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Demaskierter Kitsch

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Demaskierungen solle man vermeiden, so meinte einmal ein Mann, dem nachgesagt wurde, daß er zu leben verstehe. Aber s ist nicht jedermanns Sache, ein Leben zu führen, in dem man sich etwas „vormacht“ —und„vormachen läßt“... selbst dann nicht, wenn man auf diese Art in den Ruf eines Lebenskünstlers zu geraten vermag und als ein solcher bewundert wird. Denn es ist nicht jedermanns Sache, Illusionist zu sein. Gewiß: der Zustand der Illusionslosigkeit wird allgemein als etwas Schreckliches, Be-trüblidies und Trauriges angesehen. Welche Huldigung der Lüge, welche Manifestation der Unwahrheit steckt doch hinter dieser Angst vor Illusionslosigkeit! Hinter der Angst, der schlotternden Angst vor der — Wahrheit! Also müssen wir wohl diesen oben erwähnten Mann, der im Rufe stand, das Leben zu verstehen und Demaskierungen vermieden wissen wollte, eher jenen Menschen zuordnen, die Angst vor der Wahrheit haben — oder vor dem Nichts? — und sich lieber der Maske „Illusion“, der bewußten Lüge, der Selbstbelügung bedienen.

Zu dem wenigen Guten, das uns die Gegenwart beschieden hat, gehört wohl, daß wir an Illusionen „ärmer“ geworden sind — und somit reicher an Wahrheiten. Sicherlich nicht immer angenehmen Wahrheiten — aber es ist doch schon viel wert, wenn man wenigstens nicht der Lüge zum Opfer fällt, wenn man wenigstens weiß, wo man steht. Wenn man wenigstens klar sieht... Nein, nein — hör' ich Wehleidige winseln —, wir wollen gar nicht klar sehen, laßt uns unsere Illusionen, gebt uns unsere Illusionen wieder! Daß bei solcher Gesinnung natürlich die Illusionen wuchern, daß sich rasch über das Bild der Wahrheit der trügerische Dunst der Illusion breitet, einer neuen Illusion — nicht minder lügenhaft und verkitscht —, versteht sich. Ja, verkitscht! Denn Kitsch und Illusion haben große Gemeinsamkeiten — fast möchte man sagen, sie seien Geschwister —, nein, noch mehr: sie seien identisch. Denn was ist Kitsch anderes als Unwahres, das wahr sein will! Was ist Kitsch anderes als Täuschung, Illusion, Vorspiegelung einer Scheinwahrheit mit unzulänglichen Mitteln. Was ist Kitsch denn anderes als an Stelle der echten und wahren Kunst eine Scheinkunst, eine Art Kunstnachahmung, die der editen Kunst täuschend ähnlich sehen soll, die die Illusion echter Kunst erwecken soll? Was ist Kitsch anderes, als der minderwertige Ersatz für wertige Kunst für alle geistig Minderbemittelten, welche nicht den Mut haben zu echter Kunst? Oder ist jene kitschige Vortäuschung echter Materiale oder jene verlogene und absichtliche Verwechslung der Materiale nicht eine Flucht vor der schlichten und schönen Wahrheit?

M|n muß nur näher hinsehen: auch im modernen Kitsch — es gibt immer auch den sich modern aufspielenden, zeitgemäße Vorbilder nachahmenden Kitsch — läßt sich die Armseligkeit einer im Materiellen, dabei auch in den rein leiblich-sinnlichen Möglichkeiten verhafteten, unendlich langweiligen und banalen, ebenso sterUen als auch dummdreisten Welt erkennen. Auch dort, wo — ein Geschäft witternd und eventuelle Nachfrage — man sich vom geliebten Naturalismus lossagt und, einige Jahrzehnte später, o tut, als wäre man „expressionistisch“. Auch hier — die Läge. Die Täuschung, die Selbsttäuschung — die erwartete und erwünschte Täuschung. Wieso: erwünschte Täuschung? Ist es nicht bloß Berechnung de9 Herstellers, laß Kitsch besser anbring-lich ist? Nein — daß diese Berechnung, daß das Verlangen nach Kitsch vorhanden ist und wirklicher Erfahrung entspricht, beweist bloß, daß eine große Nachfrage nach der Unwahrheit vorhanden sein muß. Daß anscheinend viele Menschen die klare, aus Sinn, Zweck und Materia! gewachsene Form, den echten originalen Einfall, das im höchsten Sinne „zeitgemäße“ Empfinden und Gestalten nidit mögen, sondern lieber jene Illusion begehren, welche sie über alles Sinnvolle, Zweckmäßige, Gewachsene hinwegtäuscht und so die Wahrheit und Echtheit, wie sie im Gegenstande sichtbar werden, mit niedrigem Schein, täuschender Minderwertigkeit verhängen und süßlich überschminkt 6ehen möchten.

