Es gibt kein einfaches Rezept

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Bernhard Felderer, Direktor des Instituts für Höhere Studien in Wien, erwartet im Gesundheitsbereich drastische Kostensteigerungen.

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Bernhard Felderer, Direktor des Instituts für Höhere Studien in Wien, erwartet im Gesundheitsbereich drastische Kostensteigerungen.

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die Furche: Die Gesundheitsausgaben steigen stetig. Gibt es eine Obergrenze?

Bernhard Felderer: Nein. Langfristig steigen die Gesundheitsausgaben überall rascher als das BIP. Länder mit einem geringem Pro-Kopf-Einkommen wie die Türkei, haben Gesundheitsausgaben von 4,5 bis 5 Prozent. In den USA liegen die Gesundheitsausgaben bei 14 Prozent des BIP. Wir liegen zwischen acht und neun Prozent. Ich sehe hier keine Obergrenze. Die Frage ist nur, wie wir das finanzieren werden.

die Furche: Wie gut ist das österreichische Gesundheitssystem?

Felderer: Im Moment ist unser Gesundheitssystem kein schlechtes. Der Patient ist in Österreich gut aufgehoben. Wir haben, was die Kostenkontrolle betrifft, ein sehr gutes System, was die Bequemlichkeit der Patienten anbelangt, könnte man sich da und dort Verbesserungen vorstellen.

die Furche: Die Menschen werden immer älter. In 30 Jahren wird laut Prognosen ein aktiver Beitragszahler einen Pensionisten erhalten müssen. Können wir uns dieses System in Zukunft noch leisten, vor allem im Hinblick darauf, daß in den letzten Lebensjahren die Gesundheitskosten drastisch steigen?

Felderer: Ich habe diesbezüglich selbst eine Simulation gemacht. Daraus ging hervor, daß die Kosten für Gesundheit allein aus demographischen Gründen in den nächsten 25 Jahren um etwa 50 Prozent ansteigen müssen. Es gibt natürlich noch andere Gründe, so daß die Kostensteigerung insgesamt wesentlich größer sein wird. Die demographische Entwicklung spielt deshalb eine so große Rolle, weil die letzten zehn Lebensjahre sechsmal soviel kosten wie die ersten zehn Jahre der Versicherungszeit. Am teuersten sind die letzten zwei Lebenswochen. Das bedeutet natürlich, daß sich das Gesundheitswesen mit zunehmendem Durchschnittsalter verteuert. Hinzu kommt, daß die Neigung, ärztliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Das System wird sich natürlich verändern müssen. In vielen Bereichen haben wir bereits Rationierungen eingeführt, um die Kosten in Grenzen zu halten. Ich denke hier etwa an den Zahnersatz. Rationierung kann es in vielen Bereichen geben. Man könnte jedes nicht unbedingt notwendige Medikament grundsätzlich streichen. Wie weit das gehen wird, daß der Staat nur noch das Allernotwendigste bezahlt, ist noch unklar. Und die Frage ist auch, wo ist die Grenze?

die Furche: Wird die Frage, wen oder was Ärzte künftig behandeln sollen, wenn das Geld nicht für alle reicht, wichtig werden?

Felderer: Das ist ein großes Thema und wird ein noch viel größeres werden. Etwa die Frage, ob man sehr teure Operationen an Patienten, die über 70 sind, durchführen soll. In allen Ländern wird das diskutiert. Das ist einfach eine Frage des zunehmenden Kostendrucks und der steigenden Unwilligkeit der Bevölkerung, diese Kosten zu übernehmen, weil sich das natürlich auf die Lohnkosten schlägt. Die Gemeinschaft ist nicht bereit, zu viele Lasten zu tragen, denn die Lasten sind bereits sehr, sehr hoch. Sie waren noch nie auch nur annähernd in dieser Größenordnung wie heute. Und die Aussichten für die nächsten 20, 30 Jahre sind ja nicht gerade gut.

die Furche: Wie kann dann unser Gesundheitssytem in 30 Jahren noch funktionieren?

