Das Genie setzt neue Maßstäbe

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Nicht die Eigenschaften eines Kunstwerkes, sondern eher andere Faktoren bestimmen seinen Wert,meint der Wiener Philosoph Konrad P. Liessmann.

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Nicht die Eigenschaften eines Kunstwerkes, sondern eher andere Faktoren bestimmen seinen Wert,meint der Wiener Philosoph Konrad P. Liessmann.

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dieFurche: Sie veranstalten dieser Tage in Lech ein Symposion über die "Furie des Veschwindens". Was ist dafür entscheidend, daß zum Beispiel Kunstwerke für nicht mehr erhaltenswert befunden werden und verschwinden beziehungsweise als wertvoll erachtet werden und nicht verschwinden?

Konrad Paul Liessmann: Diese Tagung hat den Sinn, erst einmal darüber zu diskutieren, ob überhaupt etwas verschwindet. Im Bereich der Kunst könnte man zunächst einmal provokant und spitz sagen: Es verschwindet überhaupt nichts - einfach aufgrund unserer fortgeschrittenen Archivierungstechnologien. Es ist fast unmöglich, daß jemand einen Roman schreibt, der verschwindet, er ist irgendwo auf einer Diskette oder CD-ROM gespeichert.

dieFurche: Es ist aber wohl ein Unterschied, ob ein Roman in vielen Bibliotheken steht oder nur noch irgendwo ein Exemplar in einem Archiv existiert.

Liessmann: Wenn er klug ist, stellt der Autor noch zu Lebenszeiten seinen Roman ins Internet, und dann ist er sozusagen für ewige Zeiten universell verfügbar - als arrivierteste Art der Archivierung. Verschiedene Prozesse, die früher so etwas wie einen natürlichen Fortgang des Verschwindens bewirkt haben, die haben wir eliminiert.

dieFurche: Betrachten wir die bildende Kunst. Da gibt es innerhalb der Bestände der Museen Werke, die ständig an prominenter Stelle in den Ausstellungsräumen hängen, während andere nur in den Depots schlummern. Was zeichnet die einen Werke aus, was mangelt den anderen?

Liessmann: Da ist das Problem etwas anders als in der Literatur oder im Film oder bei Schallplatten. Hier handelt es sich ja im wesentlichen um Unikate. Das macht ja auch die Faszination von bildender Kunst bis heute aus, daß es eben von einem Bild oder Objekt nur eines gibt, das Original, und alles andere ist eben, deutlich sichtbar, nur Kopie oder Reproduktion. Darin allein liegt schon eine gewisse Wertigkeit. Ein weiterer Faktor liegt im Alter. Auch ein schlechter Maler des 18. Jahrhunderts oder ein viertklassiger Niederländer des 17. Jahrhunderts kann heute hohe Preise erzielen, einfach, weil er die Zeiten überdauert hat, weil es alte Kunst ist. Es können sogar trivialste Gebrauchsgegenstände, nur weil sie ein bestimmtes Alter haben, in Antiquitätengeschäften relativ hohe Preise erzielen.

Das erklärt noch immer nicht, was geschätzt wird und was letztlich verbannt wird. Ich denke, und das in Übereinstimmung mit sehr vielen Kunsttheoretikern der Gegenwart, daß wir im Grunde vom ontologischen Kunstbegriff sehr weit weggekommen sind. Dieser lautete ja: Ein Kunstwerk hat bestimmte Qualitäten - es ist besonders schön oder besonders innovativ oder besonders aufregend oder besonders gelungen - und die sorgen dafür, daß es sich a la longue durchsetzen wird, daß es geschätzt wird, weil es einfach qualitativ besser ist als andere.

Wir tendieren heute in der Kunsttheorie dazu, das Kunstwerk nicht mehr als Objekt zu nehmen, das objektiv beschreibbare Eigenschaften aufweist, sondern daß das, was dann geschätzt wird und auch ausgestellt und nicht in Sekundärgalerien oder Depots verbannt wird, das Resultat eines komplizierten Prozesses ist. Natürlich muß das Werk da sein, aber allein besagt das noch gar nichts. Es muß darüber geschrieben werden, geurteilt werden, es müssen Diskussionen darüber stattfinden, es muß einen Platz erringen und in der Kunstgeschichtsschreibung behaupten. Es muß sich einen Platz im Markt erringen und dort behaupten, und das ist wieder eine Frage von Angebot und Nachfrage, von Interessen und auch des Diskurses darüber, bei Kunst - vor allem bei zeitgenössischer Kunst - auch eine Frage der individuellen Vorliebe von Sammlern. Wir alle wissen, daß wenige potente Sammler durch ihre Vorlieben und ihre Sammeltätigkeit Künstler am Markt hoch plazieren oder fallenlassen können.

dieFurche: Das Kunstwerk ist also nur ein Faktor, entscheidend ist die Rezeption ...

