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Der Kunstkritiker:

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Renoir sagte einmal: „Die Malerei ist ein Handwerk wie die Tischlerei.“ Das haben, in ähnlicher Form, sehr viele Künstler gesagt, und gerade die bedeutendsten. Daraus spricht nicht nur Bescheidenheit, sondern vor allem Anständigkeit. Die Malerei ist eine Kunst, die unsere Sinne anspricht, sie ist sinnlicher als die anderen Künste. Sie geht vom Material aus. Wenn Kunstkritiker sprechen, fabulieren sie meist. Wenn Maler sprechen, reden sie vom Material; von der Staffelei, von der Leinwand, vom Pinsel, von den Farben, von den Formen, wie Picasso das gemacht habe und Leonardo jenes. (Glücklicherweise bzw. leider gibt es Ausnahmen.) Der Maler versucht zu lernen „wie man etwas macht“, er empfindet sich als Diener einer großen Sache — der Malerei, der Kunst. Die Besinnung auf das Handwerkliche ist mit eine der entscheidenden Einsichten, die wir der modernen Kunst zu verdanken haben; das alte „Bauhaus“ (von 1919 bis 1925 in Weimar, von 1925 bis 1933 in Dessau) — wie wir es heute sehen, eine der großen und befreienden Taten unseres Jahrhunderts — entstand in Verwirklichung dieses Gedankens.

Hat man also die Kunst als Handwerk anerkannt, so kann man nicht anders als modern sein; denn welcher Handwerker würde wohl neue Erkenntnisse über sein Handwerk und sein Material nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sich mit ihnen nicht auseinandersetzen? Daß Kunst Handwerk ist, bedeutet nicht, daß sie deswegen etwas Ungeistiges ist. Gerade die Menschen, die in ihrem Alltag gewohnt sind, mit ganz einfachen Dingen umzugehen, der Gärtner und der Förster, der Baumeister, aber auch der Naturwissenschaftler und eben der Künstler, kommen leichter als andere zu elementaren Einsichten. Und es ist der Vorzug des Künstlers vor seinen Mitmenschen, diesen Einsichten, die aus seinem Umgang mit der Welt erwachsen sind, Gestalt geben zu können.

Die meisten Menschen verstehen nichts vom Handwerklichen (wie sie, leider, auch nichts von Kunst verstehen). Sie achten nur auf den Inhalt; ob er „stimmt“, können sie nicht beurteilen; Naturtreue nehmen sie für handwerk-

liches Können (es kann es sein). Hier, glaube ich, beginnen die Mißverständnisse. Denn Form und Inhalt sind untrennbar eins; ein kitschigsüßliches Madonnenbild ist unwahrer und damit unchristlicher als ein Bild, das eine unangenehme, harte Wahrheit sagt, in einer Form, die als hart und unangenehm empfunden wird. Viele Bilder der deutschen Expressionisten (der Expressionismus war eine durchaus deutsche Sache), von Max Beckmann, Ernst Barlach, George Grosz und dem Oesterreicher Kokoschka, aber auch einige von Picasso, sagten eine solche Wahrheit und wurden deshalb von allen, denen sie diese Wahrheit ins Gesicht sagten (im eigentlichen Wortsinn), gehaßt und geschmäht. Man warf ihnen eine „Deformation“, eine „Entstellung“, eine „Zerstückelung“ des Menschenbildes vor. Aber, ach, was diese Maler anzeigten, was sie anklagten, das war nicht ihr Werk, das war die Seelenlosigkeit, der sie Tag für Tag begegneten, unter der sie litten, der sie entgegentraten, gegen die sie sich mit allen Fasern des Herzens wehrten und an der einige von ihnen zugrunde gingen.

Man verlangt vom Künstler aber mehr als von allen anderen Menschen. Zum Teil in Schlagworten: „er solle die Welt erneuern“, oder: „das Abendland wiederaufbauen“. Darauf einzugehen, erübrigt sich. Zum Teil aber sind die Forderungen, wie die: der Künstler möge die geistige Krise überwinden helfen, nicht einfach von der Hand zu weisen. Ich möchte nun sagen: die moderne Kunst erfüllt diese Forderungen in wunderbarer Weise.

Die moderne Kunst ist, entgegen allen Miesmachern, nicht nur eine sehr lebendige, sondern auch die menschlichste Kunst, die sich nur denken läßt. Sie weist dem Menschen einen bestimmten Platz in der Welt an. Aus diesem Grunde vor allem sind wir „modern“! Für die moderne Architektur wird diese Feststellung nicht erst bewiesen werden müssen; für die Malerei seien einige Beweise gegeben.