Was aber steckt hinter diesem Verlangen nach Kitsch? Was hinter jener Flucht in Kitsch und Illusion? Demaskierter Kitsch, ja, die Maske selbst ist Kitsch. Denn hinter der Sehnsucht nach Kitsch, hinter dem Verlangen nach Kitsch und verkitschter Wahrheit steht doch die Sehnsucht und das Verlangen nach Wahrheit, aber gleidizeitig auch die Unfähigkeit, die Angst, die Wahrheit so zu sehen, wie sie ist. So, wie sie ist — nicht wie sie äußerlich scheint. Also scheint Sehnsucht nach irgendwelcher Illusion wohl nichts anderes zu sein als Sehnsucht nach Besserem, nach dem Guten, dem Schönen, dem Wahren? Bedeutet Illusion nicht nur Fludit vor dem Schönen, Guten und Wahren, sondern gleichzeitig das Verlangen danach? So ist es wohl. Aber dieses Verlangen will das Schöne sehen, wie es sich eben das Schöne vorstellt, das Gute so, wie es sich das Gute vorstellt, das Wahre so, wie es sich das Wahre vorstellt. Nicht so, wie der Denker, der Künstler als Seher, als Deuter es uns weist. Oder — gelten etwa Denker und Künstler nicht mehr? Sind sie ihres sinnvollen Amtes entkleidet? Verzichtet eine Menschheit, die sich mit der Illusion ihres Fortschritts brüstet, ihrer Aufgeklärtheit, der Illusion ihrer Sinne, die sinnlos wurden in ihrer Selbstherrlichkeit, verzichtet eine loldie

Menschheit auf Deuter, auf Seher? Auf die Künder des Wahren, Sdiönen und Guten? Fast möchte es scheinen, als wäre es so. Als wolle der anonyme Auftraggeber, der „unbekannte Mann aus dem Volke“ — der „kleine Mann der Zukunft“, und als solcher — nehmen wir an: der Menschentyp der Zukunft —, als wolle dieser kleine Mann, durch keinerlei Vorbilder angeregt oder bedrückt, in seiner Enge und Beschränktheit, seine Vorstellungswelt, sein Vorstellungsvermögen zum Stil werden lassen. Also: Kitsch — der Stil des kleinen Mannes? Das wäre eine schlimme, bedrückende Erfahrung. Alles wehrt sich in uns dagegen. Alle guten Absichten guter und weniger guter Zeitgenossen stehen auf und protestieren. Nein — der kleine Mann ist populär, ist als Mann der Zukunft, Menschenbild, und Material, ehrwürdig und unsere Hoffnung — die Hoffnung aller, die ihn brauchen. Man wirbt um ihn. Man rühmt ihn, schmeichelt ihm und — benützt ihn... Aber ohne Illusion und ohne Berechnung gesehen: es ist der arme, namenlose Mensch, als Material verwendet für künftige Zeiten. Spielzeug in den Händen Skrupelloser, Ausrede für das selbstsüchtige Wirken fragwürdiger Händler und Weltverbesserer. Und der kleine Mann ist dankbar für Illusionen. Und das Ziel seiner Sehnsüchte ist nicht fern und unerreichbar. Es ist “in wenig kitsdiig und ähnlich, wenn auch sehr verkleinert und verbilligt, dem, das er bei jenen sah, die über ihm standen und stehen.

Nichts Neues — nur für sein Maß gewandelt, umgeschneidert, zurechtgeschnitten und aus billigem Material — aus meist unechtem ... Und ein wenig Flitter, bunt glitzernder Futter, süße Farben, Wolken, die verhüllen, Zierat, der vergessen läßt. Und — „gemütlich“ muß die ersehnte Welt sein. Aber auch ein bißchen heroisch. Und so würde er vielen gerade passen, der kleine Mann, schön eingeschachtelt und eingeordnet, • zufriedengestellt und befreit von allen gefährlichen Wünschen ...

Oder — sollte der kleine Mann, um den man wirbt, sollte er, aus eigener Kraft einmal das Kitschideal, die Kitschillusion, den illusionistischen Kitsch abwerfen und wirklich — als „kleiner Mann“, aber das echt, wahr und vollendet, in edler Beschränkung, aber wieder zum Menschen' frei geworden, frei geworden zum Leben in Natur und Übernatur, sollte dieser kleine Mann, ent-kitscht, zum Träger eines echten neuen Stils werden? Denen allen zum Trotz, zum Schrecken und zum Ruin, die sich schon so auf den willigen, bescheidenen, gut funktionierenden „kleinen Mann“ gefreut hatten? Sollte er sich als wirklicher Mensch der Zukunft zu erkennen geben? Als der Mensch, der nicht nur zu arbeiten, sondern — was man seit langem vergaß, vergessen wollte und vergessen will — zu leben verstehen wird? Als homo sapiens. Nicht als einer, dem man die karge Freizeit „gestaltet“ — sondern als einer, der für die freie Zeit arbeitet, weil er für diese geschaffen ist... Doch — auch solche Illusionen wollen wir nicht entstehen lassen. Kein Wunschbild, keine illusionistisch Prophezeiung. Nur die Möglichkeit, die da ist, solange noch die Sehnsucht nach dem Besseren lebt, auch dann, wenn dieses Leben, diese Sehnsucht im Kitsch Befriedigung fjndet. Solange noch die wenn auch verirrte Sehnsucht nach alldem, was über den Alltag, über das Gemein-Natürliche, über das Sinnlich-Wahrnehmbare hinausgeht, solange diese Sehnsucht da ist, etwas wie eine Substanz, die wertvoll werden kann und zukunftsreicher ist als jene Ermattung und satte Müdigkeit, als der schläfrige Kulturpessimismus derer, welche zu klein sind für ihre Möglichkeiten.

Noch kann man nichts erkennen. Noch ist die Zeit voll absonderlicher Illusionen. Sogar jene, die vermeinen, sie völlig verloren zu haben, tauschten sie bloß um für eine andere: die alles leugnende Illusion bösester Art, die man auch Nihilismus nennen kann. Illusion der Illusionslosen. Illusion des Nichts. Verkitschtes Bild einer verkitschten Philosophie. Demaskiert den Kitsch — und ihr werdet den Menschen finden — mit all seinen Möglichkeiten!

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