Liessmann: Die Rezeption, die Kommunikation, die Geschichtsschreibung, der Diskurs der Experten.

dieFurche: Man könnte demnach Kunst auch pushen. Man präsentiert ein Kunstwerk und stellt zwanzig Leute hin, von denen anzunehmen ist, daß sie alle sagen: Das ist ein großartiges Kunstwerk. Und in dem Moment ist es unter Umständen bereits etabliert, unabhängig davon, wie gut es wirklich ist?

Liessmann: Also ich würde sagen, bis zu einem gewissen Grad ist das sicher möglich. Weil die Frage " Was heißt ein Kunstwerk pushen?" von der Frage "Wie gut ist es wirklich?" ja nicht trennbar ist. Ein Kunstwerk pushen heißt behaupten, daß es gut ist. Es wird ja keiner sagen, ich will ein Kunstwerk pushen, das ich für schlecht halte. Aber zu behaupten, daß ein Kunstwerk gut ist, ist die wesentlichste Möglichkeit festzustellen, daß ein Kunstwerk gut ist, weil wir nicht mehr davon ausgehen können, daß ein Kunstwerk so etwas wie zeitlose Qualitäten an sich hat, die dem besonders Begnadeten eben auffallen und anderen nicht auffallen.

dieFurche: In früheren Jahrhunderten waren ja die großen bildenden Künstler meist im Dienst vermögender Adeliger. Hob es nicht automatisch die Wertschätzung eines bildenden Künstlers, wenn ein Reicher sein Geld in diesen Künstler investierte?

Liessmann: Die Aufmerksamkeit des großen Mannes konnte der Künstler aber nur erringen, weil er schon vorher im kleinen Kreis zumindest als Geheimtip gehandelt worden war, das waren Leute, die unter Kennern schon einen Ruf erworben hatten, den wir zum Teil auch heute nicht immer anerkennen. Es gibt ja viele hochgeschätzte Künstler vergangener Epochen, die wir heute für absolut drittklassig halten, die sich in der Kunstgeschichte überhaupt nicht als entscheidend innovativ durchgesetzt haben. Wenn man heute von der österreichischen Kunst des Fin de siecle spricht, da fällt uns Klimt oder Schiele ein, vielleicht jetzt wieder Gerstl oder auch Kokoschka - kein Mensch redet von Makart. Makart war der Star seiner Zeit, er hat die großen Aufträge gekriegt. Das ist ja das Hochinteressante an dieser Kunstdebatte, daß sich Wertschätzungen über die Zeit nicht nur etablieren, sondern auch verändern. Kunstwerke können lange nach dem Tod ihrer Schöpfer Karrieren machen. Es gibt berühmte Beispiele dafür wie Van Gogh.

dieFurche: Die Frage "Welche Kunst behält Wert?" ist also ...

Liessmann: ... eine nicht ganz korrekte Frage. Man müßte sagen: Welche Kunstwerke gewinnen durch welche Faktoren Wert, und durch welche Faktoren verlieren sie an Wert? Es ist nicht so, daß Kunstwerke ihren Wert haben, und manche Zeiten sehen diesen Wert und andere Zeiten sehen diesen Wert nicht. Es war ja nicht so, daß die Zeitgenossen von Van Gogh blind waren, sondern aus der ganzen Konstellation heraus hatte er eben noch keinen Wert. Er hat den Wert bekommen, wird gegenwärtig weit überschätzt und wird deshalb auch wieder an Wert verlieren. Und das ist eben eine Frage von kulturellen Diskursen, Strategien, da mischen sich viele Faktoren, geistige, merkantile, ideologische, subjektive ...

dieFurche: Wir haben das Thema Geschmack noch kaum angesprochen. Makart hat offenbar dem Geschmack seiner Zeit entsprochen, während eine andere Zeit andere Maßstäbe anlegt und sich vielleicht von einem Schiele, der seinerzeit als geschmacklos galt, mehr angesprochen fühlt, was sich aber vielleicht auch wieder ändern kann.

Liessmann: Natürlich. Das unterstreicht ja nur diese Relativität der Beurteilung. Geschmacksfragen sind letztlich subjektiv, auch wenn man Geschmack auch kollektiv, als Geschmack einer Zeit, als Summe subjektiver Geschmacksurteile, artikulieren kann. So unterliegt natürlich das Kunstwerk auch dem Wandel der Geschmacksvorstellungen. Das ist ja das Interessante daran, daß, je nachdem wie wir unsere Einstellung ändern, wir in der Vergangenheit immer wieder neue Künstler entdecken, die jetzt interessant sind, und das können auch außerästhetische Gesichtspunkte sein.

