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Das Übel sitzt tiefer

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Der Konflikt der Ärzteschaft von Wien mit der Wiener Gebietskrankenkasse ist am vergangenen Wochenende in ein neues Stadium getreten. Noch kurze Zeit vorher hatten die Optimisten die Beendigung des nunmehr seit zwei Monaten dauernden vertragslosen Zustands erwartet. Die Prognosen waren nicht ungünstig. Der Sozialminister hatte sich, nach einer langen, allzu langen Wartezeit, endlich bereit erklärt, seine guten Dienste zwecks Vermittlung zwischen den streitenden Partnern anzubieten. Auch der Bundeskanzler hatte dem Vertreter der Ärzteschaft sein wachsendes Interesse an einer baldigen Bereinigung der Affäre bekundet. Viele der Betroffenen — und wer von den 1600 Vertragsärzten und den 1,200.000 Versicherten fühlte sich durch den vertragslosen Zustand nicht betroffen? — hofften nun, die Wendung zum Besseren stehe unmittelbar bevor. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als trügerisch.

Das Angebot der Gebietskrankenkasse, die ehemaligen Vertragsärzte mögen einen Dienttvertrag mit der Kasse abschließen und damit Angestellte, also beamtete Ärzte werden, wurde durch die Sprecher der Ärztekammer schärfstens zurückgewiesen. Man sah in diesem Angebot den klaren Beweis einer unehrlichen Haltung der Kasse während des bisherigen Verlaufs der Verhandlungen und des darauf folgenden vertragslosen Zustands, denn man hat ausgerechnet, daß, falls die Kasse zu diesem ihrem Angebot stehe, die Höhe des für die Bezahlung der Ärzte — vierzehn Monatsgehälter und die noch hinzukommenden verschiedenen Nebenkosten — aufgewendeten Gesamtbetrages beinahe den Aufwendungen im Falle einer restlosen Erfüllung des sogenannten Wiener Programms der Ärztekammer gleichkäme. Die Berechtigung der im Wiener Programm niedergelegten Wünsche nach höherer Honorierung der ärztlichen Leistungen wurde ja seitens der Kasse nie angezweifelt, es wurde nur stets erklärt, die Kasse sehe sich außerstande, die hiefiir notwendigen Mittel aufzubringen. Das sei also eine unwahre Behauptune gewesen, denn siehe, für eine Verbeamtung der Arzte sei das Geld plötzlich da.

Die Argumentation der Ärzte ging aber noch bedeutend weiter. In dem Wunsch, die Ärzte in ein Beamtenschema zu zwingen, erkennen diese einen Versuch, „auf kaltem Weg eine Voll-sozialisierung, ähnlich wie in den östlichen Nachbarstaaten, einzuführen . .. einen freien Berufsstand in Österreich zu beseitigen...“ Diesem Wunsch wollen die Wiener Ärzte auf das äußerste Widerstand leisten.

Die Krise des österreichischen Krankenversicherungssystems wurde in diesem gereizten Wortwechsel vor aller Öffentlichkeit offenbar. Man sah plötzlich wie vielleicht selten zuvor: Hier sprechen die Partner, die man schon gerne am Verhandlungstisch sitzen sehen wollte, nicht die gleiche Sprache. Der grundsätzliche Unterschied in den Auffassungen war den Fachleuten selbstverständlich schon seit jeher klar gewesen. Die Auseinandersetzung spielte sich jedoch meistens in Fachzeitschriften, in den Publikationen der Fachverbände ab. Die Kommentare der Zeitungen ließen oft eine letzte Klarheit vermissen. Die breiten Schichten der Bevölkerung kamen da nicht immer und nicht gleich mit. Nun aber geschah etwas sehr Merkwürdiges — politisch gesehen fast ein Glücksfall: Die Auseinandersetzung erreichte einen Krisenpunkt, an dem plötzlich offenbar wurde, daß sie alle angeht. Nicht nur die Ärzte, nicht nur die Kasse und nicht nur die Patienten, sondern einen jeden Bürger dieses Staates. Ein jeder ist zur Stellungnahme aufgerufen. In dem vertragslosen Zustand mochten bisher manche nur den lokalen Streit, den Honorarkonflikt sehen, eine Begleiterscheinung der Konjunkturentwicklung, eine nur vorläufige, zeitlich begrenzte Krise. Von nun an ist eine solche Verharmlosung der Situation nicht mehr möglich. Und die Therapie muß, will sie mehr als einen Augenblickserfolg erreichen, den Grund des Übels tiefer suchen.

