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Die einzige Treue

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Zwischen der Angst und der fast Ruhe schenkenden Endgültigkeit der Lage entwertet der Mensch, der kaum noch zu wählen hat, alles, was ihm zustößt. Im Guten und Bösen, ist alles gleich, alles Zufall, bedeutungslos, und müßte er ein Tagebuch führen, so blieben die weißen Seiten mit Sicherheit leer: nichts scheint dem Menschen gewichtig genug, auch nur einen Federstrich zu rechtfertigen. In den Ohren klingt ihm das brüchige Geheul der Theoretiker, Kritiker, Avantgardisten, die alles zu Schaffende gleich im voraus verdammen.

Es sei längst schon zu spät zur Leistung, rufen die Chöre, trotzdem berührt ihr Singen keinen von uns. Auch zum Schwarzse-hertum zu müde, verlieren wir uns in den Brennesselbüschen des Alltags, bemühen uns nicht, du kommst ja nicht auf gegen die Masse des Vollkommenen, die uns auch nicht weiterhilft. So sieht die Erfahrung aus, die der Schüler zeugnislos mitnimmt ins Chaos, es ist ein schlecht behauenes, scheinbar nicht fertiggestelltes Denkmal, es lädt auch nicht ein zum Rätselraten über seine Botschaft. Nur glatt ist es, unerhört glatt, kein Suchender könnte es erklettern, der Mensch rutscht auf diesem Felsenblock aus.

Wozu also die Augen ermüden, das Gehirn zermartern in der Hoffnung auf das Entscheidende, für das zu leben und gelebt zu haben sinnvoll wäre? Weil wir nichts zu entdecken glauben, vor allem aber, weil wir fehlgeleitet nach dem Wichtigen suchen, vergessend, wie täuschend das sogenannte Wichtige ist, sind wir verstummt, sprachlos geworden, und die Ausnahmen sterben an Atemnot. Wir sind bleiche Opfer unserer Selektivität.

Ich ging die enge Hauptstraße des alten Atibes entlang, das metallene Dach eines Bazars spendete mir Schatten, ich erwartete wenig vom Chäteau Grimaldi, auf das ich zustrebte. Picasso bedeutete mir nichts, ich liebte sein Lebenswerk ebensowenig, wie ich es abzulehnen gewagt hätte. Wenn zwei Menschen auf verschiedenen Planeten wohnen, warum sollten Brücken entstehen zwischen ihnen?

Ich hatte mir vorgenommen, das im Schloß untergebrachte Picasso-Museum nur deshalb aufzusuchen, weil ich dem schon oftmals erfahrenen Unterschied zwischen einer Reproduktion und dem originalen Werk eines Künstlers eine Chance geben wollte. Picasso, das waren für mich vor allem Drucke, Lithographien, ich wollte einmal vor der eigentlichen Schöpfung stehen. Ein Bild, eine Plastik sind — im Unterschied zu Manuskripten, Notenblättern — nicht nur der von ihrem Urheber bezweckte Ausdruck, der Impuls für die Augen, sondern sie verfügen im glücklichsten Falle auch und vor allem über ihr Kraftfeld, einen magnetisch-metaphysischen Kreis, der Licht über den Betrachter breitet. Hier liegt der Grund, warum Reproduktionen fast immer langweilig sind: sie gehen am Kunstwerk gründlich vorbei.

Aus dem Gesagten erklärt sich auch, warum es mir in Gesellschaft provozierend leicht fällt, laut zu erklären, die Malerei und die Bildhauerei bedeuten mir nichts. Es entspricht der Wahrheit im Augenblick des Sprechens, wo der Betroffene aus der Wirkung des Beschriebenen ja entlassen ist. Wenn der Besuch eines fremden oder — besser noch — vertrauten Museums dennoch zum Erlebnis, zur Beglückung wird, dann ist dies kein Widerspruch zu den Vorbehalten einer nüchtern geratenen Vernunft.

Mein Besuch im Chäteau Grimaldi enttäuschte mich zwar in der Hoffnung auf eine Begegnung mit diesem „meinem" Bild, aber hielt eine andere, vielleicht nützlichere Einsicht für mich bereit. Anfangs schien sie mir einigermaßen ungenau, gewiß auch dauer- und folgenlos, nicht erklärbar, aber dann, über einen flimmernden Glutsommer hin, wurde jene vage Impression gleichsam handfester, von der Sonne präzise gebrannt, bis sie als knöcherne Gewißheit in mir ruhte. Heute darf ich behaupten, daß ich den Maler, Zeichner, Keramiker, Graphiker Picasso nicht anders schätze als vor jenem Nachmittag in Antibes, also lauwarm mit Vorbehalten, aber daß ich den Künstler Picasso jetzt umarmen möchte.

