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In die Freiheit verstrickt

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Die Soziologie stützt sich als Wissenschaft auf die Erforschung dessen, was tatsächlich ist. Kunstsoziologie wird, ebenso wie die mit ihr verwandte Kultursoziologie, noch nicht sehr lange betrieben, in eingehenderem Maß erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie läuft mit der Erkenntnis parallel, daß die Erscheinungswelt der Kunst in all ihren Sparten, ohne die Möglichkeit, sie in Verbindung mit ihren soziologischen Grundvoraussetzungen zu sehen und zu analysieren, geisteswissenschaftlich nur lückenhaft und einseitig erfaßt werden kann. Dies hängt gleichzeitig mit der Veränderung des methodischen Vorgehens in der Kunstwissenschaft zusammen. Die Frage jedoch, was tatsächlich ist und sein könnte, hat auch hier einige Verwirrung und eine ganz spezifische Problemstellung entstehen lassen, die uns sehr rasch bewußt wird, wenn wir uns mit der Vielfalt der Möglichkeiten, Thesen, Mutmaßungen und Fakten vertraut machen, die das Feld der Kunstsoziologie als einer in ihrem derzeitigen Stadium keineswegs eindeutigen Wissenschaft reichlich unübersichtlich werden läßt.

Schon die beiden möglichen Hauptausgangspunkte einzelner Betrachtungen sind verschieden: Man kann die Wirkung der Kunst auf das soziale Leben der Menschen studieren und anderseits typische Faktoren und Formen sozialer Organismen herauszuschälen versuchen. welche die Künste beeinflussen.

Kunst als „die andere Welt“

Hyppolyte Taine, der 1864 bis 1884 als Professor für Kunstgeschichte in Paris wirkte, im übrigen aber Geschichtsschreiber und Geschichtsphilosoph war und geschichtlichen Gesetzen mit naturwissenschaftlichen Methoden auf die Spur zu kommen versuchte, sah im Kunstwerk nichts anderes als die Resultate einer bestimmten Rasse, einer bestimmten Lebenssphäre oder' eines bestimmten Augenblicks. Damit steht er in direktem Gegensatz zu modernen Anschauungen, nach denen sich Kunst als „die andere Welt“ (Malraux) konstituiert, die mit der Welt der Praxis auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen ist. Taine ist jedoch ein Beispiel dafür, wie sich die Grundlagen der modernen Kunstsoziologie im 19. Jahrhundert herausschälen und wie sehr sich ihre Anschauungen seitdem schon gewandelt haben. Taines englisches “Gegenstück, John Ruskin, bis 1884 ebenfalls Professor für Kunstgeschichte in Oxford, war darum bemüht, eine Erneuerung der Malerei und einen neuen Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Kunstgewerbe zu schaffen; er versuchte also, eine direkte, sozusagen gelenkte Entwicklung herbeizuführen. Dieses Bemühen hängt mit einer wesentlichen Tatsache zusammen, die den Künstler direkt betrifft. Für ihn gibt es in der Gesellschaft zwei Möglichkeiten: einen Vorzug zu genießen oder verachtet zu werden. Heute hat sich seine Position innerhalb der Gesellschaft, und sofern er die althergebrachte Vorstellung vom Künstler als Typus noch erreicht — was heute, wie wir noch sehen werden, nicht mehr unbedingt der Fall zu sein braucht -. eher zur zweiten Möglichkeit hin entwickelt.

Zweifellos können auch Kunstwerke einen geeigneten Aufschluß zum Verständnis einer Gesellschaft oder Gruppe geben. Umgekehrt ist ebenso richtig, daß eine Gesellschaft eine Kunst oder ihre Entwicklung verständlich werden läßt, ohne daß diese Kunst von ihr getragen oder akzeptiert weiden müßte — oder jedenfalls nur in ganz bestimmten Punkten.

Die rapide Entwicklung der Technik hat eine ebensolche Beschleunigung des Modegeschmacks und der Verschiebung künstlerischer Geschmacks-lcriterien zur Folge gehabt. Mit ihr entstand eine sinnlose Neuenings-sucht, die das Neue um der bloßen Neuigkeit wegen sucht. Der Kult der Originalität entwickelte sich bis zum Exzeß und wurde zum Maßstab des Werts. Je größer die Originalitätssucht des Künstlers wird, der damit einem Bedürfnis der Gesellschaft folgt, desto mehr schwindet seine Individualität, denn letztlich kann er sich von einer

