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Das Zürich Pestalozzis

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Wenn man den verwüsteten Städten Mitteleuropas ins schmerzverzogene Afttlitz sdiaut und in ihm nicht nur die vielgeliebten und bekannten Züge ihrer Gegenwart, sondern auch die ihrer heimlichsten ruhmvollen Vergangenheit von Grauen erschlagen, von Zerstörung überwuchert sieht, dann sucht man wohl unwillkürlich beklommenen Herzens die Städtebilder innereuropäisdier Grenzen ab, ob nicht eines wenigstens nodi sein unverdorbenes und ungewandeltes Gesicht vor der unerbittlidien Geißel des Krieges bewahren konnte. Und siehe, innerhalb des deutschen Sprachraumes sogar findet man ein solch unverwischtes Gepräge friedlicher Wohn- und Siedlungsbestimmung. Ein Land, das auch in unserem schrecklichen zwanzigsten Jahrhundert nicht aufgehört hat, gepflegte und wohlerhaltene Heimat seines Volkes zu sein. Ist es da verwunderlich, daß man im Eebevollen Mosaik seiner Betrachtungen nicht nur das Leben der Jetztzeit dieses Landes aufrollt, sondern auch mit sei-

nen forschenden Gedanken hinuntersteigt in das Gefältel der Jahrhunderte seiner Geschichte?

Wir finden die großen Gedanken, die lange vor uns gedacht wurden, wieder. Die alten Formen und Gestalten gewinnen Leben, Wir erkennen ihre Umrisse und die riefe Bedeutung und Gültigkeit ihrer inneren Gesetze wird uns, an der Perspektive des Heutigen gemessen, doppelt klar.

Eine Stadt „sammelt in der Entwicklungsgeschichte ihrer Epochen auch alle geistigen Eindrücke ihrer Umgebung. Sie wird bestimmt vbn den guten oder schwachen Vorbildern, die in diesen Zeiten lebten und es ist ein Glück, daß das ausgehende 18. Jahrhundert, dessen Zürich uns in einer Reihe wertvollster ansdiaulicher Beweisstücke aus dieser Zeit vor Augen tritt, dieser Vorbilder viele und große hatte. Lavater und Pesta-

lözzi, Bodmer und Breitinger — die halbe Welt sprach von ihnen und wenn sie auch in ihren Thesen heiß umstritten und Gegenstand der bewegtesten Kontroversen waren, am Für und Wider schliffen sich die Anschauungen, und die geistige Reife und Klarheit, in der wir sie heute sehen, ihre bahnbrechende Sicherheit, bleibt ihnen unbenommen und unantastbar ihr Verdienst für immer.

Die Ströme dieses Lebens der Fülle und des geistigen Imperativs, die von diesen Neuerern des 18. Jahrhunderts ausgingen, vermischten sich aber nicht nur gärend und drängend mit der ruhenden Masse des ideellen und kulturellen Besitzes dieser Stadt. Nein, Schwung und Kraft und Schönheit wurden unabweisbar auch steinernes Gesetz. Die bauliche Entwicklung Zürichs zu dieser Zeit verdankt dieser Belebung der starren Formen ihre edelsten architektonischen Schönheiten.

Vieles davon ist freilich heute verschwunden. Die fortdrängende Entwicklung der modernen. Großstadt verlangte Raum und Gepräge. Aber was davon noch erhalten ist, sind Schätze, daran sich unser Geist und unser Auge erfrischt, sooft wir sie be-1 trachten.

Wie malerisch sind nur zum Beispiel die alten Zunfthäuser am Limmatufer gelagert] Hohe, edle Patrizierhäuser, schmiedeeiserne Gitter und Reliefs, glänzende Tradition alter Handwerkskunst, die uns mächtig anrührt selbst durch die jetzige profane Verwendung ihrer Häuser hindurch.. Am äußeren Anblick wurde durch die Grundaufschüttung allerdings viel verdorben.

Pestalozzis Jugendhaus, das „Rote Gatter“ am oberen Hirschengraben, ist noch erhalten, Bodmers Wohnhaus, 1665 erbaut, steht noch. In ihm empfing er die Besuche Klopstocks, Goethes, Kleists und anderer. In Geßners Vaterhaus „Zum Schwanen“ 'kehrte 1766 Mozart ein, auch Wieland war dort Gast. Lavaters Wohnhaus „Zum Waldries“ beherbergte 1775 Goethe, und auch Pestalozzi ging dort ein und aus.

Aber auch das alte Kornhaus, der Feldhof, das Bauhaus, Rathaus und Fraumünster, 853 gegründetes Frauenkloster, müssen nach den Stichen von Füßli um 1710 zu schließen, wahre Kostbarkeiten an baugeschichtlichem Wuchs und edler Linienführung gewesen sein.

