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Moderne Kunst — gibt es das?

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Unter dem Titel „Form und Gestaltung“ findet derzeit in der Akademie der bildenden Künste eine internationale Ausstellung statt — sie zeigt Arbeiten vieler bedeutender und umkämpfter Künstler unserer Tage —, die vielleicht geeignet sein wird, das Wiener Publikum zu jenem Gespräch über moderne Kunst zu veranlassen, das schon längst überfällig geworden ist; denn moderne Kunst kann abgelehnt oder als gültig hingenommen, als chaotische Illustration einer halbzerstörten Welt oder als Planskizze einer neuen Ordnung betrachtet werden — über all diese Punkte kann, soll vielleicht sogar gesprochen werden; aber ein Gespräch, das fruchtbar ist, wird so lange nicht zustande kommen, als die eine Seite alles ohne Unterschied schimpfend oder lächelnd abtut, was diesseits Makarts und außerhalb der Mauern des Künstlerhauses geschaffen wurde, und die andere Seite ebenso kritiklos über jede abstrakte oder surrealistische Äußerung in Verzückung gerät und hinter zwei Dreiecken auf weißer Fläche schon die Entschlüsselung eines Welträtsels zu vermuten bereit ist.

Die „moderne Kunst“ existiert seit drei Generationen; man kann sie so wenig wegdisputieren, wie man eine Lokomotive oder eine Rechenmaschine übersehen kann. Sie ist da, sie besitzt sogar ihre Tradition, die schon starre und oft genug hemmende Konventionen entwickelt hat, es fehlt nicht einmal an einem konstruktivistischen, abstrakten oder surrealistischen Akademismus — der steriler, kälter und unerfreulicher ist, als er jemals auf einer Kunstschule geherrscht hat. (In diesen Dingen deutet sich vielleicht das beginnende Ende der „Moderne an — oder doch wenigstens, daß sie den Scheitelpunkt ihrer Entwicklung überschritten hat.) Hier und dort beginnen die Zeichen einer schon postmodernen Kunst deutlich zu werden — und dies besagt, daß man über kurz oder lang gegenüber der modernen Kunst eine Art der Ablehnung finden wird, die nicht einem Kampf gegen Windmühlen gleicht, als der sie erscheint, wenn man sie aus der Tradition heraus begründet.

Noch längere Zeit hindurch werden unsere summarischen Urteile über die Moderne niemals richtig sein. Sie ist ein Phänomen und durchaus kein leicht zu erforschendes. Die Kategorien der Kunstgeschichte versagen vor ihr, denn sie kennt keine Entwicklung in der Zeit, sondern nur eine Entwicklung im Raum, in den sie nach allen Seiten vorstößt — an immer neuen Punkten immer neu ansetzend, immer wieder neue Darstellungsebenen suchend. Ein neuer „Ismus“ versucht nicht, einen früheren zu überwinden, sondern sich sein eigenes Geleise zu legen. Daher kann man nicht vom Ismus als von einem Stil sprechen — alle Ismen sind, vielleicht, zusammengenommen der Stil der Moderne. Ähnliches hat es noch nie gegeben. Die Aufrollung von Formproblemen, diese unermüdlichen Versuche, mit einigen Grundelementen — mit reinen Farben, geometrischen Formen, dem aus dem Zusammenhang gerissenen surrealistischen Detail — möglichst viele Gebilde aufzubauen, haben zweifellos etwas von der Denkungsart von Technikern und Ingenieuren an sich. Kein Zufall, daß die Theorie und die wissenschaftliche Grundlage in der Kunst der Moderne eine große Rolle spielen und der alte dämonische Traum einer „künstlichen Kunst“, einer wenigstens teilweise errechenbaren und halbsynthetischen Kunst, immer wieder geträumt wird.

Dem ungeschulten Besucher solcher Ausstellungen sei empfohlen, sich die moderne Kunst als große Ebene vorzustellen, auf der in unzähligen, sich immer noch vermehrenden

Versuchsgärten, kleineren und größeren, an der Züchtung neuer Pflanzensorten gearbeitet wird, deren man in einem sich langsam verändernden Lebensklima bedarf. Viele neue Sorten werden nicht lebensfähig sein oder als bloße Experimentierprodukte gelten müssen (mit einiger Wahrscheinlichkeit ist dieser Vergleich auf die „reine“ Abstraktion anwendbar), andere werden als Bizarrerien einem Kuriositätenkabinett einzuverleiben sein und in ihm ihren untergeordneten Wert besitzen, wie man das von anspruchsvolleren Surrealismen erwarten darf. Aus anderen Feldern wachsen die „echten Ungeheuer“ Picassos, des proteushaften Zauberers. Uberall dazwischen Unkraut, Alraune, Zierpflanzen und wohl auch die Schößlinge künftiger Fruchtbäume ... ein Irrgarten, beängstigend und faszinierend, verwirrend und bedrückend zugleich. Weniges ist darin schon zur Klarheit gediehen — so die Kunst Paul Klees oder Bracques, über die für viele der Weg zum Verständnis der Moderne führen wird. (Noch einmal: um das Verständnis geht es, dann erst erhebt sich die Frage der Anerkennung oder Ablehnung.) Man sehe sich die Ausstellung an; nicht, um in ihr moderne Bilder zu verehren, sondern um solche kennenzulernen. Dazu gibt sie “gute Gelegenheit — sie ist in ihrer Art die interessanteste und bestbestellte der ausländischen Expositionen, die bis jetzt bei uns zu sehen waren.

Ein Wort ist über die Österreicher zu sagen, die in ihr zu Wort kommen: über Herbert B o e c k 1 und Fritz W o t r u b a. Sie erweisen sich fast allen Vielgenannten als ebenbürtig. Und zugleich sind sie von ihnen, den Franzosen, Italienern, Amerikanern usw., grundverschieden. Es ist schön, das, wenn auch nur in aller Kürze, feststellen zu dürfen.

Eine zweite, schweizerischer Initiative zu verdankende Ausstellung zeigt anschließend an die obengenannte die funktionelle Verwendung moderner Formelemente an Gebrauchsgeräten. Sie bringt eine Fülle von Anregungen, wenn auch die Absicht, die sie verfolgt, ein wenig unklar bleibt.

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