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DIE ABSTRAKTEN WERDEN MÜDE

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Die einstige „Ecole de Paris“ wurde von Erscheinungen wie Cezanne, van Gogh, Gauguin und Braque, Picasso, Leger und „Der Blaue Reiter“, auch noch von Kandinski und Klee bestimmt. Ihr Erbe wird von der neuen Schule, teils in Auflehnung gegen die großen Alten, weitergeführt. Ohne sich an Programme oder an die Stadt Paris zu binden, wirken Künstler aus vielen Nationen an und in der „Nouvelle Ecole". Viele leben in der Provinz, in Arles, in der Bretagne, in der Provence, und sie sind so verschieden, daß ihre Zugehörigkeit zur neuen Ecole fast nur darin besteht, daß sie durch Arbeiten von Niveau Neues suchen.

Alles ist im Fluß, jeder Tag bringt Ueber- raschungen. Niemand weiß, was morgen sein wird. Dennoch zeigt der Blick über die Jahre seit 1945, daß zwei Grundströmungen das Bild beherrschen: der Zug zur Abstraktion auf der einen, und Malergebnisse, die an den Impressionismus erinnern, auf der anderen Seite. Der Surrealismus ist ohne nennenswerte Nachfahren auf der Strecke geblieben.

Der Weg zur Abstraktion führte über eine konstante Fortbewegung von der Dingwelt. Aus dem Bedürfnis nach Uebersicht und Klarheit wurde die Natur immer stärker durch Zeichen ersetzt, die nicht mehr für das einzelne, spezielle Ding standen, sondern für dessen überindividuelles Sein.

Dies alles war bereits in der alten Ecole begonnen worden — der Sprung in absolutes Neuland wurde getan, als die Zeichen sich emanzipierten, als sie Erscheinungen für sich und um ihrer selbst willen wurden. Nun erst gab es Abstraktionen im Vollsinn des Wortes. Zunächst wurde das natürliche Erscheinungsbild gerade noch als Reiz benützt, der Form- und Farbphantasien auslöste, die nicht mehr dechiffrierbar waren. Mit dem nächsten Schritt wurde auch diese allerletzte Verbindung zur Natur aufgegeben, mit dem Ergebnis, daß dem ungebundenen Walten der Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt sind.

Hier aber wartete bereits die Anarchie der Möglichkeiten, gebieterisch Grenzen schaffend, die nicht überstiegen werden können, ohne im Unsinn zu stranden. Der Weg von der verdichteten Darstellung der Welt bis zu ihrer radikalen Abschaffung hat weniger als ein halbes Jahrhundert gedauert. Er war unerläßlich als Kraftprobe des Geistes, als Ausloten des Möglichen und Unmöglichen, als mutiger Sprung über Abgründe.

Wir wollen bekannte Namen wie Manessier, Giacometti oder wie Dubuffet der seinen Ruhm auch Modejournalen verdankt, die sich als Propagandisten seines weltschmerzlichen Gebarens bestätigten beiseite lassen. Dubuffet zum Beispiel, bei uns in Laienkreisen kaum genannt, ist einer von jenen, deren Einfluß noch nicht abschätzbar ist, auf eine Weise, die aufschlußreich bleibt.

Bis vor etwa zehn Jahren verwendete er traditionelle Farben — dann aber griff er zu Teer, Asphalt, Kies und ähnlichem Material. Er stellte es zu Tafeln zusammen, in die er mit dem Stichel menschliche Gestalten eingrub. Er kümmerte sich nicht um die Skandale, die er hervorrief, und wanderte, ein jGenie des Materials, von Technik zu Technik.

Ihm folgte eine Reihe von Abstrakten. Fasziniert von seinen Bildbaustoffen versuchten sie, diese allein zur Geltung zu bringen, sie zu verabsolutieren, etwas wie die Inkarnation des Stoffes ahnend. Doch es zeigte sich, daß die lebhaften Wirkungen, die Dubuffet erzielt hatte,

von den von ihm angedeuteten menschlichen oder anderen Figuren nicht zu trennen waren — diese erst schufen die Spannung, aus der das Material sein Leben bezog. Mit dem Verschwinden der Figuren erlosch auch die Kraft des Materials. Ein gleichnishafter Vorgang!

So sehen wir Maler wie Arnal, Appel, Ho- siasson dicke farbige Pasten zu wirbelnden Wogen auftürmen — kaum war der Schock über diese vulkanischen Eruptionen, in denen ein frenetisches Rot überwog, vorbei, kam auch schon die Abkühlung und die nicht zu verhindernde Erstarrung.

Abstrakte wie Dewasne, Herbin, Magnelli, Mortensen sind rasch gealtert und finden keinen Nachwuchs. Poliakoff turnt über einfachen Formen mit geschickt harmonierenden Farben, Soulages schafft mit breiter Spachtel Schattenbänder, die die Illusion von Raum ergeben. Starken Einfluß hatte de Stael, der 1954 starb; eine Reihe von Malern ging durch ihn zur Abstraktion über. Doch er selbst hatte sich kurz von seinem Tode bereits wieder einer neuen Art figurativer Malerei zugewandt.

Einige Maler versuchen auch, sich an vegetativen Formen zu inspirieren, sie wollen Naturkräfte darstellen oder, wie sie es nennen, tellu- rische Kräfte. Dabei gelangen sie zu fast totemistischen Formen. Einige unter ihnen, mit betont schmutzigen Farben malend, suchen nach „Mysterien der Erde“, doch sie liefern nicht mehr als eine konfuse Pseudo-Mythenhaftigkeit.

