichtlichkeit bei der Einschätzung der Leistungsfähigkeit und Reichweite des politischen Handelns generell.

dieFurche: Flexibel sein, dazulernen, auf neue Herausforderungen reagieren - diese Rezepte gegen Arbeitslosigkeit oder Jobverlust sind doch ständig aus Politikermund zu hören. Auf sich selbst beziehen viele Politker und Gewerkschafter das aber ganz offensichtlich nicht.

Prisching: Ja, und das hat sicherlich damit zu tun, daß diese in einer ganz anderen Welt leben. Die Welt, in der man lebt, ist immer eine gedeutete, sie ist immer ein bißchen konstruiert und zurechtgemacht. Aber Politiker und Gewerkschafter meinen ganz offenkundig, daß das, was sie jahrzehntelang mit Erfolg gemacht haben, jetzt ja wohl auch nicht falsch sein kann. Da ist sicherlich eine große Portion Lernunwilligkeit vorhanden.

dieFurche: Muß das einfach zähneknirschend hingenommen werden? Immerhin ist das eine Art zynischer Bequemlichkeit, die den trügerischen Eindruck bei vielen Menschen erweckt, daß in der Gesellschaft alles beim alten bleiben kann.

Prisching: Das Problem ist, daß die Politik in Bezug auf Beschäftigungs- oder Arbeitsmarktpolitik im Grunde keinerlei Vorstellungen und Rezepte hat, was sie da eigentlich wirklich machen kann. In Wahrheit weiß jeder, daß durch Europäisierung und Globalisierung die traditionellen Instrumente nicht mehr funktionieren. Es kann keine alte keynesianische Fiskalpolitik mehr gemacht werden. Es kann keine Geldpolitik mehr gemacht werden, weil der Euro kommt und die internationalen Finanzmärkte eine große Rolle spielen und so weiter ... Das einzige, was daher jetzt gemacht wird, ist ein bißchen Infrastrukturpolitik und dazu ein bißchen Qualifizierungspolitik. Hier kommen ein paar Technologieparks, dort eine paar Gewerbeparks, dazu mixt man Telekommunikation und dreht ein bißchen bei den Schulen rum. Im eigentlichen Beschäftigungssystem - und zunehmend auch bei der Sozialpolitik - sitzt man nur mitten drinnen im Strom und weiß nicht wirklich, welche Hebel oder Instrumente eigentlich eingesetzt werden sollen.

dieFurche: Wie läßt sich für die Menschen noch irgendwie einschätzen, wo es lang gehen wird? Droht ein Klimasturz auch im Erwerbsleben? Soziales Denken ist out, totale Flexibilität in?

Prisching: Was man sagen kann ist, daß wir uns der absoluten Marktgesellschaft nähern. Diese hat im Grunde keinen Platz beziehungsweise keine adäquaten Jobs und Positionen für halbleistungsfähige, faule oder dumme Menschen. Es gibt in Österreich viele, die nicht auf dem obersten Leistungsniveau sitzen. Die müssen aber auch irgendwo einen Platz haben, die können wir aus der Gesellschaft nicht einfach beseitigen. Das schafft Verunsicherung.

Das Gegenmodell, die absolute Versorgungsgesellschaft, wo jeder immer nach seinen Bedürfnissen alles kriegt, erweist sich auch als Utopie. Es geht nicht anders, als daß man nach dem berühmten Mittelweg sucht.

DieFurche: Und der wäre?

Prisching: Es gibt in der Zivilisationstheorie Antworten auf folgende Frage: wo haben sich hohe Zivilisationen entwickelt?

Es entwickelt sich keine Zivilisation in manchen Dschungelgegenden. Dort bringt die Natur alles hervor, was die Menschen brauchen, sodaß sie nicht arbeiten müssen. Dort gibt es keine Herausforderung, daher auch keinen Fortschritt. Es gibt auch keinen Fortschritt, wo die Gegend so hart, heiß oder kalt ist, daß jede Anstrengung unmöglich ist. Auch unter solchen Bedingungen kann sich nichts entwickeln.

dieFurche: Klingt ein bißchen weit hergeholt ...

Prisching: Das mag weit hergeholt sein, aber diese Metapher kann man wirklich übertragen auf Individuum, Arbeitswelt oder Gesellschaft. Eine Gesellschaft muß für ihre Entwicklung eine Art mittleren Herausforderungscharakter pflegen. Das heißt bei der derzeitigen Situation, daß man einerseits die Menschen nicht in einen permanenten Höchstleistungsstreß jagen darf, in die volle Flexibilität und des Sich-zur-Verfügung-stellen-Müssens rund um die Uhr. Auf der anderen Seite ist aber auch eine Verwöhnungsgesellschaft nicht wünschenswert, die alle Bequemen miteinschließt und ihnen die totale Streßfreiheit verspricht beziehungsweise auch verschafft.

dieFurche: Man hat aber den Eindruck, daß derzeit eben nicht nach einem Mittelweg gesucht wird. Die Wirtschaft richtet sich auf totale Elastizität aus, zeigt hektische Betriebsamkeit, Dynamik, mörderischen Konkurrenzkampf. Sie verlangt immer mehr nach Menschen, die frei sind von familiären und persönlichen Bindungen, von Traditionen, vom Sicherheitsdenken ...

