"Die Alten sollten nicht nur brav sein"

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Primarius Franz Böhmer, Internist, ärztlicher Direktor des Sophienspitals in Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, zieht eine negative Bilanz über das Internationale Jahr der Senioren 1999.

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Primarius Franz Böhmer, Internist, ärztlicher Direktor des Sophienspitals in Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie, zieht eine negative Bilanz über das Internationale Jahr der Senioren 1999.

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dieFurche: Das Internationale Jahr der Senioren 1999 ist zu Ende gegangen, ohne daß es in der Öffentlichkeit eigentlich richtig wahrgenommen wurde (siehe dazu Furche-Dossier 49/1999). Welche Bilanz ziehen Sie als Mediziner und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie?

Primarius Franz Böhmer: Das Internationale Jahr der Senioren wurde mit großen Veranstaltungen begonnen. Minister Bartenstein hat sich als politischer Exponent an die Spitze gestellt, und es sind jede Menge Kommissionen und Arbeitsgruppen eingesetzt worden. Es haben sich sehr viele Experten, auch prominente, in diesen Arbeitsgruppen gefunden. Dokumente wurden ausgearbeitet, was für die älteren Menschen in Österreich noch getan werden kann, was fehlt, und was noch zu ergänzen wäre.

Vermißt habe ich allerdings eine entsprechende Abschlußveranstaltung. Das heißt, entweder ist das Internationale Jahr der Senioren noch gar nicht zu Ende, oder den Politikern war es nicht wichtig genug, so ein Jahr auch entsprechend abzuschließen. Diesen Vorwurf muß ich machen. Es war eine fadenscheinige Ausrede zu sagen, wir können wegen der Regierungsverhandlungen keine Abschlußveranstaltung organisieren. Es ist halt symptomatisch für viele Politiker, daß sie Dinge beginnen, aber dann nicht im gebührenden Maße zu Ende führen.

dieFurche: Dabei müßten die Senioren für die Politiker eine wichtige Gruppe sein. Sie werden als Wähler zahlenmäßig immer stärker.

Böhmer: Sicherlich, aber Politiker werden halt dazu verleitet, diejenigen nicht allzu sehr zu beachten, die ohnehin brav sind. So wie die Senioren. Die Braven braucht man nur ab und zu ein bißchen zu loben. Aber kümmern muß man sich nicht um sie.

dieFurche: Die SPÖ hat Karl Blecha, ihren Ex-Zentralsekretär und Ex-Innenminister als Präsidenten des Pensionistenverbandes installiert. Blecha setzt sich auch hin und wieder medienwirksam, mit viel kämpferischer Rhetorik, in Szene. Ein Zeichen, daß das Bravsein ein Ende hat?

Böhmer: Ich kenne Herrn Blecha nicht persönlich. Er ist sicher ein Kämpfertyp, aber ein politischer. Das heißt, er kämpft nicht um die Anliegen aller älteren und alten Menschen, und vor allem nicht um die Anliegen jener, die schwach und krank sind. Für die spricht ja in Wirklichkeit niemand. Schauen Sie sich an, wie vor den Wahlen in den Pflegeheimen die fliegenden Wahlkommissionen immer noch durchgehen. Und danach rührt sich keiner mehr bei diesen Menschen. Vielleicht kommt noch der Bezirksvorsteher vorbei, wenn irgendjemand 100 Jahre alt wird. Aber meist hat er auch keine Zeit, und dann kommt eben nur der Stellvertreter.

dieFurche: Wird dennoch den Senioren jetzt mehr Beachtung geschenkt als früher?

Böhmer: Es wurden im vergangenen Jahr sicher mehr Pressemeldungen über Senioren produziert als sonst, aber immer noch zu wenige. Wir hatten übrigens gleichzeitig ja auch das Jahr des Gehirnes. Darüber ist im Vergleich sogar noch viel weniger in der Öffentlichkeit diskutiert worden.

