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„Der entfremdete Mensch“

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Durch die Betrachtung mancher Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst gelangt der Autor, Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, zu

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Durch die Betrachtung mancher Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst gelangt der Autor, Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, zu

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Fragestellungen von skeptischer Schärfe. Seine Ausführungen scheinen große Gebiete der künstlerischen Arbeit (Beispiele: Böll, Nabokow, Chagall, Manzü usw.) außer acht zu lassen; seine leidenschaftliche Einseitigkeit könnte als Grundlage einer fruchtbaren Diskussion dienen. Die FURCHE erwartet weitere Stellungnahmen.

Entfremdung - damit ist die Beunruhigung gemeint, in der der Mensch sich selber fremd gegenübersteht, weil er spürt, daß er zum Eigentlichen in sich nicht kommt; Max Frisch stellt im Roman „Stiller“ die Frage: „Bin ich ich selber?“ Entfremdung, das ist aber auch die Anklage gegen gesellschaftliche Verhältnisse, die uns nicht zu uns selber kommen lassen; wenn wir die Analyse heutiger Wirklichkeit durch Habermas akzeptieren, sind heutige

Ar beitsverhältnisse, heutige Sprachstrukturen und heutige Machtstrukturen zugleich Zustände der Entfremdung. Schließlich wären hier die Sinnrätsel menschlichen Daseins einzubeziehen, also jene Lebenssituationen, wo uns menschliche Existenz als absurd erscheint.

In diesem Essay ist nun die Frage gestellt: gibt die bildnerische Kunst des 20. Jahrhunderts Beiträge zum Thema „Der entfremdete Mensch“? Kann die Kunst unseres Jahrhunderts auf ein Thema hin befragt werden,

nachdem sich eine entscheidende Kunstwende vom Thema abgewandt hat? Sogenannte „abstrakte Kunst“ ist ja weithin Kunst ohne Thema, Kunst im eigenen Bereich, autonome Kunst, Kunst, die sich selber definiert. Man wird für diesen Zusammenhang mindestens sagen müssen: „Das Thema ist von geringerer Bedeutung als der Bezug, den der Künstler zu seinem Objekt und zum Leben überhaupt hat und wiederzugeben versteht“ (Kristian

Sotriffer).

In der Wende zur Kunst des 20. Jahrhunderts sagte beispielsweise Cézanne, ein Bild stelle nichts dar als Farben. Und Paul Klee empfand das große Abenteuer der Kunst darin, daß diese die Gesetze zwischen Punkt, Linie,

Fläche, Farbe erforsche und gestalte. Kunst lehnte es nun ab, Nachahmung der Natur zu sein oder eine Idee zu illustrieren. Sie interessierte sich fürs „Suchen“ und „Finden“, auch für den Zufall. Sie registrierte und studierte

Mal- und Materialprozesse. Und das „Werden“ im Prozeß ist ihr meist wichtiger als das Resultat.

Diese programmatischen Entscheidungen der Kunst am Anfang des 20. Jahrhunderts lassen eine Kunst entstehen, die thematisch kaum aufzuschließen ist. Vielleicht kann man diese Entwicklung auch ideologiekritisch deuten: der Künstler spürt, daß Themen leicht ideologisch mißbraucht werden können. Darum lehnt er eine thematische Kunst ab. Kunst ist damit Beitrag zum Widerstand gegen Ideologien und gegen gesellschaftliche

Zwänge.

Ich meine aber: trotzdem können, wenn die Bedingungen des „neuen Sehens“, des „bildnerischen Denkens“ und der „neuen Sensibilität“ akzeptiert werden, Beiträge zum Thema „Der entfremdete Mensch“ auch in der

Kunst des 20. Jahrhunderts gefunden werden. Allerdings soll dabei nicht nach „thematischer Kunst“ gesucht werden, sondern es soll zu einer neuen Sensibilität im Dreieck „Künstler - Kunstwerk - Betrachter“ kommen. Mit solcher Sen sibilität nähert sich Kunst und Kunstbetrachtung oft Denkprozes-, sen, und zwar - so wird man im Blick auf aktuelle Kunst sagen müssen - oft anstrengenden Denkprozessen!

Ich formuliere meine Sicht zunächst thesenartig: Kunst leistet Beiträge zum Thema der Entfremdung, wenn entsprechende Sensibilisierungen im Verhältnis „Künstler - Kunstwerk - Betrachter“ zustande kommen. Für das

Verhältnis „Künstler - Kunstwerk“ ist dabei festzuhal ten: der Künstler verarbeitet Erfahrungen der Entfremdung hauptsächlich mit den formalen Mitteln der Deformation, der Beobachtung von Materialprozessen und der Einbringung seiner Subjektivität, in der er sich in dieser

Gesellschaft als Fremder empfindet, in künstlerische Aktionen.

Und für das Verhältnis „Kunstwerk - Betrachter“ heißt das: Der Betrachter muß auf die Signale solcher Kunst sensibel reagieren - er gibt auf die Anrede solcher Kunst eine Antwort -, er verarbeitet seinerseits Schocks, die er durch solche Kunst erfahrt; das alles bedeutet für den Be trachter dann auch eine kritische Zurüstung in entfremdenden Verhältnissen, vielleicht sogar die Bereitschaft, Verhältnisse zu verändern.