Im Grunde genommen geht es hier um eine Phase des schon seit längerer Zeit einmal latent, einmal offen geführten Kampfes zwischen dem Konzept einer Krankenversicherung nach dem Prinzip der Subsidiarität — nach den Vorstellungen ihrer Gründer und ihrer konservativen Reformer — und dem durch die Sozialisten vertretenen Konzept eines staatlichen Gesundheitsdienstes, eines Volksgesundheitsdienstes mit Volkspensionen und dergleichen. Die Sozialisten haben schon vor geraumer Zeit offen erklärt, zuletzt in ihrem neuen Parteiprogramm im Jahre 1958, daß sie sich im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz keinen Schlußpunkt auf dem Gebiet des österreichischen Sozialversicherungsrechtes sehen, sondern daß sie vielmehr das ganze bisherige System umgestalten wollen. Sie verlangen den allgemeinen Volksgesundheitsdienst. Mit diesem Konzept stehen andersgeartete, vornehmlich durch katholische Sozialpolitiker vertretene Konzepte in einer Auseinandersetzung. Und man kann, vielleicht etwas vereinfachend, aber in Übereinstimmung mit manchen Beobachtern dieser Dikussion auf der konservativen Seite sagen, daß dem Ruf nach dem staatlichen Gesundheitsdienst bisher kaum konstruktive Gegenvorschläge entgegengesetzt wurden. Man konnte vielmehr feststellen, daß die Diskussion da und dort von einer gewissen Sprachverwirrung gekennzeichnet war. Solcherart konnte und kann man also kaum erwarten, daß auf der anderen Seite die Pläne für ein unmittelbares Wirksamwerden des Staates — genauer, der Machtpolitik bestimmter organisierter Interessengruppen — im System der sozialen Sicherung aufgegeben werden, nur weil die Gegner dieser Pläne die staatliche Omnipotenz als „unheilvoll“ ansehen und das Primat der Selbsthilfe hervorkehren möchten. Die Pläne wurden verschoben, aber nie aufgegeben. Inzwischen sprach man von anderem. Und das Unbehagen wuchs.

Einig war man nur in der Feststellung, daß das bisherige System reformbedürftig ist. Der Bundesminister für soziale Verwaltung schrieb erst vor kurzem in einer Broschüre, daß durch die letzte, die neunte Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz im Bereich der Krankenversicherung viele Härten und Unzulänglichkeiten, die sich im Laufe der sechsjährigen Wirksamkeit des Gesetzes ergeben haben, beseitigt worden sind und daß damit das System der Krankenversicherung nunmehr im wesentlichen den Notwendigkeiten entspricht. Trotzdem ist es, meint der Minister weiter, auch seit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes nicht gelungen, „die Beziehungen zwischen den Krankenversicherungsträgern und ihren Vertragspartnern befriedigend zu regeln ... Die augenfälligsten Schwierigkeiten bestehen in den Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Ärzten.“ Man liest interessiert weiter. Umsonst. Der zuständige Minister beschränkt sich im weiteren auf die lakonische Feststellung, daß die Ursachen, aus denen heraus es nicht gelungen ist, die Beziehungen zwischen den Krankenversicherungsträgern und den Ärzten in einer allgemein befriedigenden Form zu regeln, „mannigfach“ seien. „Die eine Seite wirft der anderen vor. zuwenig Verständnis für die eigene Situation aufzubringen; vom Honorierungssystem wird behauptet, daß es eine .leistungsgemäße' Honorierung verhindere ...“ Und der Minister beklagt das „ewige Feilschen um Hono-r^rerhöhungen“.

Als Maßnahme schlägt der Minister eine „organisatorische Zentralisierung im Bereiche der Krankenversicherung“ vor, „zumal auch nur dann eine volle Ausnützung der modernen Buchungsund Büromaschinen möglich wäre...“ Sonst aber hat er für das ganze, weitverzweigte Problem nur Worte der Resignation übrig. Er spricht zum Beispiel davon, daß bisher noch kein Ho-norierungssystem gefunden wurde, das den Wünschen beider Vertragspartner gerecht geworden wäre. „Aber auch die objektiv beste Methode wird zu keiner Beruhigung und Entspannung des Verhältnisses zwischen den Krankenkassen und ihren Vertragspartnern führen, wenn nicht beide Seiten den Willen mitbringen, im Interesse der Versicherten zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit zu kommen.“

Wer diese Worte in der Broschüre „Probleme der österreichischen Sozialpolitik“ liest, wird unschwer die darin zutage tretende Verständnislosigkeit dem eigentlichen Hauptproblem jeder Sozialpolitik gegenüber feststellen, nämlich der Frage gegenüber, wie man die individuellen Wünsche nach erhöhter Sicherheit, die unserer Zeit eigentümlich sind, erfüllen könne, ohne dem anonymen Machtapparat des Staates jedes Recht zur Bewältigung der mit der Gesundheits- und — im weiteren Sinne — der Existenzsicherung zusammenhängenden Aufgaben zuzugestehen. In einer verklausulierten Form wird hier, durch die leicht resignierten Worte des zuständigen Ministers, die Ohnmacht der verantwortlichen Instanzen sichtbar. Die unmittelbar Betroffenen, also die Patienten und die Ärzte, sprechen freilich eine beredtere Sprache.