Aber primär möchte ich folgendes sagen: Für mich war es ein wichtiges Anliegen, im Internationalen Jahr der Senioren den Aspekt des Alters positiv auszudrücken. Das heißt zum Beispiel, daß das Wort "Überalterung" aus unserem Sprachschatz wegkommen muß. Man sollte nur von einer Zunahme älterer Menschen sprechen. Überalterung klingt wie Überfremdung oder Übervölkerung. Von da kommt man dann bald in Bereiche, die zu negativ besetzt sind. Dabei ist es ja eine positive Entwicklung der Menschheit, daß wir so alt werden können. Das ist doch so, na ja, wie den Mond entdecken! Deshalb sollte man es nicht gleich mit einem negativen Wort besetzen.

Man hätte sich zum Beispiel doch auch überlegen können, wie man das Wort Alter neu definiert. Die Phase von der Pension bis zum Tod ist viel zu lange, um sie mit dem einfachen Begriff "Alter" zu bezeichnen. Die Jugend ist unterteilt in verschiedene Epochen und die Erwerbsfähigkeit auch, aber das Alter soll gelten von der Pension bis zum Tod. Das ist viel zu lang. Damit kann man nichts anfangen. Für das Alter müßte man auch Strukturen schaffen.

dieFurche: Läßt sich aus medizinischer Sicht so eine Neustrukturierung vornehmen?

Böhmer: Nein, weil das sehr individuell ist. Sie kennen sicher auch Schauspielerinnen und Schauspieler, die weit über 80 sind und eine neue Rolle einstudieren, und Sie kennen auch 60jährige, die im Pflegeheim sind, weil ihr Alzheimer so weit fortgeschritten ist. Diese Einteilung läßt sich sicher nicht kalendarisch machen.

dieFurche: Daß wir in einer alternden Gesellschaft leben, wird also immer noch zu wenig beachtet. Auch 1999 wurde diese Entwicklung in der öffentlichen Diskussion meist auf die Frage reduziert "Was kosten die Senioren und wer bezahlt das?" Pensionskosten, Gesundheitskosten ...

Böhmer: Diese Fragen wurden viel zu sehr in den Vordergrund geschoben. Man hätte differenzieren müssen. Sehr viele Menschen werden heutzutage gesund alt. Aber am Ende des Lebens gibt es eben auch eine Menge Menschen, die krank und pflegebedürftig werden. Viele leben lange Zeit gesund, aber dann kommt eine kurze, intensive Phase, wo viel medizinische Betreuung und Pflegebedarf besteht. Die ist dann eben teuer.

dieFurche: Läßt sich exakt quantifizieren, welche Phase wieviel kostet?

Böhmer: Ich kann die absoluten Zahlen nicht sagen. Aber es gibt Untersuchungen in Österreich, die zeigen, daß für die letzten zwei Lebensjahre eines Menschen - wann immer die auch sind - , etwa 50 Prozent der gesamten Kosten des Gesundheitssystems anfallen. Das sind die teuren Jahre. In den USA wurde das sogar ganz genau berechnet. Das letzte Lebensjahr kostet genauso viel wie die Jahre davor. Und die letzten beiden Lebensmonate wiederum kosten soviel wie das gesamte letzte Jahr.

dieFurche: Stimmt der Eindruck trotzdem, daß die Mehrheit der heutigen Pensionisten eigentlich recht rüstig unterwegs ist?

Böhmer: Die Mehrheit ist rüstig unterwegs. Nur ein kleiner Teil der Kranken und Pflegebedürftigen verursacht hohe Kosten und einen hohen Aufwand.

dieFurche: Was sind die medizinischen Kernprobleme der Älteren heute? Woran leiden sie?

Böhmer: Die Hauptprobleme der Geriatrie sind die funktionellen Behinderungen, die degenerativen Knochen- und Wirbelsäulenerkrankungen, die Unsicherheiten beim Gehen, Gedächtnisstörungen ... Ein ganz großes Problem ist auch die Blasenschwäche, der viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Wir sind immer davon ausgegangen, daß diese Inkontinenz etwa eine halbe Million Österreicher betrifft. Aber wir wissen jetzt nach neuesten Untersuchungen, daß in Wirklichkeit viel mehr Menschen betroffen sind - nahezu eine Million. Therapien und rechtzeitige Aufklärung könnten helfen. Da muß man schon beim 50 jährigen Menschen beginnen. Wir haben dazu genaue Untersuchungen aus der Bundesrepublik. Die 50- bis 70jährigen, die daran leiden, gehen nicht zum Arzt, weil sie sich genieren. Die 80jährigen hingegen gehen dann wieder, die genieren sich nicht mehr so. Die Ärzte fragen die Patienten von sich aus nicht, weil sie sich zum Teil gar nicht auskennen und auch nicht wissen, was sie tun sollen. Teilweise bemerken sie dieses Problem ihrer Patienten auch gar nicht.

