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Mangelware Phantasie
Lange Zeit ist Kunst ein sehr sichtbarer Faktor der Gesellschaft gewesen, nämlich Sprachrohr und Darstellung der die Gesellschaft beherrschenden Mächte und der sie verändernden Kräfte, wichtiges Instrument der Information, Repräsentation und Motivation.
Nicht wahr: Die goldgerahmten Porträts der ordensgeschmückten Persönlichkeiten, ihre Denkmäler hoch zu Roß auf den glänzenden Marmorsok- keln, ihre Triumphbögen und Mausoleen, ihre Schlösser und die weitgespannten Achsen, die alle Blicke auf sie lenken sollten, und damit auf die Macht, die sie - bis heute! - sehr sichtbar baulich verkörpern, die Krönungsmessen und Siegesmärsche, all die kleinen und großen Zeichen weltlicher und geistlicher Macht und Gewalt - sie sind
alle von Künstlern geschaffen. Ebenso aber waren sie auch Sprachrohr der Gegenkräfte, der Gesellschaftskritik, des Aufrufs zur Befreiung und Revolution - Fidelio und die Marseillaise.
Erst unlängst hat Posener ein Wort Sempers über die Architektur zitiert: „Wo aber immer ein neuer Kulturgedanke Boden faßte und als solcher in das allgemeine Bewußtsein aufgenommen wurde, dort fand er die Baukunst in seinem Dienste, um den monumentalen Ausdruck dafür zu bestimmen. Ihr mächtiger zivilisatorischer Einfluß wurde stets erkannt und ihren Werken mit bewußtem Wollen der Stempel aufgedrückt, der sie zu Symbolen der herrschenden religiösen, sozialen und politischen Systeme erhob.“
Das alles reicht - besonders in unserer alten Reichshaupt- und Residenzstadt - bis in die Gegenwart, obgleich sich inzwischen die Gesellschaft sehr verändert hat. Architekturprofessoren zeichnen wieder monumentale Achsen, die größten Hochhäuser Wiens sind von ihrem Architekten das „Versailles der demokratischen Gesellschaft“ genannt worden, und einer der Maler der monumentalen Wandgemälde in den zweigeschoßigen Eingangshallen dieses. „Versailles“ hat - in allen Straßenbahnen war’s zu lesen! - ein „Plädoyer für eine Staatskunst“ gehalten.
Aber solche Reminiszenzen ändern natürlich nichts daran, daß die Mächte, die heute die Welt beherrschen, die großen internationalen Organisationen der Geldgeber, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ihrer Unpersönlichkeit kein Gegenstand künstlerischer Darstellung und Repräsentation mehr sein können und wollen:
Erstens, weil sie zum Unterschied von den Herrschern der Vergangenheit ihre Macht nicht zeigen, sondern eher verbergen wollen, um den Beherrschten das Bewußtsein, vielleicht die Illusion ihrer persönlichen Freiheit und ihres Mitbestimmungsrechtes nicht ganz zu nehmen.
Zweitens, weil die Aufgabe der Information, Repräsentation, Motivation und vielleicht auch Manipulation in der modernen Massengesellschaft nicht mehr durch Kunst, sondern nur durch die großen Organisationen der Massenmedien bewältigt wird und werden kann.
Angesichts dieser Enthebung der Kunst von einer ihrer klassischen Aufgaben, Macht zu repräsentieren, die die Kunst ja auch von der Verpflichtung zur Gegenständlichkeit befreit hat, erinnern wir uns, daß Kunst daneben von Anfang an bis heute auch ganz Anderes gewesen ist: Denken wir nur an das naive Bild, durch das ein Kind uns in das wunderbare Land seiner Phantasie blicken läßt, an das Volkslied oder
die Musik auf dem Tanzboden, den fröhlich gepfiffenen Gassenhauer - oder an das von den Archetypen des Unbewußten erfüllte Märchen, an das Gedicht oder den Roman, der sich mit den Fragen der Seele beschäftigt, kurz, an alle jene künstlerischen Äußerungen, die ohne Absicht, nicht im Dienst eines Auftraggebers entstehen, sondern dem eigenen Antrieb gehorchen, die nicht einer äußeren, sondern der inneren Stimme folgen.
„Und wenn die äußeren Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab und sich selbst zu“, hat Kandinsky 1910 in seinem berühmten Essay „Über das Geistige in der Kunst“ gesagt; mit seiner Bemerkung über die ewige Freiheit der Kunst, in der es kein Muß gibt, ist offenbar das äußere Muß gemeint - denn er schreibt gleichzeitig nicht nur vom „Selbstäußerungszwang Picassos“, sondern sein ganzer Essay kreist ja immer wieder um das „Prinzip der inneren Notwendigkeit“.
