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DIE VIERTE DIMENSION

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Im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts ist derzeit die Ausstellung „Kinetika“ zu sehen. 107 Exponate einer neuen Kunstrichtung, die Bewegung und Lichteffekte zu den herkömmlichen Materialien hinzunimmt, dokumentieren den Einzug der „Vierten Dimension“ in die Kunst. Der folgende Artikel bietet eine Einführung in die ungewohnte Welt der kinetischen Kunst; eine spezielle Besprechung der Ausstellung erfolgt von Claus Pack.

Was unsere gegenwärtige Wirklichkeit so bestürzend macht, ist der rasche Wechsel von Ereignissen. Bewegung, so scheint es, ist ihr dominierender Faktor. Die technische Revolution des 19. Jahrhunderts hat diese Wirklichkeit geschaffen, und der Mensch mußte sie, indem er sie hervorrief, zugleich auch bewältigen. In der Kunst, diesem sensiblen Registrierinstrument menschlichen Seins, haben die Veränderungen einen deutlichen Niederschlag gefunden. Während die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts wenig dazu beitrug, den neuen Gegebenheiten gerecht zu werden, hat sich ihr jene des 20. Jahrhunderts in kühner Konfrontation gestellt.

Dada gab den Anstoß. Der trivialisierte Alltag des Bürgers sollte aus seiner Gleichgültigkeit befreit, die Dinge ihrer Funktion entkleidet werden, um, in überraschender Weise vereinigt, Raum zu schaffen für eine neue, poetische Sicht. Der banale Gegenstand wird zum Märchen, das in seiner Zweckversklavung ausgeleierte und mißbrauchte Ding zur Poesie. Arp verkündete: „Dada ist der Urgrund aller Kunst.“

Was in Europa begann, hat in Amerika eine entsprechende Nachfolge gefunden. Aus der Vielfalt der künstlerischen Strömungen, welche augenblicklich den amerikanischen Kunsthimmel verdunkeln, seien einige genannt. Vor allem die im Moment sehr aktuelle „Abc-Kunst“ mit den streng geometrischen, kühlen und glatten Konstruktionen aus Plexiglas, Stahl, Aluminium und den verschiedensten Kunststoffen. Weiter: „Pop-art“ in seiner vielschichtigen Verwandlungsmöglichkeit, „Op-arf“ in schillernden Farbkonstruktionen, die „Neue Abstraktion“ oder „Post-Painterly-Abstrak-tions“, „elektronische Kunst“ und „Environments“. Dieses rasche Aufeinander und verwirrende Nebeneinander verleitet fast dazu, nicht mehr so sehr der einzelnen Kunstrichtung, sondern diesem Wechsel selbst sein Hauptaugenmerk zuzuwenden. Die Gefahr der Oberflächlichkeit, des seichten Kunstgeplätschers ist nur allzu deutlich.

Einen Akzent in dem bunt facettierten Kaleidoskop setzt die sogenannte Kinetische Kunst. Europa, konservativer, aber vielleicht gründlicher, hat ihr bis jetzt weniger Beachtung geschenkt. Wenn auch etliche Museen durch Ausstellungen Interesse bekundeten.

Die gigantischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts haben eine Kunst geprägt, wie sie in der gesamten Geschichte des Abendlandes unbekannt gewesen ist. Die Malerei des 16. bis zu der des frühen 20. Jahrhunderts kennt einzig die ideale Zweidimensionalität. Braque und Picasso brachen mit dieser Tradition, als sie im Jahre 1911 tatsächliche Gegenstände in ihre Bilder einsetzten und damit den Prozeß der „Verding-lichung“ einleiteten. Die Wirklichkeit soll nicht idealisiert und so auf eine Zweidimensionalität reduziert, sondern in ihrer natürlichen Dreidimensionalität belassen werden. Diese Dreidimensionalität wird teilweise durch Pop, vor allem aber in der Kinetischen Kunst, durch eine vierte bereichert: die Zeit! Bewegung ist hervorstechendes Charakteristikum der Kinetischen Kunst. Aber auch das Licht und vor allem das Geräusch wirken bestimmend.

