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MONSTREN, DÄMONEN, COMICS

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Die heurige Biennale führt etwa 2800 Werke vor, wozu noch die Arbeiten von vier Nationen zu zählen sind, die ihre Einsendungen verspäteten. Die Italiener dominieren wie stets. Ein Drittel des insgesamt Vorgeführten stammt von ihnen, es ist in 58 von den 68 Räumen des zentralen Pavillons untergebracht. Zwei Drittel des Gebotenen entfällt auf die übrigen 37 Nationen, von denen 24 in eigenen großen Pavillons ausstellen.

Ein entscheidender Eindruck geht von zwei Retrospektiven der Italiener aus. Umberto Boccioni, einer der Begründer des Futurismus und Mitunterzeichner des berühmten Mani- fests von 1910, der bereits 1916 im Alter von 34 Jahren starb, ist hier mit 111 Werken vertreten. Seine überaus rasche und eindrucksvoll zwangsläufig wirkende Entwicklung läßt sich vorzüglich verfolgen. Er begann mit einem strichförmigen Pointillismus, dessen Striche sich mehr und mehr vergrößerten, dynamischer wurden, bis er zu einer Flächenzerlegung gelangte, die lebhafte Bewegungsimpulse zu besitzen scheint. Dies zeigt auch die Oberflächengestaltung seiner Skulptur „Forme uniche nella continuitä dello spazio“. Das Zeitalter rasanter Bewegung — Autos, Flugzeuge, Raketen — kündigte sich im Futurismus vorweg an.

Der Bolognese Giorgio Morandi starb vor zwei Jahren. Eine besondere Verringerung der Farbgebung auf wenige gedämpfte Töne, die sein Schaffen kennzeichnet, eignet bereits den ersten der hier gezeigten 148 Bilder, in denen menschliche Gestalten wie Schlangengebilde dargestellt sind. Von da ab malte er, von einigen Landschaften abgesehen, fast ausschließlich Stilleben, Flaschen, Krüge, Schüsseln, die er zunächst in ihren Umrissen scharf begrenzte, sozusagen nackt in den Raum stellte, so daß man ihn in dieser Phase als einen De Chirico des Stillebens bezeichnen könnte. Später dämpfte er die Farben noch mehr zu bleichen, sandigen Tönen, die Umrisse verloren an Bestimmtheit, die wenigen Dinge, die er meist zusammengedrängt wiedergab, stehen in einem leeren Raum, geheimnisvolles Leben wird in ihnen epürbar.

Doch nicht der Retrospektiven wegen fährt man zur Biennale nach Venedig. Bei einem Rundgang durch diese Weltschau der Bildkünste geht es vor allem darum, festzustellen, welche Ansätze einer Weiterentwicklung sichtbar werden. Entscheidend dabei ist aber weder das Inhaltliche noch das rein Formale, sondern der Gehalt, der durch die Formgestaltung des Inhaltlichen sichtbar gemacht wird. Stets nur das rational nicht erfaßbare Dahinter macht Kunst zu Kunst. Nach dem letzten Krieg beherrschte das Dämonische im Gefolge der ungeheuerlichen Katastrophen breite Bereiche des bildnerischen Schäften®. Es manifestiert sich vereinzelt auch weiterhin. Abermals ist da auf eine Retrospektive zu verweisen, sie wird von den Franzosen vorgeführt, betrifft das Werk des Rumänen Victor Brauner, der in Wien zur Schule ging und in Paris lebte. Die einzige Sammelausstellung seines Schaffens fand kurz vor seinem Tod im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts statt. Die Biennale bietet eine gedrängte Zusammenfassung dieses Werkes, das vorwiegend aus einer Abwandlung von Monstren besteht.

Monstren führt auch der dreißigjährige Deutsche Horst Antes vor, der im Absprung die eine oder andere Anregung von Brauner erhalten haben könnte. Doch ist Antes ungleich brutaler, seine scharffarbigen Ungeheuer, die Elephantiasisbeine mit gebogenen bandartigen Armen und Händen aus zylindrischen Fingern, sowie lotrechte Reihen von Linsenaugen verbinden, brechen mit einer Vehemenz sondergleichen in unsere Wohlfahrts- und Wohlstandswelt ein. Formanalysen allein erfassen das Wesen dieser Bilder nicht. Berechtigt erweckt Antes die allgemeine Aufmerksamkeit, er vermittelt einen der stärksten Eindrücke der Biennale. Dem Dämonischen verhaftet ist auch der Italiener Giuseppe Zigaina, auf dessen Bildern unbestimmbare Unheimlichkeits- gebilde im Ungewissen schweben. Der Spanier Francisco Hemandez lokalisiert Grausiges in unförmigen Riesengebilden. Sind es getötete Tier- oder Menschenleiber? Das Unheimliche ist auch hier ein Ungewisses. Die teilweise sehr großen Messingskulpturen des Belgiers Reinhoud schwingen das Metall in gewaltigen Drehungen zu dämonischen Figuren, er gerät mit ihnen aber nahe an die Gestalten konventioneller Walpurgisnacht-Inszenierungen.