Stichwort Gerontologie und Geriatrie Der Begriff Geriatrie wurde 1909 zum ersten Mal in einer wissenschaftlichen Zeitung, dem "New York Medical Journal", erwähnt. Mit Geriatrie wird die Altersheilkunde bezeichnet, die Lehre von den Krankheiten des alternden Menschen. Die Grundlagenforschung dazu, die Gerontologie, hat nicht nur medizinische, sondern auch soziologische, kulturelle und historische Faktoren und Zusammenhänge des Alters und Alterns zum Thema. Aus dem Bereich der Gerontologie gibt es fast monatlich neue Forschungsergebnisse, angefangen vom Bereich der Immunologie bis hin zur Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei älteren und alten Menschen.

Die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie wurde 1955 gegründet.

Sie war eine der ersten in Europa.

dieFurche: Älter werden ist in der Zwischenzeit aber auch schon mit ganz anderen Ängsten verbunden. Ärzte und Pensionistenverbände in England beispielsweise haben schwere Vorwürfe erhoben. Systematisch, so hieß es, werden in den Krankenhäusern ältere Menschen bei der medizinischen Versorgung benachteiligt. Ist das eine Zukunft, die man sich als älter werdender Österreicher durchaus auch vorstellen muß?

Böhmer: Ich kenne die englischen Krankenhäuser nicht genau. Aber ich weiß aus Berichten, daß die Versorgung an den dortigen Krankenhäusern nicht dem österreichischen Standard entspricht. Das betrifft aber nicht nur ältere, sondern auch jüngere Patienten. Ob daher diese Meldung den Tatsachen entspricht, kann ich und möchte ich auch gar nicht beantworten. Aber immer wieder gibt es aus Großbritannien Meldungen, wonach für manche Behandlungen zuwenig Ressourcen zur Verfügung stehen, und daß dadurch eine Art Selektion bei der Versorgung gemacht wird. Ältere Menschen haben dort keine Lobby und laufen dadurch Gefahr, benachteiligt zu werden. Sie können sich schlechter artikulieren, wissen auch nicht, wem sie ihre Forderungen vortragen sollen und wie sie sie überhaupt formulieren sollen.

dieFurche: Das ist bei uns nicht anders. Auch hier gibt es oft das Gefühl des Ausgeliefertseins in den Krankenhäusern und in den Arztpraxen.

Böhmer: Auch in Österreich müssen Ärzte, Therapeuten erst lernen, wie sie in geeigneter Form mit alten Patienten umgehen. Auch die älteren Patienten selbst müssen lernen, sich entsprechend zu artikulieren.

diefurche: Wo lernen Ärzte das?

Böhmer: In Österreich ist das leider nur in einem sehr eingeschränkten Maße möglich. In vielen Ländern Europas gibt es bereits eine spezifische Ausbildung dafür, die Lehrstühle für Geriatrie. Dort erfährt der angehende Arzt all jene Dinge, die er für die richtige Behandlung des älteren Patienten braucht. Wir sind eines der ganz wenigen Länder in Europa, wo es so etwas noch nicht gibt.

dieFurche: Haben die jungen Ärzte überhaupt Interesse daran?

Böhmer: Es läßt sich nicht leugnen, daß man heutzutage die eigenen Großeltern lieber nur mehr kurz besucht, wenn überhaupt. Sie werden als schwierig empfunden, weil sie vielleicht umständlicher reden, ein bißchen stur oder schwerfällig sind. So ist es auch in der Ausbildung. Es ist nun einmal interessanter, einem 40jährigen ein neues Herz einzupflanzen, als einem 85jährigen für die kurze Zeit, die ihm noch bleibt, die Schmerzen wegzunehmen. Das hängt mit dem Wertesystem in der Medizin zusammen. Die heroischen Taten sind es, die die Ärzte anstreben. Herztransplantationen - das sind halt die Dinge, die reizen, und die den Pioniergeist ausmachen. Aber ich glaube, daß man auch in der Medizin die Wertigkeiten verändern muß. Ältere Menschen zu behandeln und ihnen eine Lebensqualität zu geben, muß zumindest als gleichrangig gesehen werden.

dieFurche: Ist die Bereitschaft dazu da?