Das eigentliche Ereignis dieser Tage waren die durch Ratlosigkeit und Verzweiflung, durch das fatale Gefühl des Ausgeliefertseins diktierten, emotional gefärbten Äußerungen dieser Beteiligten und Leidtragenden gewesen. Einem ungeschriebenen Gesetz der Verharmlosung folgend, die vielleicht dem „inneren Frieden“ des Landes dienen sollte, haben diese Äußerungen nur in einem Teil der Presse ungehindert Widerhall, geschweige denn Anklang gefunden. Man scheute offensichtlich vor einer schärfer betonten Kommentierung zurück, da man nicht gerne selber entscheiden wollte, ob nicht am Ende doch die Ärzte „sich verrannt“ haben und ob nicht der vielzitierte Wähler, der „kleine Mann“, anderer Meinung sei und sich gerne widerspruchslos und ohne Hintergedanken unter die Obhut des alle umsorgenden Apparates stelle, wo ja schließlich auch Vertreter ;,beider“ Weltanschauungen, sprich: Koalitionsparteien, wenn auch nicht immer in glücklicher Zweisam-keit, so doch nebeneinander sitzen. Man schaltete also auf Vorsicht.

Wer aber Gelegenheit hatte, in den vergangenen Tagen Ärzten und Patienten, nicht nur ihren offiziellen Sprechern, denen man das „sine ira et studio“ nur ungern glauben will, zu begegnen, der konnte das seltene Schauspiel erleben, wie in einer Grenzsituation die sonst geübte Zurückhaltung dem elementaren Aufbruch der Leidenschaften Raum gibt und die Menschen zu sprechen beginnen. Eine befremdend neue, für die meisten bisher unbekannte Landschaft gewann da allmählich Konturen. Wer wußte schon, wenn er kein Vertragsarzt der Gebietskrankenkasse war, zum Beispiel von den wahren Begebenheiten, die im Vertrag durch die harmlosen Worte „ami-kale Aussprache“ umschrieben wurden? Ärzte, die, laut einer notwendigerweise unzulänglichen Statistik, „Gefahr liefen“, zuviel Medikamente verschrieben und damit die ihnen zugemessene Quote überschritten zu haben, wurden vorgeladen, wurden hart angefaßt, sie mußten sich rechtfertigen. Man flötzte ihnen das Gefühl der Schuld und der Ohnmacht ein. Sie saßen zwar beamteten Ärzten gegenüber, welche die Obrigkeit repräsentierten. Aber sie wußten nur zu genau, daß sie „drüben“ keinen einzigen Vertreter ihrer Interessen haben, der das Recht auf Einsicht in die Gebarung und Verwaltung der Kasse hätte. Schon immer, nicht nur während des nunmehr auf das äußerste zugespitzten Konflikts, stand und steht Behauptung gegen Behauptung. Die Kasse verweigert jede öffentliche Rechnungslegung, und die Diskussion über materielle Forderungen und deren Nichterfüllung erhält dadurch einen schemenhaften Charakter.

Nun weiß schon allmählich jeder, daß weder die Erfüllung der im Wiener Programm niedergelegten und von der Wiener Ärztekammer vertretenen, hauptsächlich materiellen, zum Teil auch rechtlichen Forderungen durch eine wie durch ein Wunder vielleicht doch kompromißbereit gestimmte Kassenleitung, noch eine Aufnahme langfristiger Reformverhandlungen während eines Vereinbarten Provisoriums allein ausreichen können, um die Malaise zu beseitigen. Die Erfahrungen der letzten Tage haben gezeigt, daß die Krise so lange nicht zu beheben sein wird, als sich die streitenden Partner nicht auf ein alle finanziellen und juridischen Probleme umfassendes, nach den Ordnungsprinzipien der freien Welt orientiertes Gesamtkonzept einigen. Noch ist es Zeit: Zeit zu Verhandlungen, aber es ist keine Zeit mehr zu faulen Kompromissen, zu Verlegenheitslösungen.

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