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Paul Klee

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In des Malers und Graphikers Paul Klee Lebenswerk ist auf dem Boden der Bildkünste die entscheidende Forderung unseres Jahrhunderts verwirklicht worden: die Forderung nach ganzheitlichem Erfassen der Wirklichkeit, wie sie bereits um die Jahrhundertwende den Künstlern zur Gewißheit wurde.

„Manchmal“, sagt Klee in seinem Vortrag über moderne Kunst (1924), „träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet. Das wird sicher ein Traum bleiben, aber es ist gut, sich diese heute noch vage Möglichkeit ab und zu vorzustellen. Es kann nichts überstürzt werden. Es muß wachsen, es soll hinauf wachsen, und wenn es dann einmal an der Zeit ist, jenes Werk, desto besser. Wir müssen es noch suchen. Wir fanden Teile dazu, aber noch nicht das Ganze. Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk. Aber wir suchen ein Volk, wir begannen damit drüben am Staatlichen Bauhaus. Wir begannen da mit einer Gemeinschaft, an die wir alles hingeben, was wir haben. Mehr können wir nicht tun.“ Diese Worte bezeichnen die Schicht, der Klee sein Werk unmittelbar eingeordnet wissen wollte. Das Kunstwerk ist von einer Gemeinschaft für eine Gemeinschaft gedacht. Dieser Gedanke kollektiven Hervorbringens taucht bereits bei Van Gogh auf und hat eine lange Ahnenreihe in den Künstlerbünden seit den Tagen der deutschen Romantik. -

Darüber hinaus sehen wir heute bereits, daß es Beziehungen gibt, die von Klees Kunst hinüber in die anderen Bereiche menschlicher Erkenntnis führen. Ehe wir Klees Schaffen mit unserem wissenschaftlichen Weltbild konfrontieren, sei ein Vorbehalt vorangesetzt, der von Rilke in dem Aufsatz „Urgeräusch“ formuliert worden ist. Der Dichter meint, daß der Erlebniszuwachs, den wir etwa aus den Erwerbungen des Fernrohres oder des Mikroskops empfangen, sinnlich nicht durchdrungen, also nicht eigentlich erlebt werden kann. Hier vermag nun der Künstler einzugreifen, da er „am entscheidendsten an einer Erweiterung der einzelnen Sinngebiete arbeitet, nur daß seine beweisende Leistung, da sie ohne das Wunder letztlich nicht möglich ist, ihm nicht erlaubt, den persönlichen Gebietsgewinn in die aufgeschlagene allgemeine Karte einzutragen“. .

Eine in diesem Sinne „sinnliche Durchdringung“ wissenschaftlicher Forschungsergebnisse erzielen wir, wenn wir Klees Kunst mit der Methode der Gestaltpsychologie untersuchen. Ob Klee seinerseits von den verschiedenen Struktur-und Gestalttheorien Kenntnis hatte, die zwischen den beiden Weltkriegen besonders in Deutschland entwickelt wurden, kann nicht gesagt werden. Der Aufbau seines „Pädagogischen Skizzenbuches“ läßt dies als möglich erscheinen. Die Gestaltpsychologie wurde von Christian von Ehrenfels in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begründet und beruft sich auf den aristotelischen Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Wieder begegnen wir hier dem Ganzheitsbegriff als einem der dringenden Anliegen unserer Zeit. Unter „Gestalt“ versteht die Gestalttheorie jene phänomenalen Wahrnehmungsgebilde, deren Einheit sich nicht aus einzeln aufgefaßten Elementen zusammensetzt, sondern sich als Erlebnisganzes präsentiert. Dieses Erlebnisganze nun ist das Ziel von Klees Kunst, das heißt die unlösliche Vereinigung formaler Elemente zu einem gewachsenen Ganzen. Und ähnlich wie Klee jeder formalen Ganzheit einen ganz bestimmten Ausdrucksbezirk zuordnet, so sieht auch der Gestaltpsychologe im „Ganzen“ eine spezifische, unauswechselbare Seinsart, die unlösbar verbunden ist mit der Eigenart dessen, was sie ausmacht und darstellt. So wie Klee in seinen Vorlesungen am Bauhaus, so hat sich die Gestaltpsychologie bemüht, elementare Formen zu analysieren und ist dabei zu Einsichten in die dynamische Struktur jeder Form überhaupt gekommen, das heißt zur Einsicht, daß jede Form wachsend, bewegt und veränderlich ist. Wir wissen, daß Klee auf dem Wege intuitiver Schau zu ähnlichen Ergebnissen gelangte.