Nun scheint mir aber heute nichts wichtiger zu sein als diese elementaren seelischen Erlebnisse - scheint nichts wichtiger zu sein als Spontaneität in einer Zeit, die sich von der Unmittelbarkeit des Eindrucks und Erlebnisses, ja durch Lawinen von Informationen und Reproduktionen, von Verwaltung und Verpackung jeder Art immer weiter entfernt sieht; in der man nicht mehr die Welt sieht, sondern nur massenhaft vorfabrizierte Abbilder auf den Fernsehschirmen, Plakatwänden, Kinosund Illustrierten; in der diese erdrückende Flut manipulierter Bilder das Entstehen eines eigenen Bildes der Welt, - die eigene „Weltanschauung“ - immer mehr verschüttet, verhindert, und manipuliert zum Konsumzwang, zum Erfolgszwang, zur Bildungs-, Sport- und Reisehysterie usw., - und deren gebaute Umwelt durch unzählige Vorschriften
verschiedenster Fachleute nach den verschiedensten Theorien gebaut wird - als chaotisches Bild einer Welt ohne „Prinzip einer inneren Notwendigkeit“!
Wie kann in dieser von Unruhe, Sensationen und Ablenkungen aller Art erfüllten Welt einer möglichst großen Zahl von Menschen ein konzentriertes Kunsterlebnis möglich gemacht werden? Wie, wo und wann werden Beschauer für ein Kunstwerk empfänglich sein? Sollte nicht der persönliche Bezirk, die eigenen vier Wände immer noch die beste Umwelt für eine Stunde der Besinnung sein können?
In dieser Hinsicht gehen wahrscheinlich die Bemühungen, breiten Schichten gute Bilder zu zeigen, und vor allem dem Einzelnen Gelegenheit zu geben, die ihm zusagenden, ihm etwas sagenden Kunstwerke zu borgen oder zu kaufen, den richtigen Weg.
Womit wir aber erst eine Voraussetzung haben - die zweite liegt beim Beschauer.
Wir sind damit bei der Phantasie, bei der schöpferischen Mitwirkung der Beschauer, also bei deren schöpferischen Fähigkeiten, angelangt, und damit bei dem zweiten wichtigen Beitrag zu unserem Problem, beim Beitrag des „Kunsterziehers“. Er hat die Möglichkeit, bei den Beschauern schon sehr frühzeitig Verständnis,; Empfänglichkeit, Erlebnisbereitschaft dafür zu wek- ken.
Darüber hinaus ist aber die Möglichkeit des Ausdrucks mit den elementaren Mitteln von Linie, Farbe, Form, die Möglichkeit einer unkonventionellen, nicht an überlieferte, abgegriffene Begriffe gebundenen Sprache der Phantasie und des Gefühls, und die solcherart
mögliche Befreiung von Eindrücken, Erlebnissen und Bedrängnissen ganz besonders für die Jugend von großer psychischer Bedeutung, und würde den Psychiatern vielleicht manche Arbeit sparen - wie ja überhaupt auch bescheidenste eigene Produktivität wahrscheinlich mehr bedeutet als nur passives Aufnehmen.
Was würde es aber schließlich und nicht zuletzt für die Entwicklung des Staates bedeuten, wenn phantasielose Bürger nicht mehr in der Lage wären, selbständig zu denken, sondern wenn all ihre Vorstellungen mehr und mehr dem Klischee verfallen würden? Für bestimmte Regierungsformen mag eine solche Situation allerdings nicht unerwünscht, ja geradezu eine Voraussetzung sein.
Die Demokratie aber lebt von der selbständigen Mitwirkung ihrer Bürger. Wie sollen sie zu den Problemen der Gemeinschaft Stellung nehmen, zwischen den gebotenen Möglichkeiten „wählen“ können, wenn sie keine eigenen Vorstellungen mehr haben.
Wenn die Phantasie der Bürger nicht mehr reicht, sich ganz deutlich vorzustellen, wie unser Lebensraum aussehen wird, wenn er immer weiter der Wirtschaft, wenn die Landschaft dem Fremdenverkehr und die Städte dem Autoverkehr aufgeopfert werden, dann werden sie nicht die Kraft haben, sich gegen diese Zerstörung zur Wehr setzen. Wenn sie nicht genug Phantasie haben, um sich vorzustellen, was hinter den Bildern und Worten steht, die man ihnen vermittelt, dann werden sie eines Tages - vielleicht schneller als sie glauben - wehrlos dem Apparat ausgeliefert sein.
Seit jeher, aber ganz besonders heute, bedeutet bildende Kunst etwas ganz anderes und viel mehr als nur ein schönes Beiwerk, etwas ganz anderes und viel mehr als „Wandschmuck“ oder „Dekoration“ für verschiedene Zwecke und verschiedene Gelegenheiten. Sie ist in Wirklichkeit Ausdruck der wichtigsten und kostbarsten menschlichen Fähigkeiten, ohne die letzten Endes ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich wäre.
Wenn es auch gewiß richtig sein mag, was behauptet wird: Wissen sei Macht - so glauben wir doch andererseits auch ganz gewiß zu wissen, daß Kunst - Leben ist. Wenn sie künftig weniger den Mächten dienen wird, die die Gesellschaft beherrschen, dann um so mehr dem Leben und Erleben der Menschen, aus denen sie besteht; sich darum zu bemühen scheint mir besonders nötig - heute - so wenige Jahre vor 1984!
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