Gesundheitspolitik ohne Rezept

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Die Ärzte treten in den Streik - gegen die Kassensanierungsreform. Geht es um die Freiheit des Arzt-Berufes oder nur um Macht? Drei Ärzte, viel Ärger und ebenso viel Solidarität.

Der erste Weg führte die junge Ärztin zum Statistischen Zentralamt: Welche Wiener Bezirke sind im Wachsen, so die seltsam anmutende Frage einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Doch seltsam ist die Frage nur auf den ersten Blick. Vor neun Jahren wollte Andrea Taut nach langer Facharztausbildung ihre eigene Praxis eröffnen. Das begehrenswerte Ziel: ein Kassenvertrag bei der Wiener Gebietskrankenkasse, der Absicherung versprach. Doch noch ehe sie einen Platz für ihre künftige Ordination hatte, fand sie sich auf einer langen Warteliste wieder - mit ungewisser Wartedauer.

Also wollte es Taut als Wahlärztin probieren, was eben penibler Vorbereitung bedurfte, schon allein wegen des hohen Bankkredits. Nicht unerheblich dabei: der Standort der Praxis, bei dessen Auswahl die Statistiker von Nutzen waren; und recht behielten. Also eröffnete die heute 44-jährige Fachärztin im wachsenden und ärztlich nicht überversorgten 22. Bezirk ihre Praxis, die nach mühsamen ersten Jahren heute als Wahlarztpraxis floriert. Auf den Kassenvertrag will Taut nun verzichten. Sie betont, auf keinen Fall ein "Paradebeispiel" zu sein. Sie habe Glück gehabt, dass ihr Mann sie in den dürren Jahren finanziell unterstützte. Viele andere Wahlärzte müssten sich mit Nebenjobs über Wasser halten.

Doch nun ist auch der ersehnte Vertrag nicht mehr mit den rosigsten Aussichten verbunden. Mit ein Grund: die höchst umstrittene Reform zur Sanierung der Krankenkassen, welche die Ärzteschaft durch Streiks noch zu Fall bringen will.

"Es geht um Freiheit"

Am 16. Juni sollen alle 15.391 Ordinationen in ganz Österreich geschlossen bleiben, nur ein Notdienst, wie an Wochenenden, wird Patienten versorgen. Fruchtet dieses Signal nicht, sollen weitere Streiktage und eine Demonstration folgen, um die Parlamentarier, die über die Regierungsvorlage abstimmen sollen, zu einem Nein zu bewegen. Die Argumente der Ärztekammer: Der freie Beruf Arzt müsse im Rahmen der Selbstverwaltung und Selbstkontrolle erhalten bleiben, so Ärztekammer-Präsident Walter Dorner. Die Vorhaben der Regierung würden die bewährte medizinische Versorgungsstruktur im niedergelassenen Bereich auf den Kopf stellen - mit großen Folgen für die Patienten. Der größte Stein des Anstoßes: Die Evaluierung der Ärzte nach fünf Jahren durch das Ministerium und nicht mehr durch die Ärztekammer selbst. Damit besteht laut Standesvertretung die Gefahr, dass der Staat hinter dem Deckmantel von Qualität den ökonomischen Druck verstärkt und damit in Behandlungsstandards eingreift. Die Freiheit des Arztes in Bezug auf seine Verantwortung gegenüber dem Patienten sei bedroht, befürchtet die Ärztekammer.

Die Regierung, allen voran Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky, reagierte mit Unverständnis auf den Streikbeschluss. Sie räumte zwar im Kurier Kommunikationsprobleme ein, bekräftigt aber, den Ärzten entgegengekommen zu sein und inhaltlich richtig zu liegen. Bleibt die Frage, wie wird die Bevölkerung auf geschlossene Ordinationen reagieren, wem wird letztlich der Schwarze Peter zugeschoben?

