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Lehrpraxis - bitte warten

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Seit einem Jahr gibt es für Turnusärzte die Möglichkeit, einen Teil der Ausbildung in sogenannten „Lehrpraxen" niedergelassener Ärzte zu absolvieren. Im folgenden eine erste Zwischenbilanz.

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Seit einem Jahr gibt es für Turnusärzte die Möglichkeit, einen Teil der Ausbildung in sogenannten „Lehrpraxen" niedergelassener Ärzte zu absolvieren. Im folgenden eine erste Zwischenbilanz.

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Lehrpraxen sollen einerseits Engpässe während der Ausbildung überbrücken helfen, und anderer­seits den Turnusärzten die Mög­lichkeit bieten, durch einen erfah­renen Arzt in dessen Ordination auf ihre Tätigkeit praxis- und pa­tientenorientiert vorbereitet zu werden. Diese Ausbildung hat mindestens 35 Wochenstunden untertags zu umfassen. Seitens des Bundeskanzleramtes werden in Lehrpraxen praktischer Ärzte drei Monate, in Fachlehrpraxen sechs Monate subventioniert. Soweit das Gesetz.

Wie sieht nun die „Praxis der Praxen" seit Inkrafttreten der Novelle aus? Hat dieses Modell sowohl den Jungärzten als auch den „Lehrärzten" Vorteile und Nutzung gebracht?

Die Erfahrungen und Meinungen sind recht unterschiedlich: Laut „Servicestelle für Jungärzte" der Wiener Ärztekammer, wo Listen zur Vermittlung dieser Anstellungs­möglichkeiten aufliegen, ist das Verhältnis von Nachfrage und Angebot gleich 3:1. Es gibt also viel mehr Jungmediziner, die gerne einen Teil ihrer Wartezeit auf den Turnusplatz in der Ordination ei­nes Arztes absolvieren möchten, als Ärzte, die sich als „Lehrer" zur Ver­fügung stellen.

Andrea Kolp von der Servicestel­le: „Das Problem liegt vielleicht dar­in, daß die meisten Ärzte für die Lehrpraxis zusätzlich honoriert werden wollen. Aber der niederge­lassene Arzt bekommt ja nichts dafür, das Geld (derzeit 15.000 Schilling brutto im Monat) be­kommt der Jungarzt selbst aus dem Fonds des Gesundheitsministe­riums." Für ganz Österreich sind pro Jahr 40 Millionen Schilling vorgesehen. Die Bemühungen sei­tens der Ärztekammer, auch den Lehrpraxisleiter extra zu honorie­ren, sind leider gescheitert.

Ein weiteres Argument von Sei­ten der niedergelassenen Ärzte gegen die Einstellung eines Jung­arztes ist seine mangelnde Erfah­rung, die vielen anfänglichen Fra­gen, auch oft die Angst, Patienten durch den jungen Kollegen zu „vergraulen".

Dr. S. K.*), ebenfalls in der Ser­vicestelle beschäftigt: „Ich habe bei einem praktischen Arzt begonnen, aber es nach drei Wochen wieder aufgegeben. Ich habe zu wenig ge­lernt, durfte nur Injektionen geben und .zuschauen'. Aber auch das nicht immer. Wenn ein .wichtiger' Patient kam, wurde ich gebeten, die Ordination zu verlassen."

Andrea Kolp: „Jungärzte werden zu 50 Prozent als Ordinationshilfen und zu 50 Prozent in der Praxis verwendet. Wenn uns das nicht paßt, dann könnten wir ja gehen -denn es warten Hunderte andere das bekommen wir zu hören, wenn wir uns darüber beschweren. Au­ßerdem fehlt ein echter Lernziel-Katalog für uns Turnusärzte."

Ganz anders wird die Lehrpraxis von Monika Brauneck erlebt: „Ich habe im Juli 1990 meine Lehrpra­xis bei einer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin begonnen. Ich kann selb­ständig Patienten untersuchen, eine Diagnose erstellen, die durch die Ärztin bestätigt wird. Sicher wer­den auf diese Art Patienten zwei Mal untersucht, aber erfahrungs­gemäß macht ihnen das nichts aus. Therapieren darf ich nicht. Aber ich mache zum Beispiel Hörprü­fungen, Trommelfellmessungen, erfrage Krankengeschichten... So bin ich für die Ordination eine echte Hilfe."