Felderer: Wenn es möglich wäre, den Beitragssatz bis dahin um rund 40 bis 50 Prozent zu erhöhen, dann gibt es kein Problem. Doch wird sich gleichzeitig auch der Beitrag zur Pensionsversicherung fast verdoppeln. Insgesamt bedeutet das eine wesentliche Mehrbelastung an Steuern und Abgaben. Ich bin mir ganz sicher, daß dies vom Steuerzahler nicht akzeptiert wird. Entweder die jungen Menschen wandern dann aus, oder sie werden dagegen rebellieren. Die Maßstäbe stimmen nicht mehr. Von den Beiträgen, die heute ein junger Mensch einzahlt, wird er nicht einmal die Hälfte sehen. Man muß die Gerechtigkeitsfrage auch für junge Menschen stellen, nicht nur für Pensionisten. Das gegenwärtige System ist ungerecht zu Lasten der jungen Menschen. Es ist daher notwendig zu überlegen, in welchen Bereichen es Möglichkeiten gibt, Dinge zu verändern. Und aus meiner Sicht ist das beim Pensionssystem sehr viel eher möglich als im Gesundheitsbereich. Man darf ein gewisses Maß, das noch tolerierbar erscheint, nicht überschreiten. Sonst wird unser Sozialsystem sehr explosiv. Wenn man die Beitragssätze für das Gesundheitssystem erhöht, muß man das eben auf Kosten anderer Bereich machen. Im Bereich der Alterssicherung gibt es Rezepte. Es ist aber klar, daß das mit Tabuisierung und kleinen Scheinreformen nicht zu bewältigen ist.

die Furche: Denken Sie, daß ein Prozeß der Entsolidarisierung beginnt, der bis zur allgemeinen Befürwortung von Euthanasie führen kann?

Felderer: Das glaube ich nicht, davon sind wir Lichtjahre entfernt. Aber ich glaube schon, daß es eine Entsolidarisierung geben wird.

die Furche: Beispielsweise insofern, daß Menschen, die keinen Sport betreibe, Rauchen, übergewichtig sind oder zuviel Alkohol trinken, höhere Versicherungsprämien zahlen müssen?

Felderer: Das gibt es ja teilweise heute schon. Das ist auf der ganzen Welt inzwischen üblich. Das halte ich auch nicht für ungerecht.

die Furche: Sind Beitragserhöhungen die einzige Möglichkeit?

Felderer: Etwas Luft dürfte im Gesundheitssystem noch sein und man könnte Kosteneinsparungen erzielen, die doch beträchtlich sind. Wir wissen beispielsweise seit langem, daß ein Großteil der Patienten über den ambulanten Bereich abgewickelt werden könnte. Dort wird der Patient um vieles günstiger, um einen Bruchteil der Kosten versorgt. Er bekommt im Grunde genau dieselbe Leistung, als wenn er in einem Krankenhaus mehrere Tage gepflegt werden würde und dort große Kosten verursacht. Fachärzte sind ein weiterer Punkt. Der Hausarzt, der früher eine große Rolle gespielt hat, hat heute wesentlich an Bedeutung verloren. Die Patienten gehen direkt zum Spezialisten, weil sie zu wissen glauben, welche Krankheit sie haben. Tatsächlich war der Hausarzt derjenige, der den Patienten ganzheitlich gesehen hat und vieles kostengünstiger abgewickelt hat. Wenn jemand gleich zum Internisten geht, wird er dort mit teuren Maschinen untersucht, denn der Internist ist bis zu einem gewissen Grad auch gezwungen, seine Geräte einzusetzen. Der Arztbesuch, der eigentlich ein kleine Angelegenheit hätte sein können, wird zu einer ungeheuer teuren Geschichte, die natürlich die Gemeinschaft der Versicherten belastet. Ich glaube, der Zugang zum Gesundheitswesen ist problematisch geworden.

die Furche: Wie könnte man noch Kosten im Gesundheitswesen einsparen?

Felderer: Wir haben in Österreich eine relativ starke Planungskomponente. Es gäbe verschiedene Elemente, die in Richtung Marktwirtschaft gehen, etwa Selbstbehalte, wie das bei uns bereits bei Rezepten für Medikamente der Fall ist. Das könnte man auch für Arztbesuche einführen. Der Selbstbehalt dient nicht nur dazu, einen Teil der Kosten abzudecken, sondern der Selbstbehalt soll auch das Verhalten des Patienten ändern. Er wird dadurch zum Nachdenken gezwungen, ob eine Behandlung tatsächlich notwendig ist. Es gibt in Österreich Vorbehalte gegen einen stärkeren Selbstbehalt. Man befürchtet, daß dann Menschen mit geringerem Einkommen nicht zum Arzt gehen. Ich glaube aber, daß wir in gewissem Umfang um Selbstbehalte nicht herum kommen werden. Vielleicht kann man sie nach dem Einkommen staffeln. Was eine gesundheitliche Leistung kostet, sollte dem Patienten klar gemacht werden. Dort wo es Selbstbehalte gibt, beispielsweise in den USA, sind sie durchaus erfolgreich.

die Furche: Also etwas mehr Marktwirtschaft?