Die neue Malerei begann mit Cezanne, mit einer Besinnung auf sich selbst. Sie begann damit, daß die Maler wieder sehen lernten. Von Cezanne entwickelte sie sich zwischen zwei Flügelpositionen. Der eine Flügel führte zur abstrakten Malerei und in seiner letzten Konsequenz zu Piet Mondrian, der andere zu den Dadaisten und Surrealisten. Dazwischen liegen, in einem Schöpfungsvorgang „parallel zur Natur“ realisiert, Kunstwerke von überwältigender Sensibilität und Ueberzeugungskraft.

Gewiß: Kunst wird einem nicht zum Frühstück auf den Tisch gelegt. Auch wir müssen sehen lernen. Wir müssen bereit sein, einen Zugang zur Kunst zu suchen.

Wenn wir die Entwicklung der neuen Malerei überhaupt verstehen wollen, müssen wir davon abgehen, in den Bildern, die sie uns gibt, A b-b i 1 d e r der sichtbaren Welt zu erblicken. Denn sie will — und man verlangt von ihr ja nun einmal, ob mit Recht oder Unrecht, mehr als von allen anderen geistigen Disziplinen — alles andere als das; Abbilder zu geben ist Aufgabe der Photographie. Deshalb wird die Frage „Was soll das bedeuten?“ immer wieder zum Unsinn. Die Kunst will — zwischen den genannten beiden Flügelpositionen — Verwesent-lichung, Verdichtung der Welt sein, will Unsichtbares, Verborgenes ins Sichtbare heraufholen, die großen Gesetzmäßigkeiten — etwa: „Das Wachsen“ — zeigen und uns ins Bewußtsein heben. Die Traumwelt eines Max Chagall, die Poesie eines Franz Marc wird durch das Bild begreifbare Realität.

Die abstrakte Kunst ist eine Reinigung der Malerei von den Mitteln aller anderen Kunstgattungen und ihre konsequente Selbstbesinnung auf ihre eigenen Stilmittel. Die Malerei ist zum Gegenstand der Malerei geworden; die Form wurde zum Inhalt. Auf diesem Wege verbucht sich Mondrian zur universellen Ordnung aller Dinge durchzukämpfen.

Auf dem anderen Flügel ist es das Ziel der Kunst, einige überkommene, einengende Vorstellungen zu zerschlagen und den Menschen ein neues Verhältnis zu den sie umgebenden alltäglichen Dingen zu geben, Schönheiten aufzuzeigen, die sie nicht beachten; sei es diese funktionslose Schönheit in neuzeitlichen technischen Geräten zu entdecken oder sie in einem Stück Holz oder Eisen zu erkennen. Deshalb stellen manche Maler — das sogenannte Verfremdungsmöment — Dinge aus ihrer gewohnten Umwelt in eine fremdartige, um so durch eine Schockwirkung auf den Formcharakter aufmerksam zu machen, und mehr, uns zu einer innigeren Beziehung zu ihnen hinzuführen.

Zwischen diesen „Flügeln“ liegt das Werk vieler Maler, das heiter, frei, gelöst ist. Da sind so ganz verschiedenartige Maler, wie Henri Matisse, Joan Miro, Raoul Dufy, Wassily Kan-dinsky. Immer wieder dominiert das Spielerische in ihrem Werk. Das Spiel (das nichts mit Zufall zu tun hat!) beginnt, wo man aufhört, immer

und überall nur eine einzige Notwendigkeit zu sehen, sondern entdeckt, daß es zwei Möglichkeiten gibt. Und das heißt weiter: wo der Mensch seine Freiheit entdeckt. Nun kann er in einem größeren und tieferen Sinne Mensch sein: er kann in einer neuen Form der Kommunikation teilhaben an der Schöpfung Gottes, indem er, als Gottes Ebenbild geschaffen, selbst im wahrsten Sinne des Wortes schöpferisch wird — in den Grenzen, die Gott unserem Menschsein gesetzt hat. Er kann, ein Kolumbus des Geistes, neue Formkontinente erfinden, erobern, beherrschen. Picasso scheint mir eine ideale Verkörperung dieses Homo ludens zu sein. Das alles kann auf verschiedenen Ebenen geschehen. Von Willi Baumeister, der alle Inspirationen aus dem Material zog und dieses sozusagen empfindsam werden ließ, bis zu Paul Klee, in dem Geistiges und Handwerkliches eine Verbindung eingingen wie nie zuvor.

Daß die moderne Kunst immer wieder heiter ist, beweist nicht nur die „Aufhellung“ der Malerei seit den Impressionisten, das zeigt auch ihre zeitbedingte Besinnung auf die lebensfrohen archaischen Kunstwerke etwa der Etrusker und die bunten Zeichnungen der Kinder. Ueber sie werden wir am leichtesten den Zugang zur modernen Kunst finden.

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