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Kunst und Kitscli des Alterns

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Beim Anblick der Großmama sagte ein Kind zu seiner Mutter: „Mami, ich möchte nie alt werden. Ich will immer neu bleiben!“ Das ist ein sehr gescheiter Wunsch und man möchte diesem kleinen Fratzen wünschen, daß es ihm glücke, „neu zu bleiben“.

Wenn man die Zeit zum Maßstab des Alters nimmt dann sind alt und jung Gegensätze. Aber dem „Alt“ steht auch das „Neu“ gegenüber. Jetzt wird die Sache kompliziert. „Neu“ ist eine Qualität, ist die Bestimmtheit eines Zustandes. Neu ist — wenn es sich um menschliche Qualität handelt -, wer am Anfang steht, wer neu-gierig ist, wer noch nicht durch falsche oder fälschende Gewohnheiten verbildet ist, wer noch Kraft genug hat„um die Schäden der Welt zu übersehen oder über sie hinwegzuspringen, ohne selbst Schaden zu leiden. Wer nicht mehr s o neu ist. den nennen wir alt, weil er allzu lange in der Blumenvase des Alltags gestanden hat und seine Schnittenden an den Stielen verholzen ließ, weil er den täglich nötigen Schnitt nicht tut, der allein am Verwelken hindert. Alt ist, wer verwelken konnte. Alt ist, wer in einer einzigen Phase seiner Entwicklung stecken blieb: beim Knospen, bei der Blüte oder bei der Frucht, die er nicht mehr zum Samen werden, ließ für das ständig neue Andrängen des .anfänglichen Lebens.

Es gibt eine selten mehr gesehene Kunst des Alterns: ein Mensch, der viele Jahre auf dieser Lehmkugel Erde gelebt hat, muß seinen fahren entsprechend aussehen und aussehen wollen. Er muß den Mut haben, den an lahren lungeren zu zeigen, daß er lange genug gelebt hat und sich nicht sparte. Das ist die äußere Kunst des

Alterns. Die andere, die Kunst des inneren Alterns, ist noch schwerer: denn die äußeren Lebensbedingungen sind bloßes Material, was mit diesen vielen langen Jahren geschehen ist, muß einem wahren Menschen zum Eigentum und Ereignis geworden sein, das man dann Reife nennt. Reif ist, wer durch die langen Jahre des Erdenlebens weise wurde; den Überblick über die Zeit und die Möglichkeiten bekam; zusehen kann, daß es Menschen gibt, die jünger an Jahren und unreifer an Erfahrungen sind. Der Heilige Thomas von Aquin sagt deshalb auch, daß nur jenes Alter verehrungswürdig sei, das aus den Erfahrungen des Lebens leben gelernt hat. Alle Reife hat aber in sich den Schatten und die Samenkraft des stets Neuen. Jede Reife will wieder von vorn anfangen; Wie ein Kern in der Frucht liegt das Neusein in der Reife. Und darum ist der reifgewordene alte Mensch so charmant: etwas vom Kindsein strahlt durch die Weisheit des würdigen Alters.

J u n g ist, wer an Jahren noch nicht viel erlebte- und erfuhr. Jung ist, wer die Neuheit als Last und als Lust erträgt; denn es ist gleich schwer für den jungen Menschen, daß er das „noch nicht“ erleben muß und - erleben darf. Darum sind Kinder von einer schönen, fast ehrwürdigen Traurigkeit, von einer der Natur abgelauschten Schwermut, und keineswegs immer heiter und unbefangen fröhlich Dem anfangenden Menschen steht die Traurigkeit und die Schwermut gut zu Gesicht und Wesen — ein Schatten der Reife liegt im Jungsein; die geahnte künftige Frucht liegt auf dem Grund des Neuseins im jungen Menschen. Die Reife des Alters trägt die Gloriole des Neuseins, das aus der Jugend herübergerettet wurde. Das Neusein der Jugend trägt den Charme der Reife, den es dem Altern vorwegnimmt.

Die Kunst des Alterns ist schwierig zu erlernen. Vielleicht läßt sie sich gar nicht erlernen, sondern ist wie eine Gnade, die kommt, wenn sie will, wo und wann sie geschickt und geschenkt wird. Wer diese Kunst nicht kennt und nicht für sie begabt ist, sollte seine Mitmenschen wenigstens mit dem Kitsch des Alterns verschonen.