Menge, die von denselben Gefühlen und Meinungen getragen wird wie er, nicht mehr unterscheiden. In diesem Sinn bewahrheitet sich auch der an sich völlig unorthodoxe Gedanke C. G. Jungs, der einmal postulierte, daß der Künstler ein Kollektivmensch sei, weil aus ihm das seelische Bedürfnis des Volks spreche. Dazu kommt, daß die neue Kunst in Großstädten wurzeit und hier sehr leicht einer Kollektivmeinung unterworfen wird. Im Zusammenhang damit wurde das frühe Ideal der Natürlichkeit mehr und mehr von dem der Künstlichkeit verdrängt. Dieser heute noch in keiner Weise überbrückten Divergenz ist es zuzuschreiben, daß das „Gesunde“, das „Schwache, Kranke, Degenerierte, Hochstapelnde und Verbrecherische“ als mit der Kunst verwandt anklagen kann (Arnold Hauser). Arnold Gehlen allerdings meint, daß der bedrückend schnelle und scharfe Wechsel der Kunstformen nicht als Mode abzutun sei, sondern ein Anlaufgesetz beweise, das sich dialektisch aus der Freiheit ergebe: „In die Freiheit verstrickt“, sieht er als die Situation der Kunst im 20. Jahrhundert an.

Innen- und außengeleiteter Typus

Das uns hier interessierende Problem kann jedoch noch unter einem anderen, von David Riesman aufgegriffenen, offensichtlich richtigen und erhellenden Aspekt gesehen werden, der allerdings auf der bekannten Gegebenheit von der Existenz des extrovertierten und des introvertierten Menschen fußt. Das System der Industriegesellschaft bildet nach Riesman ein dauerndes Anpassungsproblem, in dem der „innengeleitete“ vom „außengeleiteten“ Typ abgelöst werde, der sich ein- und umstellen kann, während der andere aus eigenen Entschlüssen handelt. Der von innen bestimmte Mensch erscheint als geistig und einen gesellschaftlichen Zustand repräsentierend, den es schon nicht mehr gebe, damit aber in seiner Um-;welt als Fremdling und das Gegenteil dessen, was Anpassung heißt. Nun ist es interessant zu versuchen, den zeitgenössischen Künstler unter dem Blickpunkt der Existenz dieser beiden konträren Formen des modernen Menschen zu sehen. In der Vorstellung, die sich die Gesellschaft vom Künstler gemeinhin macht, überwiegt die Meinung, daß es sich bei ihm ausschließlich um den „innengeleiteten“ Typus handeln könne, den es natürlich nach wie vor gibt, der aber viel-

fach auf die äußerlichen, modebedingten Erfolge der im hohen Maß ebenso existenten außengeleiteten, anpassungsfähigen Künstler verzichten muß, weil er in viel geringerem Maß als sie „ankommen“ kann. Der außengeleitete Künstler unterwirft sich allen neuen Strömungen bedingungslos und trägt dazu bei, Kunstwerke ein Konsumgut höherer Art werden zu lassen. Jenes Ethos, das bei einem Künstler einmal vorausgesetzt werden konnte, kennt er nicht. Er richtet sich nach der Nachfrage, nach der Marktlage, und mit ihm ein wesentlicher Teil des Kunsthandels, der Kritik und des Käufers, den das interessiert, was „man“ gerade für opportun hält. Auf diese Weise erklärt sich von selbst, warum wir heute von Büchern, Bauten, Ausstellungen und Bildern überschwemmt werden, die vielfach in keiner Hinsicht von einer etwas ernsthafteren Betrachtung, als sie heute vorgenommen wird, bestehen können. Die Industriekultur bildet ein Feld, das zur Anpassung zwingt und dem ,,in den Sternen wohnenden“ Künstler wenig Chancen einräumt. „In der Gegenwart engagiert“, sagt Hans Freyer, „aber in allen Entscheidungen und schon in allen Vorentscheidungen allein gelassen, auf ein Aktionsfeld verwiesen, das zugleich völlig determiniert und im höchsten Maße undeterminiert ist — in der Spannung zwischen diesen beiden Polen stehen alle Formen der geistigen Betätigung... Sie finden keinen Stil vor, der sie trüge, nicht einmal eine; Sprache, aus der sie schöpfen könnten. Der Stil muß immer erst gesetzt werden mit dem Werk, das ihn haben will, die Sprache muß immer . erst kreiert werden. Damit kommt es zu jener unabsehbaren Bewegung, die von der Seele über das Werk und von diesem auf sie zurückläuft.“

Als Ganzes genommen, zeigt die moderne Kunst deutlich, wie sich ein alter Kulturbcreich von innen her umgestaltet, um sich den Lebensgesetzen der voll durchgeführten Industrie-, gesellschaft einzufügen. „Diese Kunst hat die Bewußtseinsformen, die im Zu-

sammenspiel von Technik, Naturwissenschaft und Gesellschaft entstanden, völlig adopiert, das heißt: sie ist durch und durch experimentell (Gehlen).“ Das Experimentieren wird durchgeführt, bis eine Lösung gefunden ist, und das eigene Bild kann auf, dj*8* Weise zur Inspirationsquette. auf der Suche nach neuen, selbständigen Ordnungen werden, iaa fcijireJ&tn der alten Gebäude und der ,,Liquidation der Traditionsmassen“.

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