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VOM ROKOKO ZUM EMPIRE

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Der Kupferstich als vervielfältigende Kunstübung, aus der sich die anderen Tiefdruckverfahren ableiteten, hatte seinen Ursprung in der Technik der Ziseleure und Goldschmiede. Schon vor dem 15. Jahrhundert pflegten die italienischen Goldschmiede ihre Gravierungen zur Kontrolle abzudrucken, bevor sie die Ritzzeichnungen in Silber mit Schwefelsilber ausfüllten.

Während sich im Norden, vor allem in Deutschland, daraus eine selbständige Stilentwicklung ergab, blieben in Italien die

„Mädchenkopf“ von Louis Martin Bonnet nach Francois Boucher

Stecher von den Malern abhängig, ahmten die Techniken der Stift- und Federzeichnungen nach und beschränkten sich auf die Reproduktion von Bildern. Eine ganze Schule von Reproduktionsstechern, ihnen voran Marc Antonio Raimondi, arbeitete zum Beispiel nach Zeichnungen und Gemälden Raffaels. Ein solcher Reproduktionsstich Raimondis nach Raffael diente Jahrhunderte später Manet als Kompositionsvorlage für das „Frühstück im Freien“. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ging dann auch im Norden die Blütezeit des Originalstiches zu Ende. Sie wurde abgelöst von den technisch hervorragenden Leistungen der Stecherschule, die Rubens ins Leben rief, um seine Bilder graphisch wiederzugeben und zu verbreiten. Ihr routiniertes Können nutzten dann die Franzosen, als am Ende des 17. Jahrhunderts die Bildniskunst am Hofe Ludwigs XIV. einen bedeutenden Höhepunkt erreichte, zur Wiedergabe dieser bedeutenden Werke der Repräsentation. Sehr bald kombinierten sie die Grabstichelarbeit mit der Ätzkunst der Radierung, um die malerischen Feinheiten der Vorbilder möglichst getreu ins Schwarzweiß zu übersetzen. Im ganzen 18. Jahrhundert hatte Paris eine führende Rolle inne in der Stichkunst, der auch die Entstehung des Farbkupferstiches zu danken ist.

Sehr früh schon hatte sich in den graphischen Künsten das Bestreben gezeigt, über die engen Grenzen des Schwarzweiß hinauszukommen und in mehreren Farben zu drucken, was zuerst mit Erfolg im Holzschnitt gelang. Anfang des 17. Jahrhunderts färbte dann Hercules Seghers, der Zeitgenosse Rembrandts, seine Landschaftsradierungen ein und lavierte noch zusätzlich die einzelnen Blätter. Der eigentliche Erfinder des Farbstiches aber war der geniale Jacob Christof le Blon (1667 bis 1741), der 1710, von Newtons Farbenlehre angeregt, in Amsterdam damit begann, von drei Farbplatten zu drucken und so versuchte, Ölgemälde zu reproduzieren. Obwohl die Schabkunstmanier (auf der gleichmäßig aufgerauhten Kupferplatte werden die hellen Stellen geglättet) in der er arbeitete, für seine Ziele wenig geeignet war, gelangen ihm vor allem nach Hinzufügen einer vierten Platte für die Schwarzwerte hervorragende Leistungen. Seine Arbeiten sind heute äußerst selten, da sie wie Ölbilder gefirnißt und gerahmt oder einfach an die Wand geklebt wurden. Eigentlich waren erst durch die Erfindung der Aquatintatechnik durch Le Prince im Jahre 1765 die Voraussetzungen gegeben, die es dann Francois Janinet (1752 bis 1813) ermöglichten, im Farbstich die stärksten Wirkungen zu erreichen. Janinet kombinierte die Aqua-tinta mit Schabkunst und Punktierstich und übersetzte seine Vorlagen mit größtem Einfühlvermögen in die neue Ausdrucksform. Außerdem zog er Aquarelle und Zeichnungen dem Ölbild vor und erreichte in deren Wiedergabe fast den eigenartigen Zauber der Originale. Nach eigenen Entwürfen arbeitete Louis Philibert Debucourt, der im technischen Bereich Janinet noch übertraf. Seine Genreszenen, Mode- und Sittenbilder sind ein anschaulicher Bericht des Pariser Lebens seiner Zeit. Besondere Bedeutung hatten in Frankreich noch Gilles Demarteau, der sich vor allem durch die Reproduktion von Kreide- und Rötelzeichnungen auszeichnete, und Louis Martin Bonnet, der täuschend ähnliche Drucke nach Pastellen herstellte. In ihrem technischen Raffinement verwendeten die Franzosen bis zu neun Farbplatten, um sich den Originalen anzunähern, im Gegensatz zu den Engländern, die nur von einer verschieden eingefärbten Platte druckten und die lediglich den Punktierstich neben der Schabkunstmanier benutzten. Die künstlerische und technische Unterlegenheit dieses Verfahrens gegenüber dem der Franzosen ist evident, die Zahl der Neudrucke der trotzdem interessanten und reizvollen Blätter Legion.

