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Die Wandlung des Nicolas de Stael

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Immer wieder muß man nach Deutschland, nach München vor allem, und in die Schweiz und seine Zentren Basel, Bern, Zürich fahren, wenn man sich über neue Tendenzen in der Malerei informieren oder auch nur große und schöne Kunstausstellungen sehen will. Was in Paris geschieht, in der großen Welt der Malerei, kommt auch nach Deutschland und in die Schweiz. Zu uns nach Oesterreich findet es keinen Weg. Wir haben oft über die Ursachen dieses traurigen Zustandes geschrieben und sind müde geworden, sie’zu wiederholen und zu klagen. Erzählen wir lieber von draußen.

Indes also der Ausstellungsbetrieb bei uns sich lustlos fortwurstelt, lassen sich die Schweizer ständig etwas Neues einfallen. Denn Ausstellungen, wie „Malende Dichter — dichtende Maler” in St.’ Gallen oder „Kunst und Kultur der Kelten”, leben vom Grundeinfall — von einem neuartigen Gesichtspunkt, von dem aus das Material zusammengetragen und geordnet wird. Warum nicht einmal die Bilder der Maler zeigen, die nebenbei auch gedichtet haben — und dazu noch die malerischen oder graphischen Versuche von Dichtern? (lieber diese Ausstellung werden wir auf der nächsten Sonderseite „Bildende Kunst” noch ausführlicher sprechen.) Und warum nicht einmal, nach der weltberühmten Etruskeraussteliung, die Plastik und die Gebrauchsgfegenstände der Kelten aus den verschiedensten Museen herbeiholen und an einem Ort präsentieren.? In den Museen schliefen die Bronze- und Eisenfiguren und -gerate, von Fachleuten und Liebhabern geschätzt und vom Publikum wenig beachtet. Nun, nach der Ausstellung in Schaffhausen, die einen weiten Ueberblick über eine untergegangene Kultur bot, spricht auf einmal alle Welt von den Kelten.

Basel feiert in diesem Jahr seinen 2000. Geburtstag. Da war es ein guter Einfall — der nicht unbedingt nahelag —, eine Ausstellung aus Basler Privatbesitz zu veranstalten und zu zeigen, was die Basler Bürgerschaft in den letzten Jahrhunderten an Kostbarkeiten erworben und sich ins Zimmer gehängt hat.

Man darf von einer solchen Ausstellung, wie dieser in der Basler Kunsthalle, natürlich keine lückenlose Dokumentation der Kunstgeschichte verlangen, das wäre ungerecht; wohl aber die Begegnung mit einigen großen Kunstwerken, die in der Stadt am Oberrhein ihre Heimat gefunden haben. Vielleicht den bleibendsten Eindruck erfährt man gleich im ersten Saal: Hier hängen mittelalterliche Tafelbilder mit gold- . glänzendem Hintergrund, aus religiösen Motiven- er-, schaffen und nicht für den Hausgebrauch bestimmt; gerade deshalb aber können diese Altarbilder, Altarvorsatztafeln und Wirkteppiche, die in klösterlicher Einsamkeit entstanden, jeder Wohnung Wärme und stilles Leuchten geben.

Nicht nur St. Gallen und Schaffhausen, auch die anderen kleineren Städte der Schweiz entfalten eine beachtliche Ausstellungstätigkeit. Freiburg hatte zu Seiner 800-Jahr-Feier eine große Schau „Huit siėcles d’art fribourgeois” in der Universität aufgebaut, die den gesteckten Rahmen sprengte. Die ältesten Objekte, burgundische Grabbeigaben, stammten aus dem 7. Jahrhundert. .. Gleichzeitig brachte Neuenburg (Neuchätel) eine Uebersicht über den heutigen Stand der abstrakten Malerei in der Schweiz … Es war unmöglich, bei einem einzigen Aufenthalt in der Schweiz alles Gebotene mitzubekommen.

Den stärksten Eindruck machte uns aber eine Ausstellung, der kein außergewöhnlicher attraktiver Einfall zugrunde lag: die Kollektivausstellung Nicolas de Stael in der Kunstha11e Bern.

Der Name ist bei uns nicht bekannt. Wer ist, wer war dieser Nicolas de Stael, der 1955, viel zu früh — erst 41 Jahre alt — gestorben ist?

Nicolas de Stael wurde 1914 in St. Petersburg als Sohn einer vermögenden Offiziersfamilie baltischer Abstammung geboren. Die Eltern emigrierten 1919 nach Polen, wo sie kurz hintereinander starben; der Sohn wurde ‘ zu einer befreundeten Familie nach Brüssel gegeben. Dort besuchte er das Jesuitenkollegium und anschließend die Acadėmie des Beaux- Arts. Die nächsten Jahre verbrachte Nicolas de Stael teils in Paris, teils auf Reisen durch die europäischen Mittelmeerländer und Nordafrika. 1940 läßt er sich in Nizza, 1943 in Paris nieder. Sein Ruhm beginnt 1947, als der Kunsthandel sich für ihn einsetzt, und dringt rasch ,.über Paris hinaus. ‘Wieder reist er-viel, hauptsächlich im mediterranen RaumV 1!9 5 5 Stirbt’ er1 in Antibesdurch einen Unglücksfall; er stürzt vom Balkon seiner Wohnung.

