Kunst "spricht". Was hat sie zu sagen?

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Die europäische Kulturzeitschrift "Lettre", die in mehreren Weltsprachen erscheint, hat für ihre letzte Nummer des Jahres (IV/2001) anerkannte (und auch weniger bekannte) KünstlerInnen eingeladen, unter dem Titel "Kunst und Schock" zum Terroranschlag des 11. September in bildnerischem Ausdruck Stellung zu nehmen. 30 solcher Blätter dieses, wie es hieß, "einmaligen und weltweit bisher einzigen Projektes" hat "Lettre" großformatig veröffentlicht. Darunter finden sich Namen wie Baldessari, Baselitz, Haacke, Immendorff, Pistoletto ...

Manche dieser Werke vermögen zu berühren, einige lassen den Betrachter kalt, wieder andere sind kaum zu deuten. Neben vordergründigen Darstellungen wie vertrockneten Ölbaum-Blättern, Puppen, die Maschinenpistolen tragen, einer toten Taube und hohen Minaretts, die als "Islamic missiles" etikettiert werden, sind auch symbolisch differenzierte Grafiken zu finden: Dunkle Hände, die sich über skizzierte Konturen anderer Hände schieben. Augen, die aus Köpfen wandern. Bemerkenswert sind zwei Blätter von Georg Baselitz, von denen beide Totenköpfe zeigen. Eines präsentiert den Totenkopf (siehe nebenstehendes großes Bild), wie er über den nach oben weisenden Füßen auf eine - typisch für Baselitz - mit dem Kopf nach unten gekehrte Figur weist ...

Ist die künstlerische Bedienung der Anfrage einer Zeitschrift ein begrüßenswertes Unterfangen? Könnten solche Reaktionen nicht sogar die abstrakten und weltentfernten Tendenzen der Kunst durchbrechen, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, seit man sich von Inhalten zu entfernen suchte, um mit Formen, allenfalls inhaltlichen Anspielungen zu experimentieren?

Manchen, wie Mark Rothko, gelang es zwar, mit Kompositionen der Farbflächen zur Meditation hinzuführen. Mehr und mehr war die Kunst allerdings destruktiv geworden, entsprechend dem Wort Rainer Maria Rilkes "Und auch noch das Vernichtende wird Welt". Lässt sich - als ein Beispiel - das "Übermalen" von Reproduktionen klassischer Kunstwerke als solch ein Vernichten oder Zerstören interpretieren? Der international anerkannte österreichische Maler Arnulf Rainer erklärte kürzlich in einem Interview, dass er bei seinen - weltweit angekauften - "Übermalungen" klassischer Kunst nicht zerstören, sondern nur "verhüllen" wolle. Die Beantwortung einer Frage blieb allerdings offen: Wenn er beispielsweise Reproduktionen von Giotto übermalt, vor wem will er sie verhüllen? Vor den Augen kunstunkundiger Menschen der Gegenwart, die den Baumeister der Frührenaissance gar nicht mehr verstehen? Oder geht es um das ästhetische Vergnügen der Kenner, die wissend bewundern, was und warum der Meister etwas "verhüllt" und anderes freilässt?

Der Wiener Kunsttheoretiker Heimo Kuchling sieht den Grund für diese zerstörerischen Tendenzen darin, dass es in der postmodernen Kunst keine Rückgriffe, Auseinandersetzungen und Anknüpfungen mehr an künstlerische Traditionen gibt. Also beginne nur mehr "das Auffallende" zu zählen. Was ist auffallend? Hauptsächlich das, was reizt oder schockiert - wie die offene sexuelle Präsentation oder die Vergegenwärtigung von Grausigem und Chaotischem. Durch das Auffallen wird es modisch - und so jagt heute eine Kunstmode die andere.

Verstörung, Sprunghaftigkeit, Diskontinuität, Atemlosigkeit - wir finden und empfinden das überall in der Postmoderne. Im Lebenslauf, im Beruf und vielen anderen Bezügen, nicht nur in der Kunst. Trotz dieses Eindrucks der Aktualität und Überaktualität bleibt dennoch der Verdacht, dass sich die Gegenwartskunst ins Abseits manövriert hat, weit entfernt von den großen gesellschaftlichen Anliegen unserer Zeit.

Doch auch von ihr kann man verlangen, dass sie für die wichtigen Themen offen ist. Blicken wir zum Vergleich zurück, etwa in die Hochblüte der europäischen Malerei: In ihren größten Beispielen wie der "Nachtwache" Rembrandts oder den Porträts von Kardinälen, Päpsten und Fürsten bei Velázquez, Tizian oder Rubens, hat sie Machtverhältnisse bis ins kleinste Detail einer Fingerhaltung oder einer Blickrichtung der Porträtierten widergegeben. Goyas "Schrecken des Krieges", meisterhaft in der Technik und im Ausdruck, ist eine souveräne Bloßlegung dessen, was Menschen einander antun können.

Diese intensive Wechselwirkung zwischen Künstler und Gesellschaft fehlt heute weitgehend. Selbst die Bewegung der sechziger Jahre, die sich Pop-Art nannte und uns das Klischee Marilyn Monroe bescherte, beschritt eine - wenn auch kritisch-negative - Rückkehr zur Gesellschaft, indem sie die Bilder der Trivialität und der Öde des Alltags vor Augen drängte...

Die Macht der Bilder

Der Mensch braucht Bilder, um sich über sich selbst und die Gruppe, in der er lebt und mit der er der Welt begegnet, ein Bild zu machen. Kunst ist Orientierung in der Welt. Dabei war sie von Anfang an, wie uns die urzeitliche Höhlenmalerei und Kleinplastik seit 30.000 v. Chr. zeigt, auf Gruppen bezogen. Die Pferde und Auerochsen, die beschwörend an die Wand gemalten Hände, für die wir Hunderte von Beispielen haben, sollen im Zauber durch das Bewusstsein des Menschen symbolisch angeeignet werden. Durch ihre Magie, durch Riten und Feste, durch den Maskentanz, war die Kunst von allem Anfang an gesellschaftlich bezogen. Die Religionen wussten um die Macht der Bilder. Und heute?

Bei seiner Suche nach sich selbst und der Deutung der Welt wird der Einzelne in unserer individualisiert-pluralistischen Gesellschaft im Gewirr von Informationen und Wertvorstellungen nur sehr karg gestützt. Mehr denn je brauchen wir neben der Schaffung von "Auffälligkeiten" daher auch Denker und bildhafte Sprecher, die nicht distanziert dem Publikum begegnen. Wir brauchen Künstler, die sich auch vom Augenblick - wie er etwa durch die Dramatik des 11. September geschaffen wurde - beeindrucken lassen und diesen der Gesellschaft spiegeln.

Die Wissenschaft allein bietet uns keine Orientierung. Ihr fehlt die innere Modellhaftigkeit, das Beschwörende, Ängstigende und auch Verklärend-Beruhigende der Kunst. Die Gegenwartskunst, so flimmernd und kryptisch sie sein mag, muss dennoch auch Lichter setzen, die erhellen. Je mehr sie gefragt und erfahren wird, desto intensiver kann sie sich einmischen.

So gesehen ist das Engagement von "Lettre" begrüssenswert, auch wenn es als "Schnellschuss-Aktion" einer flinken Mediengesellschaft verunglimpft wurde, bei der die Künstler eben auch einfach nur "dabei sein" wollten.

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