6978163-1986_01_15.jpg
Digital In Arbeit

Viele Doktorhüte, wenig Arztegüte

19451960198020002020

Weder „numerus clausus" noch „numerus selectus" noch lange Wartezeiten können die Medizinerschwemme ' langfristig stoppen. Mit der Quantität sinkt aber die Qualität.

19451960198020002020

Weder „numerus clausus" noch „numerus selectus" noch lange Wartezeiten können die Medizinerschwemme ' langfristig stoppen. Mit der Quantität sinkt aber die Qualität.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Ärztelawine rollt. Jährlich verlassen weit mehr Jungmediziner die Universitäten, als tatsächlich benötigt werden. Zuwenig Ausbildungsplätze und zuwenig zur Verfügung stehende Arbeitsplätze sind die Folge. Ist also der freie Zugang zum Medizinstudium ein demokratischer Luxus, den man sich im Interesse der zu-

künftigen jungen Ärzte, aber auch der Patienten nicht mehr wird leisten können? Das Problem des Medizinernachwuchses war das zentrale Thema der Konsultativtagung der Ärztevertreter aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, die Ende 1985 in Wien stattfand.

Uberfüllte Praxen, oft wochenlange Wartezeiten, um bei einem Facharzt (mit Krankenkasse) einen Termin zu bekommen — für den Durchschnittspatienten ist das Problem der drohenden Ärzteschwemme meist noch nicht sichtbar. Die Folgen aber werden, so warnen Standesvertreter, nicht nur die Jungmediziner durch Arbeitslosigkeit treffen, sondern auch die Patienten — schlechter ausgebildete Ärzte werden auf sie „losgelassen".

Es handelt sich dabei um ein Problem, vor dem die Ärztekammer schon seit Jahren warnt, das aber von Politikern bislang zu wenig beachtet wurde und das

zwar sowohl in Osterreich als auch in Deutschland und der Schweiz vorhanden ist, von dem aber, so Ärztekammerpräsident Richard Piaty, Österreich am stärksten betroffen ist.

Die Zahlen sprechen für sich: Die heimischen Universitäten verlassen pro Jahr 1600 bis 1700 Promoventen, denen aber nur 900 Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Und nur 600 Stellen werden pro Jahr frei. Die Folge: Wartezeiten für Jungmediziner auf einen Ausbildungsplatz bis zu

zwei Jahren und arbeitslose Ärzte, da nur eine begrenzte Zahl an Kassenstellen und Arbeitsplätzen in Spitälern zur Verfügung stehen.

Die Warnungen werden nun auch österreichweit gehört, die Zeit der Beruhigungsparolen ist vorbei. Denn immerhin kostet die Ausbildung eines Arztes bis zu 2,5 Millionen Schilling, handelt es sich beim Medizinstudium doch um das teuerste aller Hochschulstudien. „Im Gegensatz zu manchen geisteswissenschaftlichen

Studienrichtungen ist das Medizinstudium ein Ausbildungsfach, kein Bildungsfach. Der erlernte Beruf muß unbedingt ausgeübt werden, sonst hat der junge Mediziner spätestens nach fünf Jahren den Anschluß vollkommen verloren", sagt Piaty. Er ist zwar „Doktor der gesamten Heilkunde", aber kein einsatzfähiger Arzt.

Noch ein weiteres Problem bereitet den österreichischen Ärztevertretern Sorgen: Die heimischen Mediziner sind drauf und dran, ihren guten Ruf zu verlieren. Die Quantität geht bei den auszubildenden Jungärzten auf Kosten der Qualität. Das Niveau sinkt, wie die schlechten Ergebnisse österreichischer Mediziner bei Facharztprüfungen in Kanada zeigten.

Schließlich wirkt sich aber die zuwenig intensive praktische Ausbildung negativ auf die Patienten aus. Doch einen simplen „numerus clausus" zu propagieren, scheint auch nicht die Patentlösung zu sein, wie das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigt. Denn auch dort hat sich, wie Carsten Vilmar, Vertreter der deutschen Ärzte bei der Wiener Tagung, berichtete, die Zahl der Ärzte seit 1960 verdoppelt, und die Hochschulen bilden noch immer eine weit höhere Zahl an Ärzten aus, als in Zukunft benötigt werden, obwohl dort schon seit Jahren der Zugang zu den Unis geregelt wird.

„Der numerus clausus wird nur an den Abiturnoten und den freien Hörsaalplätzen bemessen. Für

eine solide praktische Ausbildung stehen zuwenig Patienten zur Verfügung, das ergibt ein Praxisdefizit für später, und die Patientenversorgung leidet", kritisiert Vilmar die Situation in der Bundesrepublik. Selbst die Krankenkassen befürchten bereits eine zuwenig qualifizierte Betreuung.

Auch die Schweiz hat mit diesen Problemen zu kämpfen. Jährlich gibt es 1200 Studienabschlüsse, nach zwei Jahren hat sich diese Zahl aber - durch verschärfte Prüfungsbedingungen - um rund ein Viertel reduziert. „Den 900 bis 950 Absolventen pro Jahr stehen aber nur 250 bis 300 aus dem Beruf ausscheidende Ärzte gegenüber", berichtete Karl Zimmermann aus der Schweiz. Zwischen 1980 und 2000 wird sich die Zahl ihrer Ärzte verdoppeln, rechnen die Eidgenossen. Und das trotz „numerus selectus", wie die verschärften Studienbedingungen umschrieben werden. Denn in der Schweiz dürfen Studenten eine Prüfung nur zweimal wiederholen, während das an den heimischen Universitäten bis zu fünfmal möglich ist.

Ein Patentrezept gibt es aber, wie der Blick über die Grenzen und die unterschiedlichen Situationen zeigt, nicht. Der bremsende Hebel muß aber, darüber besteht kein Zweifel, schon am Beginn des Studiums oder in den ersten Phasen angesetzt werden.

Von der Ärzteschaft her sieht man eine Möglichkeit durch eine Änderung des Kassensystems — man könnte künftige Verträge zwischen Arzt und Kassa befristen.

Gibt es überhaupt noch zukunftsträchtige Arbeitsgebiete für Mediziner? Eine neue Studie aus der Schweiz zeigt immerhin einige Bereiche, in denen noch Bedarf an Ärzten besteht: in der Arbeitsmedizin, in der Sozialmedizin und auf dem Gebiet der Medizinischen Psychologie.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung