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Die Avantgardisten sind müde

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München, im Juli Wenn wir in Gedankenschnelle an den Stationen der Kunstgeschichte .vorüberfliegen, erkennen wir, daß jede Form einen Gesinnungsausdruck der Zeit verkörpert, daß jeder Formwandel einen Gesinnungswandel der Gesellschaft dieser Zeit spiegelt. Heute wie damal. Das erhebt die jährlich im Haus der Kunst in München veranstaltete große deutsche Kunstausstellung (trotz Quantität, in der die künstlerische Qualität des einzelnen verschüttet wird) zu einem bedeutsamen Ereignis. Es ist ein Spiegelkabinett der Zeit. Der breiten Schau von Kunstwerken,, die unsere Epoche repräsentieren, steht das Publikum gegenüber, verständig abschätzend und unverständig den Kopf schüttelnd, gutwillig und böswillig. Das Publikum spiegelt sich in den Bildern, und die Bilder spiegeln sich in der Betrachtungsweise des Publikums. Könnte man das facettenreiche Vielerlei der tausend Oelbilder, Graphiken und Plastiken wie eine , einsige Bildschrift zusammen sehen, würde es beinahe ein psychologischer Test • sein, der, den Charakter unserer Zeit enthüllt.

Erfreulich im Zeichen gegenseitiger Völkerverständigung ist die der deutschen Kunstausstellung 1956 angeschlossene Schau „Ecole de Paris“ der Galerie Charpentier mit etwa 100 Werken lebender französischer Künstler, lieber die glücklich gespannte Brücke nach der Westen betreten wir ein Territorium künstlerischer Lebendigkeit. Das Wort „Ecole'1.— es handelt s;ch um eine Vereinigung der repräsentativsten Künstler Frankreichs — hat nichts mit „Schule“ im Sinne einer scharf begrenzten, stilistisch fixierten Kunstrichtung zu tun. Im Gegenteil: hier treffen einander Meister ohne Schüler und Schüler ohne Meister, hier treffen einander Gegenständliche und Abstrakte, Sensualisten und Spiritua-listen. Diese Ausstellung französischer Gegenwartskunst gleicht einem farbenfrohen Quell, dessen weiterer Fluß mit Stromschnellen und Untiefen: in' den Räumen der deutschen Künstlergruppen die .ursprüngliche Frische verliert.

Gegenüber Georges Braque mit seinem Stilleben „Vanite“ oder dem Märchenzauberer . Marc Chagall oder Pablo Picasso, Georges Rouault, Maurice . Utrillo, Kees van Dongen und Maurice de Vlaminck erscheinen die deutschen Epigonen noch epigonenhafter. Bei den Franzosen, ob Pionier, der Moderne oder junger Avantgardist, siegt die Originalität des einzelnen, sei das nun der bizarre Surrealismus von Luden Coutaud, die expressionistische Ursprünglichkeit in der Aktmalerei von Marcel Gromaire, die kubistische Romantik von Andre Masson, der surrealistische Humor von Jean Miro, die verblüffende Linienspannung in Kompositionen von Hans Härtung oder die interessanten Abstraktionen von Jacques Villon, der übrigens auf der diesjährigen Biennale in Venedig den großen Preis für Malerei gewonnen hat. Dazwischen hängt das Stilleben mit Totenkopf von Bernard Büffet, einem jungen Maler, der auch im französischen Pavillon der Biennale Aufsehen erregte, und zwar mit den unbarmherzig harten Konturen einer neuen realistischen Auffassung.

Damit findet sich ein guter Uebergang zum Schauplatz deutscher Gegenwartskunst, denn auch hier kehrt mit einer von Jahr zu Jahr stärker spürbaren Tendenz die realistische Darstellung, das Figürliche, wieder in die Kunst zurück. Das scheint auf den ersten Blick jene entscheidende Frage positiv zu beantworten: Ist die Kunst unserer Epoche nach expressiver Ueberhitznng auf abstrakten Umwegen durch surrealen Gespensterwald endlich zu einer neuen Fassung des Gegenständlichen gelangt? Wird den bisherigen Teilexperimenten in einer großen