Wenn wir uns hier auch mit Andeutungen begnügen müssen, so dürfen wir doch schließen, daß das Gestaltproblem ein zentrales Problem unserer Zeit ist. Denn worum geht es heute anders als um „erlebte Strukturzusammenhänge“ (Dilthey), um ein vertieftes Verstehen des kosmischen Geschehens, und zwar gerade in jener Erkenntnisbahn, die Dilthey bereits vor nahezu 60 Jahren vorgezeichnet hat: „Wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen aus, das uns lebendig gegeben ist, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen.“ Wieder ist das Ganze das Leitmotiv. Wir begegnen dieser Ganzheitsvorstellung bei Einstein und Planck, wobei der eine Gelehrte uns mit seinen Theorien eine neue Auffassung des Universums als Ganzheit gab, während der andere mit der Quantentheorie unseren Blick gleich dem heutigen Künstler ins Unsichtbare lenkte und uns damit Kräfte ahnen läßt, die jenseits von unserer Sinnenwelt in einer anderen Welt wirksam sind. Ähnliche Erkenntnisse begegnen uns bei Klee: „Er (der Künstler) erlaubt sich... den Gedanken, daß die Schöpfung heute kaum schon abgeschlossen sein könne und dehnt damit jenes weltschöpferische Tun von rückwärts nach vorwärts, der Genesis Dauer verleihend. Er sagt sich...: es sah diese Welt anders aus und es wird diese Welt anders aussehen ... auf anderen Sternen kann es zu ganz anderen Formen gekommen sein.“ Wenn Klee solcherart Analogien erschaute, welche die ganze Weltschöpfung durchwirken (1903 schrieb er bereits ins Tagebuch, „daß im äußersten Blättchen Analogien zur totalen Gesetzgebung sich mit Präzisdon wiederholen“), so entsprach die Richtung seiner Schau jener Theorie, die Niels Bohr aus der Quantentheorie entwickelte, derzufolge „sich die Elektronen eines Atoms um den Kern desselben nach ganz ähnlichen Gesetzen wie die Planeten um die Sonne bewegen“. Die physikalische Welt verliert sich so ins Unsichtbare; um jedoch — wie Rilke sagt — sinnlich durchdrungen zu werden, bedarf es des Künstlers, der aus der mikroskopischen Schau neue Symbole zu gewinnen weiß. So besitzen Künstler und Forscher eine gemeinsame Grundsituation. Es ist die Frage nach der inneren Struktur der Dinge, wie sie bereits Hogarth in seiner „Analyse of Beauty“ gestellt hat, die Frage nach dem Lebendigen überhaupt und nach den Kräften, welche die Dinge erfüllen.

Bedenken wir, daß wir heute bereits über Apparate verfügen, welche uns über alle pflanzlichen Lebensprozesse anschaulich unterrichten! Gerade für Klees Kunst, der das Pflanzliche, die werdende Form, entscheidender Erlebnisquell war, ist diese Tatsache von erhellender Bedeutung.

Es ist begreiflich, daß ein so weit vorgeschobenes künstlerisches wie wissenschaftliches Fragen ganz bestimmte Konsequenzen zeitigt. Für den Wissenschafter erbringt es die von Max Planck formulierte Einsicht, daß an den Grenzen der Physik die Metaphysik beginnt, als eben jene andere, zweite Welt..., für den Künstler eröffnet sich ein neuer Bereich der Dingwahrnehmung und Wirklichkeitsaneignung, der ihn stufenweise inniger an die Dinge heranführt.

Bedenken wir, mit welcher eindringlichen Umsicht Klee die Totalität unserer Erscheinungswelt und die Horizonte „möglicher Welten“ in sein Werk miteinbezog, so dürfen wir ihn wohl unwidersprochen zu jenen Mystikern unserer Epoche zählen, deren Streben Wilhelm Friedmann so treffend (wenn auch ablehnend) in seinem Buch „Die Welt der Formen“ charakterisiert hat. „Diese Mystik“, sagte er, „liefert den denkbar gegenständlichsten Bericht, sie weiß vom Wandel des Individuums durch die Äonen, von Gestirn zu Gestirn, sie kennt die komplizierte Materialität seines Leibes, Sichtbares und Unsichtbares. Sie lehrt, daß der Durchblick durch die sinnliche Welt in das Reich des übersinnlichen hinein als der Lohn einer energischen kontemplativen Versenkung gewonnen werden kann. Sie will die Transzendenz der Religion mit der Gegenständlichkeit der Wissenschaft vereinigen.“ Jedes dieser Worte trifft auf Klee zu, der von seinem bildnerischen Kosmos einmal sagte, daß ein Hauch genüge, um den Ausdruck des Religiösen zur Tat werden zu lassen.

Doch blieb Klee nicht beim mystischen Erlebnis stehen, sondern ging weiter. Für ihn gilt, was Hofmannsthal einmal über den Künstler schrieb: „Nur Künstler und Kinder sehen das Leben, wie es ist. Sie wissen, Was an den Dingen ist. Sie spüren im Fisch die Fischheit, im Gold das Wesen des Goldes, in den Reden die Wahrheit und die Lüge.“ Klee ist in vielen Zeichnungen und Aquarellen die Darstellung der Fischheit als Wesenheit gelungen. Und so gelang es ihm mit allem Dinglichen, das sein Blick traf oder magisch begabt ins Leben der Form rief. Ein ursprünglich mystisch getöntes Erlebnist ist so zur verbindlichen Aussage geworden. Der Weg vom privaten Zeichen, von der esoterischen Chiffre zum Symbol ist beschritten. Fast jedes von Klees reifen Werken enthält eine aus der Meditation geborene Mitteilung über das Wesen und die Wahrheit der Dinge. Sein Welterleben berührt sich hier mit den alten Wahrheiten der Scholastik, und es gilt für ihn, der seinen schöpferischen Weg „vom Vorbildlichen zum Urbildlichen“ einschlug, jenes Wort des hl. Thomas, das lautet: „Die innere Gestalt der Dinge, ihre Form, bildet die ewigen Urbilder der Kunst Gottes ab. Die Formen aller Dinge sind — als Ideen — in Gott.“

Und erneut begegnen wir hier — auf der höchsten Stufe des Erkennens — dem Ganzheitsbegriff. „Kraft ihrer Universalität“, so heißt es bei Thomas, „und All-heitlichkeit sind die Wesenheiten der sinnfälligen Dinge geistig erkennbar, das heißt unser erkennender Geist erkennt nicht das einzelne, sondern aufsteigend das Universale.“

Damit ist der innerste Bezirk von Klees Kunst angedeutet und zugleich die universale Spannweite seines Wollens umschrieben, das vom Alltäglichen und Unscheinbaren aufstieg und dem nach und nach alles bedeutsam und sinnhaltig wurde, das letztlich in allen Daseinsbezirken beheimatet war und schließlich im Schöße der Schöpfung sein Ziel fand.

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