Ionesco sagte von Gėrard Schneider, daß der unftgurative Maler, der in sich hineinsieht, eben damit den Blick hinaus auf die Kräfte des Universums richtet. Diese scheinbare Antithese trifft tatsächlich auf Schneider zu, den die Franzosen darbieten. Doch scheint er sich nicht weiterzuentwickeln, er variiert nur, wie so viele, das von ihm gewählte Form- und Ausdrucksprinzip. Im übrigen hat die abstrakte Bildgestaltung, generell gesehen, erheblich an Stoßkraft verloren. Der Italiener Alberto Burrd, dessen Kompositionen aus Collagen von bemalten Stoffetzen bestanden, lokalisiert nun in Weißflächen Schwarzbereiche, zwischen die er Verbranntes klemmt. Rein malerische Qualität erweist der Norweger Jakob Weidemann mit zart blühender Farbe, die er etwa nur auf Teilflächen einsetzt. Lucio Fontane führt übermannshohe weiße Aufbauten vor, in deren Achse er eine auf- und abschwellende schwarze Linie an- bringt. Das heißt man die Ausdruckskraft dieser Linie arg überschätzen. Vielleicht könnte man derlei „Raumeinfälle“, wie Fontana seine Aufbauten bezeichnet, als Meditationsbehelfe ansehen. Doch wer würde sich ihrer bedienen?

Kandinsky hatte längst Geometrisches in die Bildgestaltung einbezogen, als sich ein Gruppe italienischer Maler in Mailand und Como zwischen 1930 und 1940 dieser Formen bediente. Ob dies bei Mauro Reggioni, Vdrginio Ghirmghelli oder Manlio Rho der Fall war, um nur einige zu nennen, stets kennzeichnet eine überlegene Form- und Ausdruckskraft ihre Bilder. Es ergibt sich ein reizvolles Spiel der Flächen, Streifen und Linien, das viel Phantasie bekundet, wobei manchmal auch modische Farben eingesetzt werden. Der Schweizer Johannes Itten, der einige Zeit in Wien lebte, Lehrer am Weimarer Bauhaus war, hat pädagogische Ideen entwickelt, die von vielen europäischen und amerikanischen

Kunstschulen übernommen wurden. In einer Auseinandersetzung mit Kandinsky erklärte er, nur was innerhalb des Bildraums passiere, sei entscheidend, nicht was assoziativ an außerhalb des Werkes Liegendes erinnere. Das gilt auch für seine Bilder. Die früh entstandenen lassen an die reine Abstraktion von Delaunay denken, heute bietet er ein ansprechendes Neben- und Ineinander unzähliger kleiner farbiger Quadrate. Bei dem Japaner Toshinobu Onosaito wird das Nebeneinander zur Wirrnis des penibel Geordneten. Aus dieser Antithese lebt seine Geometrie. Piero Dorazio ging in großflächigen Bildern von überaus engmaschigen, zarten Gitterungen zum weitmaschigen Gekreuze breiter Farb- striche über. In den großen wie in den kleinen Gefügen ist das geometrisienter, kristallisierter Tachismus. Je in sich geschlossene Kompositionen bieten Maria Preire, Uruguay, und Alejandro Otero, Venezuela. Ebenfalls ein Venezolaner, Jesus R. Soto, erzielt eine fast geheimnisvolle Wirkung mit quadratischen Platten, die sich von der Wand reliefartig abheben. Im Bereich der geometrisderenden Gestaltung hätte es mancher Ergänzung bedurft. Es wäre wünschenswert gewesen, einiges von dem zu zeigen, was im vergangenen Winter in der Quadriennale, Rom, zu sehen war.