Gebrauchte Maschinenteile, Eisen, Draht, verrottet und auf irgendeinen Abfallhaufen verbannt, dienen als Material. Der

Motor, die Maschine läßt die Teile kreisen, sich treffen und aneinanderschlagen. Licht zuckt und glüht in verschiedenfarbigen Lämpchen oder wird hervorgerufen durch Projektionen, welche diese ganze Konstruktion in farbige Lichtgarben baden. Und die Geräuschskala reicht vom halblauten, sphärisch schwingenden Ton, ähnlich jenem der Blektronen-musik, bis zum kaum ertragbaren Lärm, welcher vor nicht allzulanger Zeit das Museum in Pittsburg zwang, jeden zweiten Tag die Museumswärter zu wechseln. Es sind also sämtliche Faktoren der Technik, welche hier komprimiert und auf verschiedenste Weise kombiniert die überraschendsten Effekte hervorrufen.

Ebenso wie Pop — wenn auch in abstrakterer, kühlerer Art — liegt der Kinetischen Kunst das Thema: Mensch und Zivilisation, Mensch und Maschine zugrunde. Die Zerreißprobe der Technik — bestürzend dargestellt von einem der Hauptvertreter der Kinetischen Kunst in New York, dem Schweizer Jean Tinguely, in einer Konstruktion „dissecting machine“, welche in einer amerikanischen Zeitschrift mit „Kinetik craze“ betitelt wurde. Das Aufeinandertreffen bestimmter Teile, Reibung, das Kollern von Kugeln und dadurch hervorgerufene Geräusch soll zufällig, ohne innere Gesetzmäßigkeit geschehen. Die Maschine, in allen ihren Elementen dargestellt, verneint sich zugleich selbst.

Und als eine von Tinguelys Konstruktionen, welche zu Beginn dieses Jahres in einer Ausstellung im Jewish-Museum in New York zu sehen war, auseinanderbrach, weil sie in ihrem Material und in ihrer Ausarbeitung den ständigen Rotationen nicht gewachsen war, rief dies ein entsprechendes Aufsehen, durchsetzt mit Belustigung und Sen-sationsmacherei, hervor. Tinguely selbst soll diese Tatsache vor allem Spaß gemacht haben, da sie ein Beweis dafür sei, daß seine Konstruktionen nie so funktionierten, wie sie eigentlich sollten. Für die Museumsdirektoren allerdings ergeben sich daraus Probleme anderer Art. Und in Amerika gingen viele daran, eigene Mechaniker anzustellen, welche die Defekte dieser Maschinen auszubessern haben.

Die Anfänge der Kinetischen Kunst, über welche sich im Augenblick die Gemüter erhitzen, reichen zurück bis zum Beginn unseres Jahrhunderts, als Marcel Duchamp aus einem Fahrrad das erste Mobile baute. In jene Zeit, als Geschwindigkeit zu einem wichtigen Faktor wurde, als Marriot in Dayton Beach mit einem Stanley-Dampfwagen über 200 Stundenkilometer erreichte und Filippo Tommaso Marinetti im ersten Manifest des Futurismus, das Gino Severini im Figaro vom 20. Februar 1909 veröffentlichen ließ, schrieb: „Nous declarons que la splendeur du monde c'est enriohie d'une beaute nouvelle: la beaute de la vitesse.“ Im Jahre 1913 erklärte Luigi Russolo Geräusche für Musik und gab in Italien, Paris und London Konzerte mit dem ersten Orchester der „Intonarumori“, das waren von ihm erfundene mechanische und elektrische Krachmaschinen. 1920 erklärten Antoine Pevsner und Naum Gabo in einem in Moskau veröffentlichten „Realistischen Manifest“ die Kinematik als ein neues Element der Kunst. 1938 gab Viktor de Vasarely ein Manifest der Maschinenkunst heraus und baute eine „Maschine, die Kunst macht“. Nach dem zweiten Weltkrieg traten dann Jean Tinguely und einige Jahre später Nicolas Schöffer an die Öffentlichkeit. Mit ihnen und ihren zahlreichen Epigonen wurde die Kinetische Kunst sozusagen salonfähig gemacht. Und in der diesjährigen Biennale von Venedig gewann ein Vertreter der Kinetischen Kunst den ersten Preis.