Front gegen Reform

Doch die Ärzte sind nicht allein in ihrer Gegenwehr. Der ÖVP-Flügel ÖAAB droht mit einem Nein im Parlament, ebenso die oberösterreichischen SP-Abgeordneten, die Opposition ist dagegen, auch Bundesländer deponierten ihre Ablehnung. Experten, allen voran Gesundheitsökonomen, sind ebenso gespalten: Für Christian Köck ein erster Schritt zu einer umfassenden Umstrukturierung des Systems, andere bezweifeln das große Einsparungspotenzial. Für Patientenanwalt Gerald Bachinger geht die Reform ebenso in die richtige Richtung, wenn auch mit einigen Mängeln (siehe Seite 3).

Die Folgen der Reform, obwohl noch nicht Gesetz, werden bereits messbar, zumindest wenn es nach der Ärztekammer geht: Laut einer Market-Umfrage von Ende Mai im Auftrag der Ärztekammer wollen nun 23 Prozent der befragten Turnusärzte "ganz und gar nicht" einen Kassenvertrag anstreben, 38 Prozent "eher weniger", nur fünf Prozent sagen "auf jeden Fall". Befragt wurden 650 Turnusärzte. Ob diese Ärzte auch genau über den tatsächlichen Inhalt der Reformvorlage informiert waren und wie viele Turnusärzte vor einem Jahr noch einen Kassenvertrag als ihr großes Ziel ansahen, wurde allerdings nicht erhoben.

Für Christian Frank, zuständig für Kassenverträge bei der Wiener Ärztekammer, sind diese Umfrageergebnisse keine Überraschung: Derzeit seien Praxenübergaben gestoppt, die Bewerbungen um einen Kassenvertrag ließen deutlich nach. In Niederösterreich konnten in diesem Jahr schon einige Kassenstellen nicht nachbesetzt werden. Die Gründe laut Ärztekammer: Zunehmend schlechtere Arbeitsbedingungen im Verhältnis zu Ausbildung, Verantwortung und Arbeitseinsatz.

Derzeit gibt es in Österreich 37.729 Ärzte und Ärztinnen, davon knapp 7000 Kassenärzte. Die Ärztekammer moniert die Reduktion der Verträge; de facto werden in Wien keine neuen Verträge mehr geschaffen, sondern nur pensionierte Stellen nachbesetzt. In Wien gab es im Jahr 2000 835 Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag, Anfang des Jahres 815; vor acht Jahren waren 963 Fachärzte in Wien tätig, nun 933, also eine leichte Reduzierung.

Mehr oder weniger Ärzte?

In manchen Regionen bzw. Fachrichtungen sei die Vertragszahl jedoch leicht erhöht worden, so der Hauptverband. Der Rechnungshof empfahl im Februar nach einem Vergleich zwischen Wiener und oberösterreichischen Krankenkasse eine weitere Senkung der Wiener Facharztdichte. Das kann Andrea Taut nicht nachvollziehen, sie beklagt die seit Jahren schleichende Kürzung im niedergelassenen Bereich und nennt ein Beispiel aus ihrer Fachrichtung:

Der Fachbereich Neurologie und Psychiatrie wurde vor wenigen Jahren getrennt. Eine Praxis kann nur mehr unter einem dieser Bereiche geführt werden. Wird nun eine Praxis, die noch beide Bereiche umfasst, wegen Pensionierung übergeben, vergibt die Krankenkasse aber nur für eine Fachrichtung einen Kassenvertrag. Eine Stelle sei somit stillschweigend verloren gegangen, beklagt die Fachärztin. Taut, die in der Ärztekammer die Wahlärzte vertritt, zeigt sich solidarisch mit allen niedergelassenen Kollegen. Ihre Sorge: Dass Kassen- und Wahlärzte zunehmend noch kosteneffektiver arbeiten müssten und mit noch mehr Administration überhäuft würden. Taut fürchtet weiters, dass auch das Wahlarzt-System verändert werden könnte, sprich die Krankenkassen weniger refundieren könnten als bisher. Es gab erste Signale in diese Richtung. Zur Zeit werden 80 Prozent dessen, was die Kasse für eine Leistung bezahlen würde, an den Wahlarzt-Patienten refundiert.