Er hatte zeitlebens recht und stand — bewußt oder unbewußt — über dem mörderischen Fehler, dem wir alle, du und ich, voller perverser Lähmung huldigen: ich meine die Auswahl, die hochmütige Selektion, das Verwerfen von Gott und Teufel, die irrige Annahme, nichts sei des Festhaltens wert. Picasso machte nicht mit. Gerade jetzt, wo die Menschheit in Pedanterie erstickt, die fehlende Großzügigkeit uns zu töten droht, wo die vulgären Nationengrenzen längst lächerlich harmlos geworden sind gegen die schlimmeren, häßlicheren Gitter zwischen Gedanken und Gefühlen im Menschen, gerade heute schwingen wir uns unter dem Hinweis auf eine durch nichts gerechtfertigte Relevanz zum Größenwahnsinn einer artistischen wie menschlichen Selektion auf, die schon im voraus jede Anstrengung verspottet und für nichtig erklärt.

Diese recht eigentliche Todsünde hat der Künstler Picasso nicht mitvollzogen, er hat keine Sekunde damit verloren, einen Krug, eine Taube, ein Gesicht, eine Blume auf ihre Relevanz hin zu befragen, er hat nie überlegt, ob dieser Gegenstand, dieses Gefühl, diese Konstellation seine Arbeit, sein Material, die Mühe der Darstellung wert seien. Die Zeit, die jeder von uns auf ähnlich dumme Gedanken verwendet hätte, ein Krämerdenken im Antlitz der Kunst, diese Zeit hatte dem von seinem Werk Besessenen genügt, um bereits eine Skizze hinzuwerfen. Sie blieb vielleicht unvollendet, traf daneben, aber was heißt das schon, es gibt keine Skizzen, es gibt auch nichts Vollendetes, es gibt nur das Getane und daneben das Nicht-Getane, also das Nichts.

Auf einmal war mir klar, daß die in die Zehntausende gehende Werkzahl Picassos weder Zufall einer vulkanischen Schaffensfreude noch das Vermächtnis eines eitlen Ausuferns ist, sondern die einzig mögliche Antwort des Künstlers auf den hinter j eder Ek-ke lauernden Tod. Der schöpferische Mensch sollte sich nicht dem fragwürdigen Ideal eines Meisterwerkes verschreiben, dergleichen plant sich nicht, sondern er sollte unentwegt mit aller Kraft seines Wesens gegen die Zeit branden, sie peitschen und vielleicht sogar aushöhlen, wie das Meer gegen die Felsen schlägt. Wie Picasso — ohne den feierlich dummen Anspruch des Besonderen — stets produzieren, alles festhalten, permanent, die Erlebnisse unverdaut niederschreiben, ohne den koketten Blick auf den Leser.

Arbeiten in Unschuld, als Waffe gegen die Zeit.

Nur wer das vermag, der schafft seine Werke in der großen harmonischen Linie, die allein das Leben rechtfertigt. Anfangs kommt es in dieser Tätigkeit auf den einzelnen Strich, auf das kleine Wort nicht an, aber bald schon werden auch sie ihren Rang einnehmen und, wie in Picassos flüchtigstem Werklein, ihren Urheber niemals verraten. Es ist die einzig gültige Treue.

Doch nicht über den Spanier will ich sprechen, sondern nur über unser Schweigen. Dieses „Wir" ist die zwergische Gruppe absurder Gestalten, die irgendwo zwischen Kopfhaar und Zehen das Bedürfnis verspürt, etwas zu verändern. Betrachten wir diese Halbverrückten — wir kennen uns ja, wir haben lang und narzißtisch in den Spiegel gestarrt — mit dem Ehrgeiz der Künstler, dann ist es schade um jedes Wort. Denn so schwach sind wir, daß auch der billige Begriff einer Minderheit uns nicht zusteht, weder Partei noch Gruppe noch Fähnchen sind wir, sondern ein versprengter, gelähmter Haufen ohne das Haufengefühl.

Aber die Welt oder wenigstens doch eine ihrer Facetten retten zu wollen, dieser Wunsch sollte einige weitere Narren herbeilocken, genügend vielleicht, um eine Minderheit zu erschaffen. Auf die Ästheten kommt es dabei nicht an, sie sind uns willkommen, sie ' bringen Nutzen als Bühnenbildner und Plakatgestalter beim Abverkauf der guten Ideen. Ich glaube nämlich, nein: ich bin überzeugt, daß hinter den Karikaturen nach wie vor das Wesentliche besteht, und damit, mit unserer altgehaßten, altgeliebten Polarität zwischen hellstem Licht und tiefster Dunkelheit müßten die Farbpaletten uns wieder Freude machen.

Vielleicht ließe sich gar ein paar Generationen lang weiterspinnen an unserem langen Faden des Abendlandes, es ist ja nicht alles lächerlich zwischen Homer und Picasso, und wenn das Weiterbohren wirklich keinen Sinn mehr ergibt in der eisigen Sicht unserer Marktanalytiker, so haben wir es für uns selbst getan, und das ist ja auch etwas, oder nicht?

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