Synthese neuer Sinn gegeben? Leider keineswegs. Der neue Realismus des französischen Malers Bernard Büffet mit seiner fortschrittlichen Deutung der Wirklichkeit findet kaum einen ebenbürtigen Partner im deutschen Raum, vielmehr stellt sich hier der Realismus retrospektiv dar, gemütberuhigend, zimmerschmückend, bürgerbrav und zeitausklammernd: Romantische Landschaften, Schrebergärten und Alpenglühen . .. Man hat den Verdacht, der Künstler werfe stillschweigend jeglichen Avantgardismus über Bord, um mit Bildern, die gekauft werden, am wirtschaftlichen Aufschwung seiner bürgerlichen Umwelt teilzuhaben und die vorjährige Verkaufsziffer von 22 Prozent um ein paar Prozentchen höher zu schrauben. Der Abgrund, der mit einer künstlerischen Aussage der Wirklichkeit erkannt und überwunden werden könnte, ist mit Traumkulissen verdeckt.

Freilich tun wir, wenn wir beim Gesamteindruck bleiben, einer Reihe von Malern unrecht, die ihr Werk trotz allem unter das Gesetz des Lebens gestellt haben. Gerade bei den Gegenständlichen entdecken wir Ausnahmen, die die Regel bestätigen: Otto Eglau mit seinen stimmungsgeladenen Oelbildern „U-Bahnhof“ und „Gelbes Cafe“, Adolf Hartmann mit Hafenbildern, in denen ein magisch durchstrahlter Realismus die Gegenstände mit einer geheimnisvollen Gloriole umgibt, Alfred Leithäuser mit seinem Gemälde „Junger Neger mit Klarinette“, Oskar Kokoschka mit kräftigen und nicht mehr so nervös gemalten Landschaften aus „Pontresina“ und „Villeneuve“, Otto Pankok mit Holzschnitten, deren Eindringlichkeit an van Gogh erinnert, oder Hans Purrmann, der junge Alte, dessen Bilder besser denn je sind.

Auch das Gros der B i 1 d h a u e r betont das visuelle Erlebnis der Wirklichkeit. Höhepunkte sind, um Beispiele zu nennen, die Plastiken Ferdinand Filiers, Eleinrich Kirchners oder Toni Stadlers. Ewald Matares Engelsfigur für das Gebäude ,,Münsterschatz“ in Essen verbindet den irrationalen Daseinsgrund der Gegenwart mit der Weltschau einer magischen Frühzeit in einfachster Form, gewissermaßen eine greifbare Formel der unsichtbaren Welt.

Zweifellos (wir erwähnten es schon) erscheint die Gilde der Abstrakten und Halbabstrakten stark dejimiert und das, was übrigblieb, durch Inzucht gefährdet. Die Jungen machen es den Alten nach, und die Alten machen, was sie schon vor Jahrzehnten gemacht haben. Die bemerkenswertesten Abstrakten in der Ausstellung sind: Ernst Geitlinger mit leinen Poesien des Unbewußten, Georg Meister-mann mit Bildern voll dämonischer Naturkraft (,.In jedem absoluten Bild muß es spuken“), Ernst Nay mit seiner rhythmischen Farbinusik oder Fritz Winter, der Nachfahre Kandinskys, mit seinen schwerblütig romantischen Kompositionen.

Es muß gesagt werden (und das gilt auch für die Bemühungen der Surrealisten), daß die zu fruchtbarer Auseinandersetzung zwingenden Werke der Abstrakten und Surrealisten, einstmals hochexplosiv, heute weitgehend entschärft sind.

Damit sind wir wieder beim Problem der Form als Gesinnungsausdruck, beim Spiegelkabinett der Zeit angelangt, mit dem wir unsere Betrachtung begannen. Das Publikum will in seinem Wohlleben nicht mehr daran erinnert werden, daß es auf einem Vulkan sitzt, und die Mehrzahl der Künstler tut ihm den Gefallen. Die Möglichkeiten eines neuen Realismus werden zwar von einzelnen Künstlern aufgespürt, doch selten erfüllt. Vor allem — die Avantgardisten sind müde geworden.

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