Andere wieder geben sich vor allem den Geheimnissen des Lichts hin. So zeigt Matta, ein alter Maler des Surrealismus, beunruhigende Vegetationsformen oder, überraschend, eine Art von elektrischen Entladungen, manchmal mit einer seltsamen Phosphoreszenz der Malmittel, und er setzt müde Augen, die uns anstarren, in seine Bilder. Saby, ein Neuankömmling in Paris,

malt fremdartig wirkende’ Grotten in überirdischen Beleuchtungen, Riopelle, aus den Wäldern Kanadas stammend, bietet Kompositionen aus Farbstrichen, die an die wechselnden Lichtströme unter Baumkronen erinnern.

Vor, zwischen und nach diesen Malern stehen andere, die noch oder wieder ein näheres Verhältnis zur Natur haben. Bores, ein aus dem Kubismus gekommener Spanier, malt rhythmisch aufgebaute Fischer oder am Strand wartende Frauen, doch er wird weder anekdotisch noch erzählend, sondern zeigt einfach ein graziöses Spiel mit dem Licht. Edouard Pignon, aus der Nähe Picassos stammend, benützt mutig deutlichen Naturausdruck, doch nicht um die Welt nachzuahmen, sondern um sie auf nahezu expressionistische Weise neu zu schaffen. Zu jenen, die versuchen, den dramatischen Augenblick darzustellen, da im Bewußtsein des Menschen Einzelgegenstände mit dem Gesamteindruck der Welt verschmelzen, gehört Jean Bazaine, und er ist so zu einem der nobelsten Koloristen der Gegenwart geworden. Er ruft mit seinen Farbflecken Erinnerungen an Landschaften, Felsen, Bäume hervor und erinnert damit verblüffend an den Impressionismus, ja an den Pointillismus. Tal Coat zeigt sich fernöstlichen Landschaftsmalern wahlverwandt, seine meist nicht erkennbaren Gegenstände schweben wie Schilfblätter in irisierendem Licht.

Zu jenen, die sich mit Zeichen begnügen, gehören Singier und Esteve. Vor ihren Bildern läßt sich darüber nachdenken, warum das Zeichen eine letzten Endes zu unpersönliche Sache bleibt, als daß es dem Betrachter auf die Dauer widerstehen könnte. Der Schauende projiziert mehr oder weniger unbehindert seine eigene Stimmung und Vorstellung in das Bild, das auf diese Weise zum Freiwild wird.

Raoul Ubac versteht es, durch kräftige, doch unbenennbare Formen die Seelen von Landschaften auszudrücken, er formt selbst Schieferplatten seinen Bildern ein, aus denen man den Geist Flanderns, der Ardennen, der Vorstädte von Pafis hirauszufühlen vermag. ‘

Die unendliche Modulation von Formen und Farben kaum angedeuteter Hügel, den Wohlgeruch von Obstgärten weiß Zao-Wou-Ki zu suggerieren. Er scheute nicht davor zurück, einen gewaltigen Wandschirm auf seine Art zu bemalen, vor den Germaine Richier eine Skulptur aufstellte — ein seltenes Beispiel des Zusammenwirkens von Bildhauerei und Malerei, das Proteste auslöste. Junge Maler wie Kailos und Macris, die überaus leicht, gleichsam durchsichtig malen, runden das Bild der turbulenten Vielgestaltigkeit innerhalb der „Nouvelle Ecole de Paris" ab.

Die Vorkubisten und die Kubisten gaben ihren Bildern nie gesuchte Titel, sie begnügten sich mit sachlichen Hinweisen. Eine neue Art von Titeln kam, als die Bilder schwerer deutbar wurden, es wurde nötig, zur richtigen Spur zu führen. Die Surrealisten mit ihren schockierenden Bezeichnungen holten literarische Hilfswörter herbei. Heute nehmen die guten Abstrakten schlichte Titel wie „Komposition“ und dergleichen. Andere machen sich mit dem Titel Spaß und erwecken zuweilen Vergnügen — im Leser. Nicht vergnüglich, sondern lächerlich wirken aber Männer wie Mathieu, der seinen tu- multuarischen Abstraktionen sogar historische Bezeichnungen zulegt, ohne das Genie der Mystifikation, Dali, auch nur entfernt zu erreichen.

Ueberraschend für uns ist, daß die Entwicklung in Oesterreich nahezu konform verläuft. Das bezeugt einerseits das schnelle Funktionieren der geistigen Wege in Europa, die auch tief hinter den Eisernen Vorhang führen, anderseits das Vorhandensein zwingender innerer Notwendigkeiten auch dort, wo nicht viel mehr als Nachahmung vorliegt. Darum gilt es, das, was sich heute vor unseren Augen in der Malerei abspielt, mit jenem Respekt zu betrachten, der allen echten Lebensvorgängen zukommt.

Das Hauptmotiv der modernen Kunst scheint uns zu sein, daß die Drängenden und Stürmenden allenthalben an Grenzen gestoßen sind, die sich als unübersteigbar erwiesen haben, hinter denen nichts mehr liegt, das sich erobern ließe. Das große „Was nun?" steht über den meisten Bemühungen der ernst zu nehmenden Künstler. Keiner von ihnen will Vergangenes kopieren. Darum wird die Suche nach einem neuen Verhältnis zu Welt und Natur immer deutlicher.

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