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Bewußt mit der Zeit umgehen

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dieFurche: Wo hat das Denken über Zeitverzögerung seinen Anfang genommen?

Guido Heintel: Konkret ist es eine österreichische Geschichte, und auf das sind wir stolz. Aber Zeitprobleme gibt es, seitdem es Menschen gibt. Der größte Boom zur Verzögerung der Zeit ist heute in Deutschland.

dieFurche: Wir messen die Zeit Es gibt vom Taschenkalender bis zum Lebensplaner alle möglichen Vorkehrungen zur Zeiteinteilung. Setzt uns das unter Druck?

Heintel: In unserer Gesellschaft weiß keiner, ob er wirklich Zeit hat oder nicht. Wir haben im Verein anfangs versucht, zu den einzelnen Lebensbereichen unser Zeitempfinden hinzuzuschreiben. Da hat sich herausgestellt, daß wir die total falsche Zeiteinschätzung haben für das, was wir wollen, und das, was wir tun. Wir müssen daraufkommen, was wirklich wichtig ist. Wir müssen uns überlegen, was der Sinn unseres Handelns ist.

dieFurche: Verzögerung der Zeit meint also eine bestimmte Art des Umgangs mit Zeit?

Heintel: Vielleicht ist der Vereinsname provokant. Wir wollen nicht die Zeit verzögern, sondern wir wollen sie bewußter machen und gestalten.

dieFurche: Sie erwarten sich eine Änderung des Umgangs mit Zeit in Politik und Gesellschaft?

Heintel: In der Politik muß heute alles schnell gehen. Es werden immer neue Gesetze beschlossen, und wenn sie in Kraft treten, sind sie schon veraltet und müssen novelliert werden. In der Bildung orientiert man sich an verengten beruflichen Ausbildungszielen, statt an Erziehungszielen.

dieFurche: Betrifft Zeitbewußtsein auch die Freizeit?

Heintel: Ich glaube, es gibt in unserer Gesellschaft keine Frei-Zeit. Fragen Sie einmal Leute: Haben sie Zeit? Erstens traut sich niemand zu sagen, daß er Zeit hat, und zweitens: Wenn er die Zeit hätte, würde er sie benützen, um etwas zu tun, damit er anerkannt wird. Freizeit ist für mich so etwas wie Muße, nicht die Übertragung von Formen und Leistungszielen aus dem Arbeitsbereich.

dieFurche: Für jeden entwickelt sich die Zeit anders, vergeht anders. Wenn man seine eigene Zeitgemäß seiner eigenen Persönlichkeit nach seinen eigenen Ideen, nach seinem Rhythmus, seinem Biorhythmus gestaltet, bringt das keine Schwierigkeiten. Wenn viele Personen beisammen sind...

Heintel: ..; gibt es sehr viele Außeneinwirkungen. Für mich ist ganz wichtig - ich bin aber beileibe kein Esoteriker-, in seinem Körper zu leben. Der Körper gibt dann die Zeit vor. Im Kollektiv müssen wir etwas von außen Vorgegebenes machen, auch wenn der individuelle Bhyth-mus vielleicht ganz anders ist. Einerseits ist jeder beim eigenen Lernprozeß dabei, andererseits soll in einer strukturierten, organisierten Umgebung alles schnell und auf Einheitlichkeit hin entschieden werden. Diesen Widerspruch leben wir, das ist noch nicht gelöst.

dieFurche: Gibt es fiir gemeinschaftliches Handeln irgendwelche Erfahrungen, wie man mit diesem Widerspruch umgeht?

Heintel: Es gibt Erfahrungen und Versuche. Wir haben bei den Vereinsseminaren immer nicht nur Vorträge über Themen, die uns alle sehr interessieren, wie Zeit und Psychoanalyse, Zeit und Arbeit, Zeit und Identität -es gibt kein Gebiet, das nicht mit Zeit zu tun hat -, sondern wir machen dazwischen Meditationsphasen, soziale und individuelle Nachdenkpausen, wo jeder ruhig in sich gehen kann, wer will und kann. Die Balance der Gesamtheit von gefühlsmäßigen und intellektuellen Zugängen durch Zeit zu erfahren, ist ganz wichtig.

dieFurche: Vergeht die Zeit langsamer oder hat man mehr Zeit, wenn man sich ihrer bewußt ist?