Prisching: Ja, das ist richtig. Das Problem ist, das sich noch keine Anthropologie des Arbeitsmarktes entwickelt hat. Es müßte die anthropologische Dimension dessen, was da in der Wirtschaft überhaupt vor sich geht, untersucht werden. Wie müssen die Menschen beschaffen sein, die unter solchen Umständen leben sollen? Was ist wünschenswert, was nicht? Einerseits will die Wirtschaft die totale Einsatzbereitschaft. Sie will Mitarbeiter, die Tag und Nacht arbeiten, die absolut flexibel sind, in jeder Hinsicht. Andererseits werden von denselben Menschen "social skills" verlangt, weil die so wichtig sind wie nie zuvor. Wo sollen diese sozialen Fähigkeiten denn herkommen? Von jenen Menschen, die kein Familienleben mehr kennen, die keine Bindungen mehr leben, keine dauerhaften Loyalitäten schätzen? Das funktioniert doch hinten und vorne nicht!

dieFurche: Es scheinen aber diejenigen immer mehr zu werden, die bereit sind, eine solche dynamisch-ungebundene Existenz zu führen.

Prisching: Das glaube ich auch. Wir erleben derzeit ja die auschließliche Prämierung derer, die diesen Anforderungen entsprechen. Die werden letzlich auch die Chefs in den Unternehmen.

dieFurche: Ist da nicht ein neuer Klassenkampf vorprogrammiert?

Prisching: Das liegt auf der Hand.

dieFurche: Was wollen die meisten Menschen im Gegensatz zu dem, was derzeit eine immer entfesselter wirkende Wirtschaft will?

Phing: Diese Fragen müßten immer wieder, auf unterschiedlichen Ebenen gestellt werden. In den Medien, in der Wissenschaft, in der Politik, in allen den unterschiedlichen Arenen, in denen Meinungsbildung stattfindet.

dieFurche: Die Gewerkschaften scheinen überhaupt im alten Denken zu versteinern.

Prisching: Die waren es gewohnt, ein paar schöne große Gruppen zu vertreten. Da war klar, was die wollten. Inzwischen ist die Arbeitswelt heterogen geworden, aber die Gewerkschaften können oder wollen sich nicht anpassen. Schon die Wirtschaft hat ganz unterschiedliche Interessenlagen: Teile der Wirtschaft wollen viele Fremde herinnen haben, andere Teile wiederum wollen Fremde gänzlich draußenhalten. Da gibt es ganz unterschiedliche Antworten. Und was die Arbeitnehmer wollen, läßt sich nicht mehr auf einen Punkt bringen. Es gibt welche, die rigide Zeitstrukturen durchgesetzt haben wollen. Sehr viel mehr Menschen gibt es aber inzwischen, die alle Beschränkungen weghaben wollen, weil sie sich in der freien Zeitgestaltung eingeengt fühlen. Also da ist die ganze Szene heterogen geworden. Und da tun sich die großen Vertretungskörper schwer.

dieFurche: Wie bilden sich dann letztlich die entscheidenden Strömungen heraus?

Prisching: Das bleibt irgendwie immer ein Geheimnis. Natürlich können wir rekonstruieren, wie sich beispielsweise die neoliberale Stimmung im Laufe der letzten 20 Jahre verbreitet hat. Das war eine sehr komplexe Geschichte.

Aber letztlich geht es auch hier immer um die Wahrnehmung von Wirklichkeiten. Zur Zeit meint man halt überall, mit der Forcierung dieser allseitigen Flexibilität und Dynamik am besten zu fahren. Vielleicht fährt die Wirtschaft letztlich damit auch wieder ein. Immerhin tauchen ja schon wieder die ersten Bücher über "Vertrauen" und "Loyalität" auf. Irgendwie merkt man doch auch, daß diese Eigenschaften, daß Bindung und Verpflichtung an einen Betrieb - also alles, was heute gar nicht geschätzt wird - auch sehr wichtig ist. Das es sich um wertvolle Ressourcen handelt, die sich letztlich auch effizienzsteigernd auswirken ...

dieFurche: Wären in Zukunft nicht wieder mehr die "Frager" wichtig und weniger die "Macher"?

Prisching: Der öffentliche politische Diskurs ist in Österreich geradzu erbärmlich. Es ist gar nicht mehr möglich, irgendeine Art von seriöser, substantieller, spritziger, politischer Diskussion zu führen. Was aber durchaus auch an den Medien liegt ...

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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