Böhmer: Ich nehme zum Beispiel die niedergelassenen Ärzte her: Wenn die eine Zeitlang in ihrer Ordination sitzen, merken sie bald, worauf sie nicht vorbereitet wurden - auf die älteren Menschen, auch nicht während der Turnusausbildung. Dann sind sie bereit, Kurse und Seminare zu besuchen, um sich das fehlende Wissen anzueignen. Solche Kurse werden sehr positiv aufgenommen. Aber was wirklich fehlt, ist die universitäre Ausbildung. Und das fordere ich. Das scheint mir unabdingbar notwendig. Es kann nicht sein, daß wir Schlußlicht in Europa sind. Portugal und Island haben auch keine. Das dritte Land ist Österreich.

Ich glaube, daß auch während des Internationalen Jahres der Senioren viel zu wenig betont wurde, was überhaupt Gesundheit ist. Man redet davon, daß die älteren und alten Leute Reisen machen, daß sie viel unternehmen. Der Freizeitwert wird gepusht, weil das etwas mit Kommerz zu tun hat. Aber die alte Definition der Weltgesundheitsorganisation ist überhaupt nicht widergespiegelt worden: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Dazu gehören die physische, psychische und die soziale Gesundheit. Weiters der ökonomische Status, und daß ältere Menschen in die Lage versetzt werden müssen, sich selbst helfen zu können. Gesundheit hat diese fünf Dimensionen, aber sie sind in keinem Bericht zum Internationalen Jahr der Senioren durchgekommen.

dieFurche: Wieso haben wir keinen Lehrstuhl für Geriatrie?

Böhmer: Ich glaube, diese Frage wird Ihnen niemand zufriedenstellend beantworten können. Es gibt verschiedene Meinungen. Manche der Professoren an den Unis sind davon überzeugt, daß sie es nicht brauchen. Ich hingegen bin überzeugt davon, daß er notwendig ist. Zwei Drittel aller Patienten auf den interen Abteilungen sind 60 Jahre oder älter! Wenn wir so viele Menschen im stationären Bereich zu betreuen haben, dann brauchen wir auch eine entsprechende Medizin mit entsprechenden Ärzten, die mit diesen Patienten umgehen können.

dieFurche: Haben die zuständigen Politiker kein offenes Ohr dafür?

Böhmer: Doch. Sie haben sogar sehr offene Ohren. Beim einen gehen diese Wünsche hinein und beim anderen wieder hinaus. Alle Politiker sagen, daß es ihnen ein Anliegen ist, die Geriatrie in Österreich zu etablieren. Gleichzeitig meinen sie, daß sie den Universitäten durch deren Autonomie nicht hineinreden dürfen. Das mag so sein, aber nehmen sie Deutschland her. Dort hat die Politik gesagt: Wir wollen das - und dann ist eben ein Lehrstuhl für Geriatrie eingerichtet worden. Bei uns hingegen fehlt der notwendige Druck. Das Internationale Jahr der älteren Generation wäre ein Anlaß gewesen, das zu etablieren.

dieFurche: Zurück zu den Gesundheitskosten für die älteren und alten Menschen. Auch bei uns sind Dinge zu hören wie: wieso hat dieser 80jährige die künstliche Hüfte nicht mehr bekommen oder jene 75jährige ... ? Ist es denkbar, daß so eine Diskussion angesichts steigender Gesundheitskosten auch bei uns beginnen wird?