Dr. Franz Meyer, der die Kunsthalle Bern leitet, hat zur Ausstellung einen vorzüglich edierten Katalog herausgegeben; sein Vorwort erleichtert es uns, den Entwicklungsgang Nicolas de Staels nachzuzeichnen: 1942 wandte sich de Stael der Abstraktion zu; seine Werke aus früherer. Zeit tragen im wesentlichen Studiencharakter und wurden zum Großteil vom Künstler vernichtet. Ab 1945 befreit er sich fast ganz von fremden Einflüssen: die Bilder des Jahrzehnts 1945 bis 195 5 stellen sein eigentliches Werk dar. Und dann, 1952, erfolgt die große Wandlung Nicolas de Staels: seine Abkehr von der Abstraktion, der erneute Versuch gegenständlicher Gestaltung nach der Abstraktion. Zunächst entsteht aus den Eindrücken von einem nächtlichen Fußballmatch die Reihe der „Footballeurs”; in den folgenden Jahren vor allem Landschaften.

Die Kunsthalle Bern gibt einen umfassenden Ueberblick über das Werk de Staels; sie zeigt 38 Gemälde aus seiner abstrakten Zeit und 46 aus den letzten vier Jahren; dazu noch 20 (durchweg abstrakte) Zeichnungen, die allerdings von geringerer Kraft erscheinen.

Seine abstrakten Bilder lassen sich leicht in drei Gruppen gliedern: in die aus der Zeit der Anfänge, bis etwa 1945. Wir können sie als tastende Versuche werten, die aber schon ein feines ästhetisches Empfinden verraten. Die zweite Gruppe umfaßt die Bilder der folgenden fünf Jahre, in denen de Stael ganz zu sich selbst und seine eigene Sprache gefunden hat. Alle diese Bilder haben etwas Dynamisches und sind von suggestiver Kraft. Mit der Spachtel schleudert und streicht de Stael breite, einander kreuzende und überdeckende Bänder auf die Leinwand. Es geht ihm um den Ausdruck seines Welterlebens, um ein Aequivalent seines Empfindens. Er versucht, seine subjektive Vision möglichst unmittelbar auf die Leinwand zu bringen.

Die dritte Gruppe seiner abstrakten Bilder, die etwa 1950 einsetzt, wirkt ruhiger, ausgeglichener, architektonisch stärker, Auch farblich haben diese Bilder mehr zu bieten. An die Stelle der Bänder treten immer mehr große, von einer Farbe gefüllte Formen; allmählich werden die Formen kleiner, der Bildaufbau dadurch differenzierter und feiner. In alldem wird ein immer stärkeres Bemühen um Objektivität und um eine strukturelle Festigung des Bildes sichtbar. Schon hier, mit dem Streben nach Objektivität, so glauben wir, setzt die große, entscheidende und beispielhafte Wandlung de Staels ein. Seine Rückkehr zur Gegenständlichkeit — die keine Rückkehr, sondern eine Wiedergewinnung der ichtbaren Welt ist — erscheint dann nur als eine notwendige Folge dieser Abkehr von subjektiver Expression.

Den tiefsten Eindruck gaben die Bilder in neuer Gegenständlichkeit, die den durch die Abstraktion gewonnenen Bildaufbau nicht aus- schließen, weil sie nie aus einer Impression, immer nach architektonischen Prinzipien entstehen. Sie ruhen deutlich auf den Errungenschaften der 2wei vorangegangenen Jahre: sie sind konstruktiv und keiner individuellen „Schau” verpflichtet. Wir glauben, daß Nicolas de Stael das bei dieser Wandlung entstehende Problem — ohne Originalitätsverlust objektiv zu werden — gemeistert hat; lind widersprechen in diesem Punkt dem kenntnis- und verständnisreichen einführenden Essay Franz Meyers (der übrigens der Schwiegersohn Marc Chagalls ist). Wir glauben nicht, daß diese Lösungen „an die Malerei des 19. Jahrhunderts anklingen”; wir sehen in ihnen vielmehr den ernst zu nehmenden Versuch, der Malerei Neuland zu gewinnen durch eine Neuentdeckung der sichtbaren Wirklichkeit; ebenso ernst zu nehmen wie die keltisch-mystische Malerei eines Tal Coat oder einer Maria Laßnig in Wien.

Trotz aller wunderbarer Neufindungen im Reich der Abstraktion hatte letztlich Juan Gris doch recht, als er 1919 schrieb: „Die, welche an die abstrakte Malerei glauben, sind wie Weber, die denken, ein Gewebe herstellen zu können mit nur einem Satz Fäden, und die vergessen, daß ein anderer Satz Fäden nötig ist, um jene zusammenzuhalten. Wenn kein Versuch zu Gestaltung unternommen wird, wie soll man die Freiheit der Darstellung kontrollieren? Und wenn das Interesse an der Wirklichkeit fehlt, wie soll man die gestalterischen Freiheiten abgrenzen und zu einer Einheit bringen?” Erst dadurch, daß eine gegenständliche Deutung der malerischen Formen möglich ist, entstehen die Spannungen im Kunstwerk, die unsere Anteilnahme hervorrufen. Wir stimmen mit Franz Meyer überein, wenn er sagt, daß das Werk de Staels dort faszinierend ist, „wo die Bilder an der Grenze von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit bleiben”. Denn natürlich darf die sichtbare Wirklichkeit nicht direkt übernommen, sondern muß im Sinne Cėzannes mit den Mitteln der Malerei „realisiert” werden.

Die Betrachtung des Spätwerks de Staels, der Landschaften und Interieurs, stimmt traurig. Da ist ein unerhört redlicher Maler, bei dem sich neue Ansätze zeigen, die der Malerei der kommenden Jahrzehnte Impulse geben könnten; und dann setzt ein tragischer Unfall dem Leben dieses Mannes ein jähes Ende.

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