Unter den Bildhauern wird von den Franzosen Etienne Martin besonders gerühmt, obwohl sein Werk völlig unfranzösisch wirkt. Er erhielt nun den halben Hauptpreis der Biennale für Skulptur. Man hat behauptet, er sei von der Rasse der Grizzlys, tatsächlich denkt man bei manchen seiner Plastiken an einen Waldmenschen, der tief im Fichten- und Tannendunkel so etwas wie abstrus wuchernde Waldhütten baut. Eine Unnatur bricht in ihm durch, die sich skulpturale Sinnbilder schafft. Eine dumpfe Gewalt spürt man auch in jenen prallen Plastiken, in denen er Wulstformen ineinanderpreßt. Die Bronzeplastiken von Sorel Etrog, einem in Kanada lebenden Rumänen, scheinen lediglich Kraftleistungen eines Goliath zu sein. Der Däne Jacob- sen führt die Formgestaltung von Gonzales großräumig weiter (Zweite Hafte des Hauptpreises für Skulptur). Zweiteilige plastische Motive, bei manchmal labiler Verbindung des Getragenen mit dem Tragenden, kennzeichnen die Arbeiten des Italieners Quinto Ghermandi. In einem Loch läßt der Spanier Amadeo Gabino die Glätte einer Metallplatte vielschichtig aufbrechen.

Der Holländer Constant ist ein Allroundman. Er führt mehrere reizvolle Architekturmodelle einer Stadt „Neu- Babylon“ vor, die er als „Denk- und Spielmodelle“ zur Bildung einer neuen, von den Künstlern vorzubereitenden Massenkultur bezeichnet. Das Verschwinden der nichtkreativen Arbeit als Folge der Automatisierung bringe eine neue Entfaltung des Lebens, weshalb er für die Bewohner dieser Stadt ein endloses Labyrinth als Behausung vorsieht, da es kaum mehr ein Wohnen in Permanenz -geben werde. Der Konnex dieser Vorstellungen überzeugt nicht ganz, doch packt die geistige Vitalität dieses Mannes, die sich weiter in Ölbildern mit vorwiegend dämonischen Lebewesen, in vortrefflichen Graphiken und in Skulpturen bekundet. Allerdings paßt das Wort „Skulptur“ nicht recht für diese luftigen Gebilde, die den Raum mit einem Geflecht von Drähten umgreifen. Sie strukturieren sozusagen den Raum in einer Zeit, da sich die Dreidimensionalität des Erdbereichs für uns so sehr erweitert hat. Im nahezu Filigranen ergibt sich dier Deutsche Günther Haese ähnlichen Gestaltungsprinzipien. Er setzt zarte Geflechte, Spiralen und einzelne Drähte zu zauberhaften kleinen Raumgebilden zusammen, deren einzelne Teile bei geringsten Erschütterungen zu schwanken beginnen. Mit Haese erzielen die Deutschen einen zweiten starken Eindruck. Der Schweizer Walter Linck baut aus Drähten und Metallstreifen Raumgraphiken, die wie dreidimensionale musikalische Notierungen wirken. Der Italiener Franco Can- niilla fügt aus blinkenden Metallstreifen und farbigem Plexiglas Plastiken, die gleichsam das Technische ins Poetische erheben.

Neue Bestrebungen im Figurativen sind in der Skulptur kaum, in der Malerei nicht allzu zahlreich vertreten. Da hebt sich vor allem der Spanier Juan Genovės heraus, der im Draufblick gewaltige fliehende Menschenmassen darstellt, die einzelnen Gestalten gleichen winzigen schwarzen Insekten. Hier entsteht penetrant ein Sinnbild unserer Zeit. Der Belgier Gaston Bertrand geometrisiert Bildnisse neuartig linear und in planen Flächen. Der Kubaner Renė Portooarrero führt siebenundzwanzigmal das gleiche Damenbildnis vor, frontal oder im Profil gesehen, wobei er die verschiedensten Farben immer wieder anders grob ineinanderspachtelt: Abstruse Wirkung, sozusagen durch „Palettenschöps“ erreicht. Zwischen neuen Sachlichkeit, der die metaphysische Kälte entzogen ist, und dem Photographischen siedelt der Kanadier Alex Colville formal Bilder aus seiner Heimat an. Sieger in der Abteilung Graphik wurde der Japaner M-asuo Ikeda mit eigentümlich verschlüsselten Blättern, die allgemein auffielen. Sie werden in Wien zu sehen sein.