Und das heutige Großmünster, vom 11. bis 13. Jahrhundert erbaut, beweist in der zwingenden Wucht seiner prachtvollen, monumentalen Türme, aus schwerem, romanischem Fundament aufragend, eine Reinheit, Kraft und Geschlossenheit des Baustils, die ergreifen. Von der Ruhe, Schlichtheit und Fülle seiner Formen erhält die ihm zugewandte Stadt im fiebernden Pulsschlag ihres modernen Lebens die stetige, große, abgeklärte und ausgeglichene Note.

Ein Gang durch die Altstadt, ein Besuch der vielen, mit Gedenktafeln versehenen alten Häuser und Giebelstuben versetzt uns mit einem Schlage in das Zürich zur Zeit Pestalozzis Und wenn wir hinter den vielfach

zerkratzten, mit eingeschnitzten Namenszügen versehenen rohen Holztischen in Gottfried Kellers Stammkneipe sitzen, wird uns das geistige und seelische Antlitz dieser vergangenen Zeit unerhört lebendig. Auch das Chor der Wasserkirche und das herr-

liche, heutige Rathaus bewahren unverrückbar die kunstvollen Zeichen der Zeit, in der sie geworden waren.

Kehren wir dann von eigenen Eindrücken und Erkenntnissen erfüllt in die Ausstellung im 'Helmhaus zurück, so finden wir der Erklärungen und Dokumente aus jener Zeit übergenug vor. Ob wir nun in den vergilbten, kostbaren alten Handschriften lesen, Gedanken und Gedankenrichtungen in Bildern und Stichen verkörpert sehen,“ immer spüren wir primär den geistigen Einfluß, den diese Stadt aus dem Leben und Wirken ihrer großen Zeitgenossen gezogen und der ihr zu dauerndem Besitz und bleibendem Gewinn wurde.

In diesem Sinne bewundern und betrachten wir auch das vielgerühmte instruktivste Ausstellungsobjekt der Sammlung, ein bis ins kjleimte naturgetreues, großes, zerlegbares Modell der Stadt Zürich, wie sie sich zur Zeit Pestalozzis der Welt zeigte. In zwei-undzwanzigjähriger, künstlerischer Kleinarbeit und unnachahmlicher Hingabe an das Werk schuf es der in Zürich lebende Architekt Langemarck nach einem alten, kostbaren Stadtplan aus den Jahren 1788 bis 1793. Und in diesem Sinne neigen wir uns dann auch vor der beim Eingang der Ausstellung aufgestellten, blumengescnmück-ten Büste jenes großen Meisters Pestalozzi, dessen Gedächtnis nicht nur die Schweiz, sondern die Welt heuer ehrend feiert.

Da wäre ich denn einmal wieder in der Metropole deutscher Intelligenz, wie Berlin sich so gerne nennen hört. Wahr ist's, Deutschland hat nur eine Stadt, die den Namen einer großen gleich auf den ersten Blick erobert, und diese eine Stadt ist Berlin. Was sind das für Straßen, für Plätze und Gebäude; man fühlt sich an Paris, sogar an Rom erinnert. Aber freilich, man darf nicht näher hinsehen, man darf nur blinzeln, wenn man den Eindruck nicht wieder verlieren soll. Denn genau 'betrachtet: wie leer sind diese Straßen, wie öde diese Plätze, wie wenig solid diese Gebäude. Alles ist wie auf den Kauf gearbeitet, die Erde braucht sich nicht zu schütteln, um es zu zerstören, es fällt schon von selbst wieder um. Wohl gibt es Zeugnis von einem außerordentlichen Dasein, aber nicht von dem Dasein eines Volkes, das sich behaglich einrichtet, sondern von dem Dasein eines mächtigen Individuums, das sich ein Denkmal setzte. Friedrich der Große ist es, der uns an allen Ecken und Enden entgegentritt, denn auf sein Kommando haben sich die Häuser ebensogut in Reihe und Glied gestellt, wie seine Soldaten, und man hat das Gefühl, daß sie ebensowenig in alle Ewigkeit so stocksteif stehen bleiben können, wie diese stehengeblieben sind. Wie ganz anders ist das mit Wien 1 Da ist alles gewachsen, nichts gemacht; der Stephansturm scheint unmittelbar in der Erde zu wurzeln, und Paläste und Hütten scheinen sich, wie Vasallen um ihren Herrn und Gebieter, in treuer Anhänglichkeit um Ihn geschart zu haben. Dazu die üppige Natur, die hier nur für's Herbarium produziert, so daß der Frühling notgedrungen seine Erquickungen ganz homöopathisch abmißt und den Duft einer Blume auf tausend Menschen verteilt 1

: Friedrich Hebbel: „Reiseeindrücke“, 1851

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