Kunst übernimmt zwar manchmal noch Strukturen der sichtbaren Wirklichkeit, aber sie deformiert solche Strukturen und schafft damit Symbole der Entfremdung. , v

Ich verdeutliche solche Versuche zuerst am großen Meister der Deformation, an Picasso. Sein bekanntes Werk „Guemica“ gestaltet die Erschütterung des Künstlers über die erste Bombardierung einer wehrlosen Stadt; am

26. April 1937 wurde die baskische Stadt durch Bomber der deutschen Legion „Condor“, die unter dem Befehl von General Franco stand, mit Bomben belegt. Picasso gestaltete nun sein Werk aus der Sensibilität der Farben

„Schwarz- G,rau-Weiß“ heraus. Er übernimmt das alte Stiersymbol, weiter stellt er Pferde und Menschengesichter dar, aber all diese „Zeichen“ sind ins Schreckliche und Grauenvolle verfremdet, so daß ein Bild entsteht, das den Betrachter aufwühlt und zum Nachdenken zwingt. Und wenn man , von einem solchen Bild sagt, es sei häßlich, so will dieses Bild eben gerade mit einer „häßlichen“, unmenschlichen, grauenvollen Wirklichkeit - der

Wirklichkeit des Krieges - konfrontieren.

Als Bahnbrecher neuartiger Möglichkeiten in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist hier Duchamps zu nennen. Duchamps nimmt zufällige Gegenstände des alltäglichen Lebens, isoliert sie und stellt sie in eine für diese Gegenstände ungewohnte Umgebung, beispielsweise ins Museum. Solche Gegenstände wirken plötzlich fremd, oft schockierend und mysteriös; man spricht vom „magischen Schock“ des Dinges.

Und Materialien mit entsprechenden Lebensspuren vermögen im Betrachter seelische Tiefen aufzureißen, die ihn beunruhigen. Die „ästhetische Rezeption“ von Schrott, Gerümpel, Schutt, verbrauchtem Alltagsmaterial enthält hervorragende Möglichkeiten, Entfremdungszustände zu symbolisieren. Schon van Gogh war fasziniert vom Schutt des Mülls und er suchte auf Müllhaufen „sprechende“ Gegenstände.

Zu diesen Möglichkeiten wieder einige Konkretionen: seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Künstler Materialprozesse gestaltet, in denen beispielsweise angebrannte Sackstücke ins Bild gesetzt wurden (Alberto

Burri) oder in denen mit Schmutz oder Sand die Farben oder die Leinwand verändert wurden. Solche künstlerische Zerstörungen und Verfremdungen können durchaus auf Entfremdungsprobleme hinweisen, etwa auf die

Vergänglichkeit des Stoffes, děr dann die Vergänglichkeit alles Seins symbolisiert.

Heute verzichten viele Künstler darauf, am Bild oder an Materialien zu arbeiten und zu gestalten. Sie agieren mit sich selber und an sich selber und damit wird ihre Subjektivität zum Symbol, oft auch zum Symbol von Entfremdungszuständen. Ich konkretisiere diese Möglichkeiten mit Hinweisen auf Performances (künstlerischen Handlungen und Aktionen). Der

Künstler zeigt in solchen Handlungen - teilweise anknüpfend an das gesellschaftskritische Happening -, daß er sich in der heutigen Gesellschaft oft isoliert und als Fremder vorkommt. Nicht zufällig gibt es eine herausfordernde

Frauen-Performan- ce-Bewegung.

In Aktionen und Handlungen dek- ken Künstlerinnen gesellschaftliche Klischees auf: sie spielen „Weibchen“, „unschuldige Braut“, „Schwangere“ - sie schaffen Symbole weiblicher Identität (z.B. die „Weiße Kugel“) - sie signalisieren ihr Gefühl des Gefangenseins, der Abhängigkeit, des Getreten-Werdens. In so auffallenden Handlungen agieren sie auch mit ihrem Körper, manchmal bis an die Grenzen des Möglichen, etwa wenn sie sich verletzen. Das alles soll zeigen, wie sie sich fühlen.

Künstlerische Beiträge zum Thema „Der entfremdete Mensch“ ? Ja, wenn der, der sich mit Kunst auseinandersetzt, bereit ist, die Sprache der Kunst zu lernen. Ja, wenn er bereit ist zu einer aktiven, mittätigen und mit-

spielenden Rezeption solcher Kunst.

Zwar ist heute Kunst, wie ich darlegte, meist,wenig am eigentlichen Thema interessiert, aber sie beleuchtet doch scharf und kritisch menschliche Situationen, auch Situationen der Entfremdung. Allerdings gibt solche Kunst keine Rezepte, wie man es machen sollte; sie gibt meistens nicht einmal das von ihr so oft geforderte „Positive“. Aber sie rüstet den Betrachter kritisch zu, sie macht ihn illusionsloser, sie beunruhigt ihn und fuhrt zum Nachdenken. Vielleicht enthält sie auch die Aufforderung an den Betrachter, selber etwas zur Verbesserung der Zustände beizutragen.

Sie bewegt sich damit auf der Linie des Theaterstücks von Bertolt Brecht „Der gute Mensch von Sezu- an“, das mit der Aufforderung an den Zuschauer schließt: „… such dir selbst den Schluß!“ Auch Brecht hat programmatisch das „Vertraute verfremdet“, um den, der sich mit solcher Kunst konfrontierte, kritisch zu stimmen und gesellschaftlich zu aktivieren.

Ich bin freilich weniger optimistisch als Brecht: ob sich heutige Menschen durch Kunst für humanisierende Veränderungen der Verhältnisse gewinnen lassen? Ob überhaupt eine so nachdenklich machende Sprache wie die Sprache der Kunst noch gehört wird? Ob eine doch auch deformierte Kunstszene noch imstande ist, das was Kunst sein könnte, zu realisieren? Freilich möchte ich betonen: wer nicht bereit ist, die Fragen der Kunst an sich selber zu hören, ist auch nicht legitimiert, den Kunstbetrieb zu kritisieren.

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