Vor zwei Jahren bewirkten die USA mit der auf der Biennale vorgeführten Pop Art in Pariser Kunstkreisen einen schweren Schock. Dazu ist diesmal noch viel weniger Ursache als damals. Was die Vereinigten Staaten bieten, fällt völlig ab. Bei Helen Frankenthaler läßt sich noch ein formales Streben und einiges lyrisches Empfinden erkennen, wenn man glaubt, bei ihr unbedingt Positives feststellen zu müssen, doch Ellsworth Kelly streicht einfach wandhohe Bilder je gleichmäßig mit einer einzigen Farbe an. Man sage nicht, daß dies weiterentwickelter Malewitsch sei. Roy Lichtenstein zeigt Bilder im Riesenformat, gewissermaßen vergrößerte Comic stripes, damit begibt er sich auf ein Niveau, das nicht mehr tiefer gesenkt werden kann. Das ist eine pervertierte Huldigung an den primitiven Massengeschmack des entinnerlichten Menschen von heute. Für den von einzelnen französischen Kritikern geschätzten Martial Raysse — französischer Pavillon — gilt das gleiche. Der Italiener Lucio Del Pezzo läßt sich von Schaubudeneffekten anregen. Die Mandelbogenspielereien des Schweden öyvind Fahlström ordnen sich ebenfalls diesem Pop-Bereich zu. Da das breite Publikum zur abstrakten Kunst keinen inneren Zugang fand, glaubt man nun, möglichst „populär“ werden zu müssen. Man schmeichelt dem ungeheuren Heer der Ungeistigen und gibt dabei die Kunst völlig preis. Machen da die Engländer gewiß nicht mit, so ist doch ihr Beitrag diesmal unerheblich. Richard Smith läßt so etwas wie Bauelemente von der Wand vorspringen und bemalt sie andeutend. Vielleicht ist dies entwicklungsfähig, vorläufig wirkt es ärmlich.

Ein Paradoxon: Den Hauptpreis für Malerei erhielt der in Paris lebende Argentinier Julio Le Parc, der nichts Gemaltes vorführt. Er gehört zur Pariser „Gruppe für Versuche in visueller Kunst“ und zeigt in 41 Objekten zum Teil sehr reizvolle Effekte, die er mit motorisch in Bewegung gesetzten Metall- und Plexiglasscheiben erzielt. Zum anderen Teil ist das aber nicht mehr Spiel, sondern nur noch eine Spielerei, die dem Kind im Manne und in der Frau Freude bereitet. Kunstwirkungen werden lediglich vereinzelt erreicht. Vieles tendiert zur Anwendung durch Werbefachleute. Mit der Verleihung eines Hauptpreises, der allerdings diesfalls umzubenennen wäre, soll wohl der Trend nach neuen Wirkungen ausgezeichnet werden. Zu neuartigen Darbietungen, die voll aus unserem technischen Zeitalter erstehen, gehören auch die elektronisch gesteuerten Projektionen des Italieners Eugenio Carmi, bei denen eine ununterbrochen ablaufende Folge von Farblichtbildern mit geometrisch zeichenhaften Motiven zu sehen ist. 8864 Variationen sind da möglich.

Der Überblick über die Leistungen so vieler Nationen läßt das von Österreich Vorgeführte hinsichtlich seines Werts und Unwerts einstufen. International erregt man nur dann Aufmerksamkeit, wenn die zur Diskussion gestellten Werke die Entwicklung der Bildkünste weitertreiben. Dies ist am ehesten bei den gedrängt angeordneten Vitrinen „funktioneller Kunst“ von Gurt Stenvert der Fall. Manche behaupten, man komme damit um zwei Jahre zu spät Das stimmt nicht, denn Stenvert bietet nur scheinbar Pop Art, der gedankliche Gehalt unterscheidet sein Unisono verschiedenartigster Gegenstände von ihr.

Schöne, reife Leistungen stellen die uns bekannten Skulpturen von Wander Bertoni dar, wozu noch einige seiner neuen „Säulen“ hinzukommen. Auch der Serpentin-Plastiker Rudolf Kedl, der kugelige Formen ballt, erweist beachtliche Qualität. Spitzenblätter einer sozusagen spirituellen Heiterkeit führt der Graphiker Paul Flora vor. Allen diesen Arbeiten eignet ein Niveau, das nicht von allen Nationen gleichermaßen erreicht wird. Von Vorstößen in Neuland kann man allerdings dabei nicht sprechen.

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