Dem Sparstift bereits zum Opfer gefallen, ist die Kassenstelle des Internisten Heinz Ingerle, der mit gut 60 Jahren in Pension ging und seine Praxis im 12. Bezirk gut übergeben wissen wollte. Doch daraus wurde nichts. Es gab keinen Kassenvertrag für seine Praxis. Die Begründung: Zu wenige Patienten, was Ingerle nicht nachvollziehen kann. Kurz zuvor ist laut Ingerle ein weiterer Kollege in der Nähe in Pension gegangen, auch dessen Praxis wurde nicht nachbesetzt. Die übrigen Internisten würden über zu volle Wartezimmer klagen. "Das interessiert die Gebietskrankenkasse wenig, aber das ist heutzutage in Firmen nicht anders." Überall herrsche Kostendruck. "Ich weine dem nicht mehr nach", sagt er. Was Ingerle aber dennoch wurmt, ist der finanzielle Schaden, da seine Ordinationsräume nun unter ihrem Wert verkauft werden müssten. Auf die Ärztekammer ist er ebenso schlecht zu sprechen wie auf die Gebietskrankenkasse. Die Mitgliedschaft bei der Ärztekammer habe ihm keine Vorteile gebracht. Dennoch zeigt er sich solidarisch mit der Standesvertretung gegen die jetzige Reform. Die Maßnahmen seien nicht zielführend, sagt er.

"Wie heiße Kartoffel"

Glück gehabt hat Landarzt Anton Brachinger. Der 60-jährige Allgemeinmediziner im niederösterreichischen Frankenfels wird im nächsten Frühjahr seine Praxis an den Sohn übergeben. Früher gang und gäbe, heute eine Ausnahme. Denn seit 2002 werden Kassenverträge angepasst an eine EU-Richtlinie nach einem strikten Punktesystem vergeben. Punkte sammelt, wer sich zusätzlich qualifiziert oder Vertretungsdienste macht. Verwandtschaft bringt freilich keinen Punkt mehr. Wie ist es dann noch möglich? Der Sohn hat sich laut Brachinger "ins Zeug gelegt, sehr viele Punkte gehabt", und außerdem: es gab keinen weiteren Bewerber für die Stelle im 2000-Einwohner-Ort.

Auch Brachinger erklärt sich mit der Ärztekammer solidarisch, er will sich am Streik beteiligen. Eine Evaluierung nach fünf Jahren durch das Ministerium wäre schlimm, meint er und begründet dies mit einem Beispiel: Er betreut auch ein psychiatrisches Heim, dessen Bewohner viele teure Medikamente verschrieben bekommen, die Brachinger von seiner Hausapotheke zustellt. Die Krankenkasse moniert, dass er bei den Verschreibungen über den Durchschnitt liege. Es bestehe die Gefahr, dass Heime wie dieses "wie eine heiße Kartoffel" herumgereicht würden, gibt der Landarzt zu bedenken. Würden Verträge nur nach externer Evaluierung verlängert, bedeute das de facto noch mehr Einsparungsdruck auf Kosten Alter und chronisch Kranker. "Ich schaue eh schon, dass ich kostengünstig verschreibe", versichert er. Wie seine Kollegen zeigt sich auch Brachinger skeptisch gegenüber der Aut-Idem-Regelung: Es sei jetzt schon so schwierig, den Leuten, die ein Medikament gewohnt sind, Generika zu verschreiben. "Wenn das kommt, gibt es einen Aufstand der Patienten", ist er sich sicher. Zunächst gibt es aber den Aufstand der weißen Kittel.

Kalender

16. Juni 2008: Warnstreik der Ärzte.

17. Juni 2008: NR-Sozialausschuss berät Gesundheitsreform.

26 ./27. Juni 2008: Falls es keinen Kompromiss gibt, neuer Streik.

7./8./9. Juli 2008: Beschließt Parlament die Reform, streiken die Ärzte.

Die Ärztekammer will vor dem 17. Juni Gespräche mit Parlamentarieren führen. Bleiben diese erfolglos, folgen weitere Streiks.

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