Kitsch ist eine Heuchelei: durch äußere Form wird vorgetäuscht, was an Inhalt fehjt. Kitsch ist Überbetonung der Form bei unterernährtem Inhalt. Kitsch beim Altern macht den Menschen lächerlich. Muß nicht ein unreifer alter Mann heutzutage seine Unwürde mit Kleidern, Schminke und Prothesen ebenso verbergen, wie ein unreifes Mädchen, das sich erwachsener gibt, als es ist? Die in den Knabenjahren steckengebliebenen Greise; die in die Backfischjahre verliebten alten Damen (unreife Zeitgenossen, beide!) wollen ewig jung bleiben. Man geniert sich nicht, in der lächerlichsten Weise mädchenhaft sich herauszuputzen und ein ewiger „Mann in den besten Jahren“ zu bleiben. Das ist Kitsch — ein Kitsch des verpaßten Anschlus--ses an das den Jahren entsprechende menschliche Gehaben. Es geht aber auch der umgekehrte Kitsch um — und dieser heute als Neuerscheinung auf dem Kitschmarkt des Alterns: Weisheit und Reife, die nie ankamen und auch keine Aussicht mehr haben, je sich einzustellen, werden mit lächerlichen Attributen vorgezaubert. Man will würdig, vertrauenswürdig aussehen und gibt sich als Matrone und alten Herrn aus; dabei schaut diesen Kitschfiguren des Lebens aus jedem Hemdärmel die staubige, gewissenlose Unreife heraus. Graumeliertes Haar; schwarze Kleidung für junge Mädchen; resignierte, lüsterne Zurückgezogenheit; schwermutvolle Seufzer über die Vergänglichkeit der Jugendzeit — das ist bloß ungekonntes Leben. Das ist Heuchelei. Das ist Verrat an den Jahren und an der Reife. Das ist bewußte Selbsttäuschung und durchschaubare Täuschung der Umwelt.

Wer sollte denn etwas gegen einen Menschen haben, der zu seiner Zahl der Lebensjahre steht? Wer sollte denn einen schelten wollen, der zugibt, daß ihm die Reife nicht glückte und er die Gnade der Weisheit nie erreichte? Ist nicht im Zugeständnis der Jahresanzahl und der konstanten Unzulänglichkeit schon eine Art Weisheit und Reife? Wer nicht mehr aus sich macht, als er ist, ist demütig und wahrhaftig — der ist nicht weit vom heilbringenden Weistum. Vielleicht wäre die Welt, wollte sie sich nicht in Gleichmacherei selbst zugrunde richten, reicher und schöner, lachender und erträglicher, wenn es mehr alte Lausbuben und grauhaarige Mädchen gäbe! Wohl dürften diese nicht mit ihrer steckengebliebenen Seele kokettieren wollen; sie müßten die schöne Einfalt und Selbstverständlichkeit aufbringen, das zu sein, was sie sind: dann wären auch diese nicht weit von der Weisheit des Lebens entfernt. Bloße äußere Form des Jungseins macht nicht „neu“. Bloße äußere Form des Altseins macht nicht jung. Auf dem Inhalt des gelebten, des klein oder groß erlebten Lebens kommt es an. In einer einzigen Bewegung des unfertigen Menschen — und bliebe er zeitlebens in dieser stecken — kann ein Gedicht sein: diese Bewegung stünde für viele, für ungesagte und ungekönnte Worte, und wäre dadurch etwas Ganzes. Statt solcher Kunst bieten wir uns den Anblick von lauter Gestrüpp: vielfältige, jämmerliche Versuche, zeit- und kraftraubende Anstrengungen, die zu nichts führen als zur Lächerlichkeit.

Was ich noch dazuschreibe, brauchen Sie nicht zu lesen. Besitzen wir die Kunst des Alterns nicht und wollen jung bleiben und den Schatten des stets Neuen und Anfangenden mittragen, dann sollen wir religiös werden. Verheißen ist dem Christen die „Neuheit des Lebens“, wenn er hoffend auf die neue Erde unter dem neuen Himmel mit dem an Leib und Seele neuen Menschen wartet. Der „neue Mensch“ beginnt jetzt: wenn er an das ewige Leben glaubt, das in ihm ist durch die neue Geburt aus Wasser und Heiligem Geiste. Glaubt er noch an die Auferstehung des Fleisches, so liebt er seinen Leib und pflegt ihn kosmetisch und sportlich und läßt ihn dennoch beruhigt ins Grab sinken und zu Staub verfallen: hinter alledem steht die Hoffnung auf die Auferstehung. Der jetzt und hier durch den Glauben an Christus lebende „neue Mensch“ kann nicht in den Kitsch des

Alterns, der Menschenkonservierung verfallen. Er lebt und lebt ewig jung. Die höchste Kunst des Alterns ist der Glaube an den „neuen Menschen“. Kitsch im religiösen Sinne ist noch viel schlimmer als im Sinne der Natur. Religiös gesehen, wird dann aus dem Altern, aus nichtgekonnter Reife ein Untergang auf ewig. Die „alte Schlange“ ist zwar der Name des Teufels, aber ebenso gültig wie der Name Christi, der ist: „der neue Mensch“. Zur „alten Schlange“ gehört und eine „alte Schlange“ ist, wer nicht zu seinem zahlenhohen oder zahlenarmen Alter steht. Eine „alte Schlange“ ist jener das ewige Leben verachtende Mensch, der unreif ist und sich reif gibt; der nicht neu ist und sich neu gibt. Der Teufel, diese „alte Schlange“, ist immer ein Lügner und Heuchler gewesen, und zu ihm gehören alle jene, die lügen und heucheln mit ihren Lebensjahren und ihrer Lebensreife. Der „neue Mensch“ Christi zählt nach Herrlichkeiten, die er geschenkt bekommt. Die „alte Schlange“ zählt nach Elendigkeiten, nach Löchern in der Wirklichkeit.

Reden wir also nicht mehr vom Altern, von seiner Kunst und von seinem Kitsch. Es ist genug Wahrheit und Urteil darin, wenn wir die Menschen gruppieren — und vor allem uns selbst einordnen: es gibt nur „neuen Menschen“ und „alte Schlangen“.

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