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Der Edelkitsch

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Ueber die landläufige Bezeichnung der Dinge, die wir als Kitsch empfinden, sind sich Fachleute einig. Die Spanne reicht vom Kaukasisch- Nuß-Vollrundbaumöbel bis zum Pseudo-Ro- koko-Service unserer Tage und schließt die meisten Werke der bildenden Kunst der Zeit von etwa 1870 bi 1910 ein.

Wenn wir aber mit offenen Augen dieser Pauschalverdächtigung auf den Grund gehen, merken wir, daß mancher Stein im Dunkel dieses Abgrundes funkelt und uns gewahr werden läßt, wie sehr wir einem neuen Abgrund zusteuern.

Das Lexikon definiert den Kitsch als schein künstlerisches, geschmackloses Erzeugnis, das mit billigen Mitteln zu wirken sucht. Die Begriffe Kunst und Geschmack stehen also in untrennbarer Wechselwirkung und bedürfen einer weiteren Definition.

Kunst ist die in sich vollendete Fertigkeit der Darstellung eines sinnlichen oder seelischen Inhaltes durch die schöpferische Phantasie in einer gegenüber der Wirklichkeit gesteigerten Form. Geschmack ist die Fähigkeit des Wertens und Auswählens dessen, was wir als gut und schön empfinden.

Das ewige Streben der Menschheit nach der Ergriindung der absoluten Wahrheit, der letzten Weisheit, die Unzufriedenheit mit dem Erkannten, das immer wieder neue Rätsel birgt, also der Weg vorwärts, aufwärts, der positive Weg, würden verlangen, daß wir, bevor wir das Schlechte erkennen, den Maßstab für das Gute finden.

Hier mag eingewendet werden, daß gerade das Erkennen des Schlechten den Weg zum Besseren weist und somit dies der positive Weg wäre. Er setzt aber „Erkenntnisse” voraus, die wir bei der Kritik des Kitsches nicht annehmen können — sonst gäbe es ja den Kitsch nichtl

Den Maßstab des Schönen, des guten Geschmacks, gibt das Kunstwerk. Da wir nun nicht am Beginn der Menschheitsgeschichte stehen, haben wir das Glück, den Begriff des Kunstwerkes ohne weiteres als gegeben ansehen zu können.

Wenn wir vom Kitsch unserer oder vergangener Zeiten sprechen, dann immer von Dingen, bei deren Gestaltung oder positiver Beurteilung das Fundament des guten Geschmacks mehr oder weniger weit verlassen wurde. Man könnte auch sagen: über Dinge, die der Pseudokünstler für den amusischen Menschen schuf.

Zur Zeit der anerkannten Stile scheint es

Hauptverdienst der Künstler gewesen zu sein, Fehler ihrer Vorgänger zu vermeiden. Ein gedenk des Grundsatzes: Traurig der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft I Wenn dann dieses „Höherentwickeln” nicht mehr möglich war, trat zwangsläufig ein Stilwechsel ein. Alle anderen Einflüsse wurden immer dem Stilstreben einer Zeit untergeordnet, wurden verarbeitet und abgewandelt, haben aber nicht grundlegend das Bild verändert.

Erst dem Erfindergeist des vorigen Jahrhunderts blieb es Vorbehalten, die Künstler so in seinen Bann zu ziehen, daß es zu einer separatistischen Gestaltung kam, die den gemeinsamen Weg verlassen ließ und zu dem uns bekannten Stilstakkato ohne Ausreifen und Höherentwickeln, führte. Diese Hektik, die keinen absoluten, sondern nur einen Zeitgeschmack kannte, war der beste Nährboden für den Kitsch.

Trotz des mittlerweile sicher gesteigerten Entwicklungstempos der Technik haben sich aber die Gemüter beruhigt und man kann die letzten 40 Jahre Kunstentwicklung als kontinuierlich betrachten. Damit wurde dem Kitsch in seiner jämmerlichsten und am leichtesten zu erkennenden Form des Kaukasisch-Nuß-Voll- rundbaumöbels oder der Pseudo-Rokoko-Kanne fast der Garaus gemacht. In dieser Form lebt er nur noch in den Herzen der Kleinmütigen oder in Magazinen, zum Tode verurteilt und dem Gespött preisgegeben. Denn — der Edelkitsch trat an seine Stelle!