Böhmer: Nein. Und selbst wenn, so müßte man diese Diskussion mit Daten und Fakten führen. Nehmen Sie das Beispiel die künstliche Hüfte: Man müßte fragen, wieviele Leute kommen dafür überhaupt in Frage? Was bedeutet das volkswirtschaftlich? Was heißt es, wenn so eine Operation nicht gemacht wird? Welche Lebenserwartung hat der Patient dann? Welche Medikamente muß er gegen die Schmerzen in einer kaputten Hüfte schlucken? Was ist, wenn der Patient auch noch einen Magenschutz gegen die Medikamente schlucken muß? Das ist teuer. Wenn dann nach gründlicher Durchrechnung geurteilt wird, so bin ich davon überzeugt, daß im Endeffekt alle für den Hüftgelenksersatz sind. Wenn man die Kosten der Schmerzmedikamente, die Kosten der Komplikationen, die dadurch entstehen - es muß ja nicht gleich eine Magenblutung sein - , wenn man das alles zusammenrechnet, dann ist die künstliche Hüfte, wenn sie rechtzeitig gemacht wird, die billigere Variante. Alle anderen Varianten wären kurzsichtig und teuer.

dieFurche: Könnte sich nicht trotzdem an dieser Frage ein ernsthafter Konflikt der Generationen entzünden?

Böhmer: Solange unsere wirtschaftlichen Verhältnisse auch nur annähernd so sind wie jetzt, wird man solche Diskussion überhaupt nicht führen müssen! Notwendig wäre es vielleicht, die Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen mehr anzusprechen als bisher. Denn wie ein Mensch alt wird, daß kann er ja sehr wohl aktiv beeinflußen. Und dann werden die Gesundheitskosten auch schon wieder billiger. Dieses berühmte "Gesund alt werden" muß eine Lebenseinstellung werden, das darf nicht ein bloßes Schlagwort bleiben. Denn dann läßt sich das, was für die Behandlung von Krankheiten anfällt, auch bezahlen.

dieFurche: Halten Sie es für wünschenswert, bestimmte medizinische Leistungen an eine gewisse gesunde Lebensführung zu knüpfen?

Böhmer: Ich glaube, man muß die Frage anders stellen. Wer zum Beispiel Extremsport betreibt, sollte eine entsprechende Versicherung abschließen müssen. Aber ich glaube jedenfalls nicht, daß man die Menschen dazu erziehen kann, so gesund zu leben, daß sie diese oder jene Erkrankung erst gar nicht bekommen. Das ist praktisch nicht durchführbar.

dieFurche: Es gibt Meldungen - ebenfalls wieder aus England - daß diejenigen, die zum Beispiel ein ganzes Leben lang geraucht haben, dann auf der Warteliste für Lungentransplantationen ganz hinten gereiht werden.

Böhmer: Das widerspricht ganz und gar meiner Einstellung! Wenn jemand so eine Operation braucht, dann soll er sie genauso bekommen wie ein anderer Kranker! Es ist für mich nicht vorstellbar, das anders zu sehen. Es muß doch möglich sein, die Österreicherinnen und Österreicher zur Selbstverantwortung zu erziehen. Vielleicht mit ein wenig sanftem Druck, aber keinesfalls dadurch, daß man erkrankten Menschen etwas vorenthält.

dieFurche: Wie kann das funktionieren in einer totalen Konsumgesellschaft? Verzicht, Solidarität und Eigenverantwortung sind doch keine Themen mehr. Wer sagt denn: Heute verzichte ich auf meine Zigarette zugunsten meiner Gesundheit und der meiner Mitmenschen?

Böhmer: Damit müssen wir leben. Wir müssen akzeptieren, daß es immer einen gewissen Prozentsatz von Menschen gibt, die bewußt an sich selber Schaden nehmen. Auch die gehören zu einer Gesellschaft dazu, die können wir nicht einfach wegwünschen oder wegdenken. Und vergessen Sie nicht - es wird doch auch schon jetzt sanfter Druck ausgeübt. Es gibt Nichtraucherflüge oder Nichraucherecken in den Restaurants. Vielleicht kommen wir bald soweit, daß die Nichtraucher in Lokalen die schöneren Plätze bekommen.

dieFurche: Haben Sie wirklich den Eindruck, es werden ganz bewußt Akzente gesetzt? Früher gab es Kampagnen wie "Ohne Rauch geht's auch" oder "Fit mach' mit". Solche kreative Ideen sind heute weit und breit nicht zu erkennen.

Böhmer: Ich glaube schon, daß immer noch einiges geschieht. Aber die Werbung ist so laut und so umfassend geworden, daß man bei wesentlichen Dingen gar nicht mehr richtig hinhört.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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