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Die Arzte als Partner

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Eine neue Form medizinischer Nahversorgung wird in Wien und Graz erprobt: Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter kümmern sich ganzheitlich um den Patienten.

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Eine neue Form medizinischer Nahversorgung wird in Wien und Graz erprobt: Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter kümmern sich ganzheitlich um den Patienten.

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Das Wartezimmer gleicht einem Cafe und soll wohl auch dessen Funktion erfüllen: Ort der Begegnung, der An- und Aussprache. Der alten Binsenweisheit, daß viele Leute beim Hausarzt neben ihrer Krankheit alles mögliche bereden möchten, wird Rechnung getragen. Schon hier kümmert sich die Kinderschwester, die Krankenschwester oder die Sozialarbeiterin um den Patienten — wenn dieser es wünscht.

Bei der Gruppenpraxis in Wien-Meidling beginnt die Medizin bereits im Wartezimmer. Und weil bekanntlich ungefähr die Hälfte aller Krankheiten psychosomatischer Natur sind, bedeuten solche Gespräche mehr als ein bloßer Plausch bei einer Schale Kaffee.

Ebenfalls in einem Arbeiterbezirk, in Graz-Liebenau, haben die praktischen Ärzte Gustav Mittelbach, Diego Fritsch und Rainer Possert für ihre Zwecke zwei Häuser gemietet und renoviert. Verstärkt von einer Physiotherapeutin und zwei Arzthelferinnen, in Zusammenarbeit mit der Familienberatungsstelle, bieten sie neben ihren • schulmedizinischen Kenntnissen und Fertigkeiten eine bunte Palette alternativer Behandlungsformen an: Akupunktur oder Naturheilmittel, Selbsterfahrungsgruppen oder Yogakurse.

Der neue Hausarzt ist keine Einzelperson mehr. Er steht nicht mehr angesichts überfüllter Wartezimmer unter dauerndem Zeitdruck, geht vorsichtig bis kritisch mit Medikamenten um, wirft in manchen Fällen herkömmliche Therapieformen über Bord. Vor allem aber nimmt er sich die Zeit und hat den Willen, den Patienten als ganzen Menschen zu sehen, der krank ist, und nicht als bloßen

Träger einer kranken Stelle in seinem Körper.

Den Krankenkassen ist es zumindest den Versuch, wert. Ein Blick über die Grenzen zeigt gut funktionierende Gruppenpraxen in Großbritannien, der Schweiz oder der Bundesrepublik. Finanziell kann die Sozialversicherung sogar eine Spur besser aussteigen: Das Vorhandensein ergänzender Beratungs- und Therapiestellen unter demselben Dach und das genaue Eingehen der Ärzte auf ihre Patienten lassen die Zahl der Uberweisungen leicht sinken.

Vorsicht beim Bilanzieren ist derzeit noch geboten. Erst seit Anfang Oktober in Graz, seit Mitte November in Wien sind die Gruppenpraxen hierzulande durchgestartet. Der Weg zur Eröffnungsfeier war ein teilweise recht beschwerlicher: In beiden Fällen standen endlose Diskussionen in der studentischen Initiativgruppe „Kritische Mediziner” am Beginn. Dann die Suche nach Räumlichkeiten. Wiens Gesundheitsstadtrat Alois Stacher wollte die späteren Meidlinger im „Werkstätten- und Kulturzentrum” sehen — im Alternativghetto.

Schließlich die Ärztekammer. Sind es Standesdünkel oder die Angst vor Uberversorgung im jeweiligen Gebiet — was weder in Meidling noch in Liebenau der Fall ist -, Vertreter der Ärztekammer beziehen oft recht vehement gegen die Neulinge Stellung.

Ein Beispiel aus Graz: Wenn Mittelbach, Fritsch oder Possert Ärztenotdienst machen, hinterlassen sie ihre Visitkarten bei den Patienten — damit diese wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Das sei Werbung und deshalb unerlaubt, argumentieren Kammerkollegen und sammeln Unterschriften dagegen.

Das letzte Wort haben die Patienten selbst. Für Neueröffnungen sind die beiden gemütlichen Wartezimmer halbwegs gut besetzt. Zwei Drittel kommen aus der Umgebung, ein Drittel setzt sich aus Neugierigen und „Fans” zusammen. Die Einnahmen der Ärzte und ihrer Mitarbeiter bewegen sich derzeit auf bescheidenem Niveau. In ein bis zwei Jahren werden es vielleicht um die 15.000 Schilling sein, aber für jeden.

Die Patienten, die kommen, kommen gerne. Sie fühlen sich ganz einfach wohl in der Gruppenpraxis, verlieren eventuelle Hemmungen vor Gesprächen mit Sozialarbeitern oder autogenem Training. Die Gefahr einer Aufsplitterung, eines krankenhausähnlichen Betriebes, droht im entscheidenden Punkt nicht: Der Patient bleibt im Normalfall bei ein und demselben Arzt, nur eben unter bedarfsgemäßer Beiziehung einer der nichtpromovierten Mitarbeiter.

Ein triviales Beispiel: Vermutet der Arzt, daß die Magengeschwüre seines Patienten auf dessen familiäre Probleme rückführbar sein könnten, rät er ihm vielleicht, einmal mit der Sozialarbeiterin zu sprechen, die ihn dann eventuell auf eine der Selbsterfahrungsgruppen aufmerksam macht.

Der Patient, der die Möglichkeit hat, bei einem einzigen Arztbesuch umfassend betreut zu werden; der Arzt, der seine Unzufriedenheit als in einer bestimmten Fachrichtung eingeschlossener Gesundheitsarbeiter ablegen kann; Stichwort Sozialmedizin, Stichwort interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Am Rande sei noch das Stichwort Arbeitsplatzbeschaffung vermerkt: Laut bundesdeutscher Studien decken drei Gruppenpraktiker den Markt zweier Einzelärzte ab.

Vor einigen Jahren noch mußten Jungärzte in der Bundesrepublik ein leerstehendes Altersheim besetzen, um die Räumlichkeiten für eine Gruppenpraxis mieten zu dürfen. Der österreichische Weg mag ein anderer sein. Die Zukunft der sanften Gesundheitstechnik hat jedenfalls auch hierzulande begonnen.

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