Der Edelkitsch, ein Kind der Aufklärung, ersetzt die „billigen Mittel”, mit denen er früher zu wirken versuchte, durch das Formbedürfnis unserer Zeit und durch Philosophie!

Die „geriffelten Fensterbrüstungen’’ kaschieren verschämt die Mutlosigkeit zur klaren Maueröffnung und wollen sich ebenso wie Konsolen unter Schwundbaikone oder das marmorverkleidete Wohnhaus in der Haltung der „Reichskanzlei”, das Hochhaus mit Kleinhausfenstern, Lisenen und Gesimsen, in die Gefilde des „wienerisch Modernen” flüchten. Die Endstation wird das verpönte „blinde Fenster” sein.

Dem Laien mögen diese Betrachtungen, die etwas Kunstverständnis und Fachkenntnis voraussetzen, fremd erscheinen. Er soll aber einmal mit offenen Augen in die Auslagen unserer Kunsthandwerksgeschäfte sehen. Da gibt es Gebilde, die, in der Form tatsächlich reizvoll, als Pfeifenständer Verwendung finden. Vasen, die gerade noch nicht Umfallen. Tische aus Wurzelholz geschnitten, die dem belächelten Zirbelholzmöbel verdammt nahekommen. Papierkörbe als Beleuchtungskörper und andere nette Gegenstände, deren Verwendungszweck nicht ganz klar ist.

Da merken wir erst, wie sehr uns der Edelkitsch umsponnen und den guten Geschrpaęk getrübt hat. Das traditionell entwickelte Formempfinden ist ersetzt durch den Witz, die Form feiert Triumphe, anstatt Diener am Ganzen zu sein. Die Technik hat das Tempo der Zeit bestimmt. Uns fehlt die Zeit zur beschaulichen Betrachtung unserer Häuser, der Straßenverkehr zwingt uns in seinen Bann. Darum sollen Häuser dem Konzept unserer Zeit entsprechend klar gestaltet und frei von jedem Beiwerk sein. Wer das nicht erkannt hat und durchsetzt, ist kein Künstler, er bleibt ein Stümper, gleich wieviel Titel ihn zieren.

Wie leben wir aber in den Häusern? Sind nicht die Hauptkomponenten des täglichen Lebens, dės Wohnens seit der Antike gleich geblieben? Liegt nicht hier die ungeheure Gefahr, den Zeitausdruck zu verkennen oder falsch zu deuten?

Niemandem wird es einfallen, aus Küche und Bad die Errungenschaften der Technik zu verbannen, sosehr die Einrichtung der mittelalterlichen oder bäuerlichen Küche bestechen mag. Lassen wir aber nicht im Wohnraum ein altes Möbelstück, ein Bild oder eine Barockplastik gelten? Flüchten wir vor der Phantasielosigkeit moderner Wohnräume in diese Reminiszenzen? Sucht nicht hier der Edelkitsch eine Lücke auszufüllen?

Die Gegenstände des täglichen Lebens, die wir über eine längere Zeitspanne benützen, sollen nicht modischen Einflüssen unterliegen. Wir verlangen aber von ihnen, daß sie unser scheinbar ererbtes Form- und Farbbedürfnis befriedigen. Das Bild — selbst das der extrem modernsten Richtung — kann diesem Wunsche dienen, auch wenn es ohne spezielle Darstellung gestaltete Farbharmonie ist. Wird das Fernsehgerät, der erste wirklich revolutionierende Einbruch der Technik in unser Heim, alle anderen Ansprüche auf „Wohnkultur” überflüssig machen?

Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist kaum möglich, enthebt uns aber damit nicht, ihre Problematik aus dem Auge zu verlieren oder die Dinge laufen zu lassen.

Große Künstler waren fast immer überdurchschnittlich kluge Menschen. Die Kritik des Verstandes an ihrem eigenen Werk war oft mehr wert wie die Intuition. Sie hat den Kitsch verhindert. Das Aufleben des Edelkitsches unserer Zeit zwingt zur Läuterung, wenn nicht die Zukunft den Stab über unser Schaffen brechen soll.

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