Positiv sieht auch eine Frauenärz­tin mit einer gutgehenden Praxis (10.000 Patienten!) die Anstellung von Jungärzten: „Sie entlasten mich ungemein, ich erstelle die Diagno­se, die Erklärung der Therapie er­folgt durch die Jungärzte, ebenso Erklärungen über das warum und wie einer Krankheit. Weiters lasse ich meine Jungärzte Nähte ziehen oder Verband wechseln. Diese Hil­festellungen entlasten mich enorm und ich habe dadurch mehr Zeit für Patienten."

Gerhart Tutsch, praktischer Arzt und Lehrpraxisreferent der Wiener Ärztekammer, sieht das Problem von zwei Seiten: „Ein Facharzt mit einer gutgehenden Privatpraxis ist - auch wenn das vom Ministerium nicht gefördert wäre - sicher in der Lage, sich Lehrpraktikanten anzu­stellen. Für einen praktischen Arzt mit Kassenvertrag (Praktische Ärzte sind zu 90 Prozent Vertrags­ärzte der Krankenkasse!) ist eine Entlastung weder finanziell noch zeitlich gegeben.

Erfahrene Ärzte haben ausgewer­tet, daß der Lehrpraxisleiter einer Krankenkassenordination, wenn er einen Lehrpraktikanten bei sich hat, eine Stunde länger für seine Tagesarbeit braucht. Mitten in der Hektik der Praxis müssen Fragen beantwortet werden. Das nimmt viel Zeit. Dazu kommen die Kosten einer eigenen Haftpflichtversiche­rung für den Fall, daß ,er/sie etwas anstellt'. Gerade unsere besten Ärzte nehmen heute keine Lehr­praktikanten mehr, weil ihnen der Kopf und die Zeit dafür fehlt." Tutsch findet diesen Standpunkt zumindest verständlich. Von 800 praktischen Kassenärzten in Wien haben sich bisher nur 60 zur Lehr­praxis gemeldet.

Eine Alternative zum bestehen­den Modell sieht Tutsch so: „Ar­beitslosen Jungärzten sollte man -wie den .Philosophen', ein ganzes Jahr lang das sogenannte .Akade­mikertraining' in Höhe der Arbeits­losenunterstützung zahlen. Das heißt, die Lehrpraxis sollte vor dem Turnus durch das bezahlte Trai­ning ersetzt werden. Jungärzte könnten so in einer Praxis ein gan­zes Jahr lang arbeiten, und wären auf die Art mit der Zeit auch für den Arzt eine echte Hilfe.

Anschließend sollte der Jungarzt drei Jahre lang Turnus machen und . erst dann ein Vierteljahr Lehrpra­xis mit Ius practicandi. Auf diese Weise könnte der Kollege nicht nur

entlastet, sondern zu Ende der Zeit auch bereits teilweise vertreten werden. Lehrpraxis-Ärzte sollten, wie es in England und in den USA üblich ist, den Universitäten unter­stellt sein, und für ihre Lehrtätig­keit mit den Bezügen eines Univer-sitäts-Instruktors entschädigt wer­den."

Jedenfalls war die Idee der Lehr­praxen eine Erfindung der prakti­schen Ärzte. Sie wurde vor 20 Jah­ren in Österreich (erstmalig in Klagenfurt, sechs Jahre später in Wiexi von Tutsch) eingeführt. Man ging von der Erkenntnis aus, daß der Medizinstudent im Rahmen seines Studiums von Fachklinik zu Fachklinik lauter Dinge lernt, die zusammen noch lange nicht das ausmachen, was der praktische Arzt später braucht.

Es fehlt die sogenannte „integra-tive Schau"; der behandelnde Arzt muß gelernt haben, vom Menschen mehr zu verstehen als nur seine Ohren, sein Herz oder die Lunge. Organe sind nur Bestandteile. Wenn man von der inhumanen „Repara­turmedizin" unserer Tage wegkom­men will, muß die Zusammenschau intensiviert werden.

* Name der Redaktion bekannt.

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