Europaweit werden in zehn Jahren 230.000 Ärzte fehlen. Schon jetzt müssen Spitäler und Länder um ihr Personal konkurrieren. Auch Österreich ist von der Abwanderung betroffen.
Rund 600 Ärzte hat Simone Kepp in ihrer Kartei. Psychiater aus Rumänien sind darunter, Neurologen aus dem Iran und Uni-Absolventen aus Österreich. Kepp ist Geschäftsführerin von Provideunion, einer deutschen Personalvermittlungsagentur für Ärzte. Seit vier Jahren versorgt sie deutsche Krankenhäuser mit Personalnachschub und verhilft ausländischen Ärzten zu Gehalts- und Karrieresprüngen. Ein bis zwei Monatsgehälter zahlen die Krankenhäuser für eine erfolgreiche Vermittlung, das Geschäft läuft gut. "Wir hatten gerade eine deutsche Ärztin, die in Deutschland eine Stelle suchte. Ohne ein einziges Vorstellungsgespräch hatte sie auf Anhieb sechs Zusagen“, erzählt Kepp. Deutsche Ärzte sind Mangelware, und das Angebot wird in Zukunft noch knapper. In zehn Jahren werden in der Europäischen Union 230.000 Ärzte fehlen, schätzt die EU-Kommission. Schon jetzt findet eine europäische Ärztewanderung satt. In Großbritannien kommen bereits 47 Prozent der Ärzte aus dem Ausland, in Belgien jeder vierte Arzt. In Rumänien hingegen wandern zehn Prozent der Mediziner in westeuropäische Länder ab. Die Mediziner-Migration geht zu Lasten der ärmeren Länder, die nicht konkurrieren können.
Harte Suche nach Nachfolgern
Auch Österreich ist davon betroffen. Mit 1,5 Allgemeinmedizinern pro 1000 Einwohner ist die Ärztedichte zwar deutlich höher als der OECD-Schnitt von 0,9. Aber die Hälfte der niedergelassenen Kassenärzte ist älter als 55 Jahre. Diese Gruppe wird innerhalb der nächsten zehn Jahre das Pensionsalter erreicht haben. Und es kommen nicht genug Junge nach.
Schon jetzt gibt es Engpässe: Kassenstellen sind schwerer zu besetzen, nicht nur in entlegenen Gebieten, sondern immer öfter auch in Städten. Zum Jahreswechsel etwa waren zwei Stellen für Allgemeinmediziner mit Gebietskrankenkassenvertrag in Innsbruck und Salzburg trotz mehrmonatiger Ausschreibung nach wie vor unbesetzt. Und immer weniger Jungmediziner entscheiden sich, eine Kassenordination zu eröffnen. In den Spitälern gibt es große regionale Unterschiede. In ländlichen Regionen herrscht bereits jetzt ein akuter Ärztemangel. In niederösterreichischen Spitälern fehlen Turnusärzte. Und in Bregenz ist die Abteilung für Interne Nachsorge am Sanatorium Mehrerau zur Zeit geschlossen: Für die seit 1. Jänner pensionierte Leiterin wurde bis jetzt noch kein Nachfolger gefunden.
Attraktive Angebote im Ausland
Ein nüchterner Blick auf die Zahlen scheint keinen Anlass zur Sorge zu geben. Die Zahl der Ärzte in Österreich ist in den letzten 20 Jahren um 73 Prozent gestiegen. Aktuell gibt es 40.672 Ärzte. Sind das genug? Ganz genau lässt sich das nicht sagen, aussagekräftige Erhebungen dazu gibt es keine. Seit rund eineinhalb Jahren wird an einer Ärztebedarfsstudie gearbeitet. Die Grundsteine stehen, heißt es im Gesundheitsministerium. An einem gemeinsamen Fazit feilen Gesundheits-, und Wissenschaftsministerium, Ärztekammer und Hauptverband noch. Erwiesen ist jedenfalls, dass viele, die ein Medizinstudium beginnen, später nicht als Ärzte arbeiten. Die hohe Arbeitsbelastung, extreme Dienstzeiten, lange Wartezeiten auf Ausbildungsplätze und die fehlende Familienverträglichkeit sorgen dafür, dass viele Ärzte in Österreich dem Gesundheitswesen nicht auf Dauer erhalten bleiben. Oder ins Ausland abwandern.
"In Schweden arbeitet man mit mehr Urlaub und kürzeren Dienstzeiten um das selbe Gehalt. Und bessere Kinderbetreuung gibt’s auch“, sagt Helmut Krönke. Der 29-jährige Wiener spielte schon während des Medizinstudiums mit dem Gedanken auszuwandern, lernte sogar Schwedisch. Weil er dann doch eine Ausbildungsstelle als Kinder- und Jugendpsychiater am AKH bekam, blieb er in Österreich. "Das war ein Glücksfall“, sagt er heute. Krönke arbeitet im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche, oft sind es noch mehr. Bei Nachtdiensten ist er 32 Stunden am Stück im Dienst. Als Assistenzarzt bekommt er dafür 2400 Euro brutto im Monat. "Man kann sich das Gehalt zwar mit Nacht- und Wochenenddiensten aufbessern - aber das hat seinen Preis.“ Privatleben und die eigene Gesundheit bleiben dabei nicht selten auf der Strecke. Dazu kommt eine unsichere Zukunft. Wie viele junge Ärzte im AKH arbeitet er seit drei Jahren mit befristeten Verträgen, hüpft von einer Karenzstelle zur nächsten (siehe Interview rechts). Viele zieht es deshalb weg.
Rund 2500 österreichische Ärzte arbeiten zurzeit in Deutschland. Mit großem Abstand folgen England, Schweiz, Schweden und Amerika. Die jährliche Zuwachsrate der Ärzte-Abwanderung liegt bei zwölf Prozent. "Um hochqualifizierteres Personal in den Spitälern zu halten, brauchen wir attraktivere Arbeitsbedingungen“, sagt Ärztekammer-Präsident Walter Dorner. "Dazu gehört die Entlastung von administrativen Tätigkeiten. Reformen sind auch bei den Arbeitszeiten dringend notwendig. Derzeit sind 70 bis 80 Wochenstunden Standard.“
Bessere Perspektiven für Junge
Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird in Zukunft eine noch größere Rolle spielen. Die Medizin wird zunehmend weiblich, zwei Drittel der Turnusärztinnen sind bereits Frauen. "Wir brauchen familienfreundliche Arbeitszeiten. Außerdem ist die Einrichtung von Kinderbetreuungsstätten zu überlegen, wie sie in manchen deutschen Spitälern bereits existieren“, sagt Dorner.
Auch Gottfried Haber, Volkswirt an der Universität Klagenfurt, ist überzeugt: "Es bräuchte bessere Perspektiven und durchgängige Ausbildungswege, um dem strategischen Ärztemangel entgegen zu wirken.“ Dass ein Viertel der Medizin-Studenten in Österreich aus dem Ausland kommt, aber nur wenige nach der Ausbildung hier arbeiten, sieht er grundsätzlich nicht als Nachteil: "Es ist gut, wenn wir Know-How exportieren. So könnte Österreich zum Medizin-Mekka für betuchte Patienten werden.“ Wenn die Märkte im Gesundheitsbereich nämlich richtig funktionieren würden, könnte man ein Mehr an Nachfrage nicht nur als Kostenfaktor, sondern als Beschäftigungsmotor und wichtigen Beitrag zur Wertschöpfung empfinden. "So könnte Österreich tatsächlich zum Medizin-Exportland werden“, sagt Haber. Vorerst exportiert Österreich aber vor allem Mediziner.
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