Heintel: Wenn man sich seiner Selbstzeit und der kollektiven Zeit in der eigenen und in gemeinsamer Tätigkeit bewußt wird, vergeht die Zeit unheimlich schnell. Aber sie vergeht deswegen schnell, weil die Bewußtheit da ist, etwas tun zu wollen. Es gibt eine Zeit, die langwierig ist. Sie brauchen nur Schüler und Schülerinnen zu fragen. Das war wieder eine lange Stunde, heißt, es war fad, es ist nichts passiert.

dieFurche: Ich möchte Sie jetzt bitten, frei zu assoziieren zu der Redewendung „Dem Glücklichen schlagt keine Stunde".

Heintel: Erstens würde ich nicht von Schlagen sprechen, weil Schlagen für mich zunächst einmal etwas Gewaltvolles ist. Zweitens: Das Glück ist für mich nicht etwas Vorgegebenes, sondern immer etwas für sich selbst zu Erreichendes. Je mehr ich Zeit habe, über mich und meine Umgebung, nicht nur individuell, nachzudenken, desto mehr habe ich Glück im Leid und in der Erfahrung. Für mich ist Glück etwas Dialektisches, kein Absolutes: daß man reflektiert lebt und handelt.

dieFurche: Und was assoziieren Sie zu „Deine Zeit ist abgelaufen"?

Heintel: Das heißt, ein autoritatives System bestimmt über die Zeit; wenn sie abgelaufen ist, ist sie weg. Wenn ich persönlich über Tod denke, denke ich an mein Leben - wieder ein dialektisches Verhältnis. In unserer Gesellschaft haben wir aber überhaupt keine Zeit mehr, über den Tod so nachzudenken, daß er ins Leben hereinkommt. Wir wissen, daß wir alle endlich sind, aber das verdrängen wir.

dieFurche: Wenn man Zeit bewußt nutzt, ist sie dann erfüllt, wie es in einer biblischen Formulierung heißt?

Heintel: Ich würde sagen, das kann dem entsprechen, wenn das Gedankengut nicht ideologisch besetzt ist. Ich meine da nicht unbedingt die Kirchen, sondern politische und wirtschaftliche Institutionen. Ich wehre mich gegen den Anspruch, irgend etwas zu machen, damit die Zeit erfüllt ist. Man kann sagen: Ich stehe zur Wirtschaft, ich stehe zur Kirche, ich stehe zur Philosophie, und so weiter, zur Wissenschaft. Wie stehe ich überhaupt zu Systemen? Wir brauchen freilich die Systeme, das ist eine andere Seite.

dieFurche: Bleiben wir bei der Wissenschaft Die Anwendung von Computern bewirkt eine Gleichzeitigkeit in der Verfügbarkeit von vorhandenem Wissen und programmierbaren Szenarienfür die Zukunft Ist die Menge an Material und Informationen nicht hinderlich, weil es so viel Zeit braucht, sich Überblick zu verschaffen, daß zur Reflexion zu wenig bleibt?

Heintel: Wenn Information, aus welcher Wissenschaft auch immer, gespeichert wird, dann als Information der Tatsache. Aber ist diese Tatsache überhaupt wichtig als Voraussetzung für weitere Entwicklungen? Ich glaube auch, daß im Wissenschaftsbereich durch die Technik des Computers immer mehr Publikationsleistung passiert. Denn das geht ja einfach: Das hole ich mir dort, das hole ich mir da, und das werfe ich aus—wer hat aber die Zeit, das zu lesen?

dieFurche: In der Bibel ist das Ende der Zeiten auch das Ende der Welt Und es gibt den Begriff Ewigkeit Ist Religion eine Art Gegenentwurf zur Zeit?

Heintel: Wenn ich als Philosoph über Zeit rede, dann nicht physikalisch, naturwissenschaftlich, sondern ich frage: Was bedeutet Zeit für wen und wie und warum? Das Komische ist, daß Menschen immer Zeit gleichzeitig haben wollen, um den Tod zu überwinden. Religiosität oder Glaube ist eine Möglichkeit, zu sich selbst so zu kommen, daß man die Gleichzeitigkeit spüren kann im Bewußtsein des Todes. Also nicht Gleichzeitigkeit herbeiführen, sondern in sich spüren, dann hat man die Ewigkeit. Oder mit einem religiösen Begriff: die Auferstehung.

Das Gespräch

führte Rainer Zitta.

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