Die Welt, die uns der französische und englische Farbstich erschließt, ist schillernd und voll Bedeutung. Die Bedeutung resultiert aus dem, was er darstellt und was er selbst bedeutet. Er spiegelte die Kunst seiner Zeit, die wiederum das Gleichnis einer sich wandelnden Situation war, in der sich ihre Inhalte und ihre Funktion änderten. Am Anfang des Farbstiches standen neben den Bildnissen der Mächtigen und der Heroen des Geistes die Reproduktionen nach Watteau, Fragonard, Boucher, Robert und Lavreince. Sie kennzeichnen eine Welt der Dekadenz und der Agonie, aber auch das Erwachen eines neuen Gefühls, das zuerst unterschwellig, dann immer mächtiger an die Oberfläche drängte.

Watteau, ein zugewanderter Proletarier, schwindsüchtig und melancholisch, hat der Welt des Rokokos in seinen Bildern ein elegisches Denkmal gesetzt, das in seiner künstlerischen Form selbst und in seinen Inhalten die ganze Essenz dieser Zeit in sich trägt. Die Stimmung des Herbstes und der Abenddämmerung, die seine Bilder durchweht, umfängt unsäglich preziöse Figuren in kostbaren Gewändern, die dem fernen Glück der Liebesinsel — oder ist es eine Toteninsel — zustreben oder in komödiantischen Gebärden den verschiedenen Attitüden des Eros huldigen. Unter ihnen, die sich wie auf einer Bühne bewegen und posieren, steht manchmal einsam, hieratisch streng, wie ein ängstliches Atemr holen, ein Mensch, der „Gilles“, der Narr, der unter Puppen, die unsichtbaren Schnüren gehorchen, zum Weisen wird. Oder auf der einsamen Anhöhe allein der Savoyardenknabe mit seinem Murmeltier, einsamer, trauriger als die Bauern der Le Nain, deren lastendes Dasein beinahe biblische Größe hat. Diese Szenen — und nicht nur die Watteaus, auch seiner Zeitgenossen — sind Dokumente der Auflösung, in der Art, wie die Atmosphäre hereindringt, die Figuren zittern macht und sie zu zersetzen scheint, die Natur wuchernd und übermächtig wird. Die erhabene Feierlichkeit Lorrains ist dem nervösen Parfüm der Boudoirs gewichen, die Kunst der großen Empfindung einer Kunst der Nerven Was hier und vor allem auch in den Farbstichen an uns herantritt ist das Intime, das oft unerträglich Verfeinerte — keine Spur mehr vom großen Pathos des Barocks —, eine Sensibilität, die mit morbider Lust den grimassierenden Regungen des Privatesten nachgeht.

Die elegante Geste kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Lust dieses Jahrhunderts in einer verfeinerten Form der Selbstzerstörung bestand, der vor allem die aristokratischen Schrittmacher der Revolution huldigten. Es ist, vergessen wir nicht, die Zeit de Sades. Und was ist die widergöttliche Welt de Sades, ihre Gewalt- und Bluttaten, die ihre grauenhafte Entsprechung erst in unserem Jahrhundert fanden, denn anderes als der verzweifelte Schrei quälender geistiger Selbstzerstörung, die an den Fundamenten rüttelt, um — das Bleigewicht des Verstandes abstreifend — das „ursprüngliche“ Gleichgewicht wiederzufinden?