Felderer: Ich möchte das etwas ausführen. Wir können das Gesundheitswesen nicht ohne weiteres dem Markt anvertrauen. Nicht deshalb, weil es dann eventuell Menschen gibt, die sich das Gesundheitssystem nicht mehr leisten könnten, das wäre ein zusätzliches Problem. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, daß der Nachfrager, also der Patient, nicht weiß, was er nachfragen soll. Der Patient kommt zum Arzt und will wissen was ihm fehlt. Der Arzt rät ihm zu bestimmten Therapien. Der Patient kann aber nicht beurteilen, wieviel er eigentlich davon benötigt. Das wäre jedoch das entscheidende an einem freien Markt. Daher glaubt niemand, daß dieser Bereich völlig dem Markt überlassen werden kann. Auf der anderen Seite weiß man natürlich von den ehemaligen kommunistischen Staaten, daß eine völlig starre Planung auch nicht geht. Es ist sinnvoll, wenn etwas Wettbewerb zwischen den Ärzten und sogar den Krankenkassen besteht. Wir sind immer auf der Suche nach einem optimalen Ordnungszustand in diesem Bereiches. Der ehemalige deutsche Gesundheitsminister Horst Seehofer hat einmal gesagt, daß das Gesundheitssystem immer eine Baustelle bleiben wird. Und ich glaube, das ist richtig. Wir werden immer herumexperimentieren. Die Frage, wie wir die Kosten in Grenzen halten, begleitet uns schon seit Jahren. Es sind verschiedene Rezepte im Umlauf, die teilweise sogar erfolgreich sind. Aber es kann niemand sagen, das ist das Rezept, mit dem wir künftig das Gesundheitswesen auf der ganzen Welt organisieren, denn so geht es am besten. Es gibt unter Experten keinen Konsens darüber, wohin diese Reise gehen sollte.

die Furche: Ein Patentrezept, wie das Gesundheitssystem in Zukunft besser finanziert werden kann, gibt es also nicht.

Felderer: Nein. Wir können im Gesundheitsbereich nur ausprobieren. Aber niemand kann sicher sein, daß Konzepte auch funktionieren. Ein Beispiel ist die letzte Krankenhausreform, die ein wichtiger Schritt war. Seitdem wird nur noch nach Leistungen bezahlt und nicht mehr danach, wie lange ein Patient im Krankenhaus liegt. Diese Experiment mißlingt vielleicht. Das wäre aber sehr schade, denn es ist ein Versuch, mehr Effizienz in dieses System hineinzubringen.

die Furche: Etwas mehr Wettbewerb würde aber dem österreichischen Gesundheitssystem gut tun?

Felderer: Wettbewerb würde bedeuten, daß sich der Arzt um den Patienten besonders bemüht, ihm das gibt, was viele Patienten heute bei Ärzten vermissen, nämlich persönliche Zuwendung und Interesse. Es gibt aber andererseits wiederum die Beobachtung, besonders in Deutschland, daß die Häufigkeit von Krankheiten mit der Ärztedichte zunimmt. Denn Ärzte in einer Wettbewerbssituation untersuchen ihre Patienten genauer. Und dann stellen sie fest, daß eventuell noch eine zusätzliche Krankheit vorliegt und schicken den Patienten zum Internisten. Der Internist wiederum schickt den Patienten zur Gewebeentnahme und so weiter. Vielleicht findet man auch tatsächlich etwas. Aber es ergeben sich Untersuchungsketten, die gleich sehr viel mehr kosten. Die Frage ist also, ob mehr Wettbewerb tatsächlich bei der Kostenersparnis helfen kann. Einfach sind diese Fragen nicht zu beantworten.

Das Gespräch führte Monika Kunit.

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