Denken Sie an die Wiederentdeckung von Frauenkunst. Aufgrund der feministischen Diskussion wird plötzlich Kunst, die von Frauen gemacht wurde, die jahrhundertelang gar nicht wahrgenommen wurde, entdeckt, und man entdeckt durchaus Qualitäten darin. Waren die vorher alle blind? Nein, sie hatten nur andere politische Vorstellungen, wo das einfach nicht hineinpaßte. Deswegen konnten - oder wollten - sie es nicht sehen. Sollten wir irgendwann wieder in ein extrem patriarchalisches Zeitalter zurückfallen, dann werden alle diese Diskurse ziemlich seltsam erscheinen so wie die Wiederentdeckung von proletarischen Künstlern im Zuge der linken Bewegungen der sechziger Jahre uns mittlerweile ziemlich komisch anmutet. Als ich anfangs der siebziger Jahre studiert habe, gab es in den Seminaren doch ernsthafte Diskussionen darüber, ob der Arbeiterschriftsteller Willi Bredel nicht besser oder zumindest wichtiger sei als Johann Wolfgang von Goethe. Denn Bredel war ein Arbeiterschriftsteller, und die Zukunft gehörte aus damaliger Perspektive dem Proletariat, Goethe war nach damaliger Terminologie ein "Fürstenknecht".

dieFurche: Angenommen, der Nationalsozialismus hätte gesiegt - würden dann ganz andere Künstler als die großen Meister dieses Jahrhunderts gelten? Kann eine politische Gruppe den Kunstgeschmack prägen?

Liessmann: Ich würde nicht sagen, daß eine politische Gruppe auf Dauer den Kunstgeschmack prägen kann, sehr wohl aber ein kulturelles Milieu. Man darf nicht vergessen, daß die Künste seit dem 18. Jahrhundert relativ autonom sind und immer versucht haben, Kriterien der Beurteilung zu entwickeln, die losgelöst sind von politischen, religiösen, sozialen und moralischen Aspekten. Dazu kommt ein Moment in der Kunstgeschichtsschreibung, das die Kunst auch danach beurteilt, was sie nicht für den Geschmack oder das Verständnis der Menschen oder was immer bedeutet, sondern was die Kunst für die Kunst selber bedeutet hat, also der Versuch, jene Kunst höher zu bewerten, die für die Kunstentwicklung selber innovativ war gegenüber derjenigen, die nur reproduktiv oder epigonal war.

Das ist eine Diskussion, die es seit der Aufklärung gibt - Originalität versus Epigonalität -, und so gesehen könnte man sagen, daß ein Neoklassizismus, wie er zum Teil unter den Nazis geherrscht hat, wie er zum Teil auch im sozialistischen Realismus beobachtbar war, natürlich weniger innovativ, interessant und aufregend ist als die Experimente, die die radikal-ästhetische Moderne ausgezeichnet haben. Das ist natürlich etwas, was die moderne Kunst in ihrer Selbstwertschätzung sehr lange legitimiert hat, daß sie innovativ ist, daß sie radikal ist, daß sie experimentiert, daß sie Grenzen überschreitet. Bei jeder Gesamtschau wie Biennale oder Documenta, wo es darum geht, den zeitgenössischen Kunstgeschmack zu präsentieren, hängt sich die Kritik natürlich an der Frage auf: Was ist dort eigentlich das Innovative? Was ist das Neue? Was ist dort zu sehen, was man woanders noch nicht gesehen hat? Was ist entwicklungsfähig, wo sind die Sackgassen? Das heißt, im Grunde denken wir noch immer, und ich halte das auch für sinnvoll, in diesem Konzept: Kunst beurteilt sich an dem, was sie für ihre eigene Entwicklung leistet. Im Grunde ist das nichts anderes als die alte Idee von Immanuel Kant, der das Genie dadurch definiert hat, daß es imstande ist, Regeln zu durchbrechen und damit gleichzeitig eine neue Regelhaftigkeit zu konstituieren. Wenn sie wirklich eine ästhetisch-philosophische Antwort auf die Frage haben wollen, was macht die Kunst zu etwas Wertvollem, welche Kunst wird übrigbleiben, dann könnte man mit Kant antworten: genau jene Kunst, die in dem Sinne originell und innovativ ist, daß sie selbst gleichzeitig wieder maßstabbildend geworden ist und nicht zu einem Einzelfall, den Kant mit einem sehr brutalen Wort "originären Unsinn" genannt hat, herabgesunken ist.

Das Gespräch führte Heiner Boberski

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