Diese Zeit, wie wir sagten, drängt nach dem Intimen. Ein Stich von Debucourt, „Großmamas Geburtstag“, zeigt es uns — beängstigend, vergiftet von Nebenbedeutung. Der alte

Wüstling, der sich über die Gruppe des puppenhaften Kindes und der hexenartigen Großmutter beugt, scheint dem Beschauer zuzuzwinkern, zu bedeuten, daß alles sowieso nicht seine Richtigkeit hat. Der verschämten jungen Mutter sind wir geneigt, alle Laster zuzutrauen, und können in dem das Schweigen heischenden Mann den legitimen Cicisbeo sehen. Eine Atmosphäre psychologischer Verlogenheit durchzieht die Darstellung. Man beachte, daß der Wüstling die Hände beider Frauensfiguren hält, eine Vieldeutigkeit, hinter deren Schlüpfrigkeit Haß zu stehen scheint. Von hier ist nur ein geringer Schritt zu Goya und seinen Hexen und Dämonen. Dies ist die Zeit der „Gefährlichen Liebschaften“ eines Choderlos de Laclos, der das Schachspiel des Bösen auf eine geniale selbstzerstörerische Formel gebracht hat. Die Melancholie, die Grimasse, die höchst aktuelle Angst vor der Langweile endeten auf der Guillotine ... Au der gestelzten Dedikation des Blattes an Marie Antoinette mit ihrem Gemahl und dem Dauphin wurde der gellende Schrei der Fischweiber um das Schafott. Die Symbole von Hoffnung und Liebe der Nation wurden wenige Jahre später zu solchen des Hasses und der Vernichtung. Aus der Revolution entstand der Diktator. In der Albertina hängt Napoleon neben Pius VII. (aquila rapax). Damit, aber auch mit der Darstellung der bäuerlich proletarischen Sitten der neuen bürgerlichen Gesellschaft, endet der Farbstich. Das Völkchen, das sich in seinen letzten Jahren in Frankreich auf den Blättern tummelt, sind die Flaneure und die „Damen“ des Palais Royal.

A nders ist es in England. Hier gibt es immerhin noch die Aristokratie des Blutes und der Bühne, die es abzubilden gilt, Komödianten und Adelige treffen sich in gleicher Bedeutung und werden darin vielleicht noch durch die Wiedergabe erlesenen Pferdefleisches in den berühmtesten Rennern dieser Tage übertreffen. Daneben liefert die Zeitgeschichte das Mittel zur Propaganda, die schrecklichen Ereignisse auf dem Kontinent werden verdeutlicht, vervielfältigt. Sie vor Augen habend, werden die Truppen Wellingtons dem Korsen widerstehen. Der Farbstich ist — die Kunst vervielfältigend — Symptom der Verbürgerlichung, des unaufhaltsamen Heraufkommens einer neuen Gesellschaft, ihres Assimilationsbestrebens im billigen Gleichtunwollen der Reproduktion. Seine Künstler wurden als den Schöpfern der Vorbilder ebenbürtig verehrt, ihre nachschöpferisch-schöpferische Leistung immer mehr von billigeren Verfahren, der Lithographie, der mechanischen Reproduktion verdrängt. In den Sammlermappen begann sich ganz nebenbei das Musee Imaginaire zu häufen, jene riesige Bestandsaufnahme menschlicher Kunstleistungen, die heute in den Kunstpublikationen keine Grenzen, keine Nationen und keine trennende Zeit mehr anerkennt. Die Chinoiserien, der Traum von einem Land der Weisheit, des Adels und der Gesittung, vergeblich geträumt, wurden zu Vorläufern des Einflusses asiatischer Kunst im 19. Jahrhundert. In dieser besten aller schlechten möglichen Welten, die im Terror und den Kataklysmen großer europäischer Kriege endet, scheint nichts anderes übrigzubleiben, als den eigenen Garten zu bebauen. Die Fragwürdigkeit der menschlichen Natur wurde von der scheinbar unwandelbaren Größe des Kosmos, landschaftlicher Natur, abgelöst, die nun zum Spiegel der Gefühle wird. Wie zweifelhaft auch diese Flucht sein sollte, mußten die nachfolgenden Generationen beweisen.

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