Osterreich, konservativ und leicht schreckhaft, wenn es etwas aus dem üblichen Rahmen Fallendes zu fördern gibt, hat es doch nie an Talenten fehlen lassen. Der Maler Georg Rauch, wohnhaft in Wien, zeigte sich schon als Kind von der rollenden Kugel fasziniert. Und sie ist es auch, welche in seinen Werken eine dominierende Rolle spielt. Hüpfend, springend und gleitend bewegt sie sich durch ein Gewirr von Drähten, Plexiglas und Kunststoffsplittern, Holzteilen und Metallrädchen, um dabei einsam vibrierende Töne und damit weltfern wirkende Stimmung zu erzeugen.

Rauchs Doppelbegabung — Künstlertum auf der einen und technisches Interesse auf der anderen Seite — führte zu skurrilen, in ihren Anfängen fast barocken Draht- und Eisenkonstruktionen, welche sich später zu klaren und sparsamen Kombinationen vereinfachten. Im Jahre 1964 veranstaltete er im Künstlerklub im Palais Pälffy unter dem Titel „Rolloide“ eine Ausstellung dieser Werke, welche ein überraschend gutes Echo fand. Im Auftrag Prof. Dr. Schwanzers hat er eine der fünf Skulpturen, welche vor dem österreichischen Pavillon der Weltausstellung in Montreal die fünf Grundpfeiler der österreichischen Wirtschaft symbolisieren sollen, herzustellen: zwei bewegliche, gegeneinander gestellte und gerippte Kegel werden durch Wasser angetrieben und symbolisieren so die Wasserkraft.

Das Rauchsche Atelier am Julius-Tandler-Platz wirkt mit seinen phantastisch verschlungenen Drahtkörpern, rotierenden und kunstvoll facettierten Scheiben, schnarrenden Uhrwerken und behutsam tastenden Antennen wie ein Hokuspokusscherz. Das Ding an sich ist schön. Es spricht seine eigene Sprache.

Neben Georg Rauch und in Zusammenarbeit mit ihm hat sich noch eine zweite und sehr junge Begabung bemerkbar gemacht. Leo Stejskal, 22 Jahre alt, zeigt bewegliche Eisenkonstruktionen, die zu einigen Hoffnungen berechtigen.

Der Vergleich mit der Marionette scheint bei Pop ebenso wie bei Kinetischer Kunst nicht zu weit hergeholt. Die seltsame Faszination, welche eine Marionette auszuüben vermag, erklärt sich aus dem Zusammenspiel von Materie und Geist. Die Mechanik vermag einem toten Gegenstand — scheinbar — Leben zu verleihen. Während jedoch die Marionette das ursprüngliche, überlieferte Bild des Menschen wenigstens nach außen hin bewahrt, hat Pop, die Kinetische und damit die moderne Kunst überhaupt radikal mit dieser Tradition gebrochen. Der Mensch wurde seinem natürlichen — und vom Schöpfer so gewollten — Abbild „verfremdet“, er wurde dem Prinzip der Mechanik untergeordnet. Was die Marionette sozusagen verschleiert bewirkte, eingehüllt in das gewohnte und daher weit weniger beunruhigende Image des Menschen, das provoziert die moderne Kunst deutlich und schockierend.

Die Frage, ob die Auswüchse der Zivilisation hierbei verherrlicht oder verdammt, kritisiert oder beschönigt werden, ist inzwischen der Auffassung gewichen, daß Kunstwerke eben vieldeutig seien. Die Maschine vermenschlicht — der Mensch verdinglicht. Wer zieht die Grenzen?

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