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„Dokumentą II”

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Die „Dokumentą II” zeigt drei Phasen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: die der „Gründergeneration” (Kubismus, Expressionismus, „Blauer Reiter”, Futurismus, Bauhaus), die ihr unmittelbar nachfolgende abstrakte Malerei (Manessier, Singier, Polliakov, de Stael u. a. m.) und die jüngste Phase, den Tachismus in allen Spielarten. Als „Lehrmeister der Kunst des XX. Jahrhunderts” werden nur Kandinsky, Klee und Mondrian genannt, während die anderen Gründer lediglich „Argumente” sind. Hier zeigt sich subjektive Willkür, das Einschlagen einer ganz bestimmten Richtung, die alle, „modern” sein soll. Tatsächlich sind die wenigen „gegenständlichen” Künstler (in der Skulptur notwendig mehr als in Malerei und Graphik) nur (selbst räumlich) peripher ausgestellt, und selbst unter diesen herrschen die Surrealisten vor. In diesem Zusammenhang könnte gesagt werden, es gäbe keine bedeutenden „Gegenständlichen” mehr; bei genauerem Hinsehen ist jedoch die Stufe zwischen den „Abstrakten” genau so vorhanden wie zwischen den „Gegenständlichen” — und das ist der springende Punkt.

Schon zwischen der ersten und der zweiten Generation ist ein deutlicher Unterschied zu bemerken: die Werke der ersten sind — in Malerei und Graphik — völlig in sich abgeschlossene Gestaltung, die der zweiten wirken ausschnitthaft, und das bedeutet nicht bewältigte Gestaltung; die der ersten sind in sich logisch, die der zweiten sind es nicht mehr, und Folgerichtigkeit ist das Merkmal des Originalen. Stael z. B. bleibt bei der Bildanlage stehen, es gelingt ihm nicht mehr die Realisation eines Gegenstandes mit reinen Mitteln;, die Verselbständigung der Bildanlage ist nichts „Neues”, sie ist lediglich ein Manko. Die Qualität dieses Künstlers: er wich vom eingeschlagenen schweren Weg nicht ab.

Diesen schweren Weg gehen die Jüngsten (sie müssen es nicht an Jahren sein), die das Hauptkontingent der Ausstellung bilden, nicht mehr. Sie verzichten von vornherein auf Form, sie sind „informell”; sie verzichten auf alles, was Auseinandersetzung, geistige Leistung, psychische Kontakt- nahme, Umsetzung in die Mittel verlangt, sie fallen den amorphen Mitteln anheim und nennen das Freiheit — Freiheit ist aber nicht Gesetzlosigkeit. Und weil sie gesetzlos sind, sind sie im eigentlichen Sinne ungeistig. Das Groteske: diese Ungeistigkeit wird als Höhepunkt des modernen Geistes interpretiert, die physikalischen Theorien werden illegitim als umwälzender Faktor in der Kunst hingestellt. Motorik wird mit Psyche und Geist verwechselt.

In de.r Skulptur wirkt der Tachismus ruinenhaft: Verfall der Form, Verfall der Strukturen (auf die er sich beruft, aber Struktur ist Basis der Form), Verfall der Anschauung; der Krieg ist nochmals aus- gebrochen und verheert die Form. Wotruba, am Ende der Ausstellung placiert, ist ein neuer Anfang: seine Figuren recken sich hoch; die große Sitzende Hartungs sinkt, zerfallend, die Struktur auflösend, den Widerspruch nicht mehr kennend, in sich zusammen, sie ist ein Vanitassymbol.

Das Fazit: so geht es — viel zu leicht — weiter, so bleibt man unter dem Horizont. Kandinsky schuf in seinen „Improvisationen” Klangfüllen, wenn auch hart am Amorphen, das er zu überwinden suchte; die, die sich auf ihn berufen, bringen nur einen einzigen schwachen, unsicheren Ton hervor, und — sie wollen gar nicht mehr! Sie kapitulieren und sagen, die Kunst sei heute ganz anders als vor fünfzig Jahren — sie sei nunmehr endgültig frei! Frei von sich selbst, wenn die Freiheit so aussieht. Was in Kassel zu sehen ist, ist billiger Konformismus, aber kein Stil.

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