6936320-1983_11_11.jpg
Digital In Arbeit

Künstler und Scharlatane

Werbung
Werbung
Werbung

Ich trachte die Grenzen des geschriebenen Stils zu überwinden, oder vielmehr dessen Grenzen aufzuheben … Ich bin das Ungeheuer, für alles gebildete und ungebildete Volk: monstrosa facies, spectaculum mirum, Antlitz des Monsters, Zauberspiel.“ Selbstverliebt betrachtet sich Gabriele d’Annunzio im Spiegel seiner Sprache. Ein exzentrischer Liebhaber, der jeden seiner erotisch-sentimentalen Eindrücke sorgsam notiert, ein theatralischer Revolutionär, der goldgravierte Marmortafeln seines Wirkens wie Fingerabdrücke hinterläßt, ein Spektakelpolitiker, Flieger, Kriegsheld aus Eitel keit, Patriot, besessener Büchersammler, Kunst- und Musikliebhaber, Lyriker, der in seinem Werk. lebt.

Hatte Gabriele d’Annunzio von 1894 bis 1910 sich und seine Bilderwelt in seinem Haus ideal verwirklicht, so erstrebte er schließ-; lieh Größeres, noch Monumentaleres, Unvergängliches — das totale d’Annunzio-Museum. Bis zu seinem Tod 1938 gestaltete für ihn der Architekt Gian Carlo Maroni Villa und Park des „Vittoriale degli Italiani“, einen skurrilen Palast, vollgestopft mit Kunstschätzen und merkwürdigem Trödel, ein Sammelsurium aus Erinnerungen aus Geschichte und Gegenwart, in dessen Zentrum - mitten im Märchenpark — nicht nur Tempelanlagen moderner Ratio, sondern auch d’Annunzios geliebtes Schlachtschiff „Puglia“ aufgebaut worden war.

Dieses Pantheon der Erinnerungen, das natürlich auch so recht nach dem Geschmack Mussolinis war, ging 1938 als Vermächtnis des Dichters ins „Eigentum des italienischen Volks“ über.

Man muß diesen „Fall d’Annunzio“ so ausführlich be schreiben, um zeigen zu können, welcher Monomanie und welches Narzißmus Künstler fähig sind, ja mitunter bedürfen, wenn sie sich des utopischen Begriffes „Gesamtkunstwerk“ bedienen, um ihrem Werk die Fassung zu geben. Aber d’Annunzio ist trotz allen Bizarrerien kein Sonderfall der Kulturszene Europas geblieben, wenn auch sonst nur wenige ihr Leben, ihre Leidenschaften und Gedanken mit solcher Konsequenz zum Gesamtkunstwerk zu stilisieren trachteten.

Die Frage drängt sich auf, warum gerade jetzt das Thema „Gesamtkunstwerk“ zum Diskussionsstoff geworden ist. Richard Wagners 100. Todestag im Februar war der Anlaß, aus dem ein seit vielen Jahren mit Hamburger D-Mark-Millionen vorbereitetes Projekt des prominenten deutschen Ausstellungsgestalters Harald Szeemann verwirklicht wurde: die Ausstellung „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ ist zur Zeit im Kunsthaus Zürich zu sehen und wird im September ins Wiener Museum des 20. Jahrhunderts weitergereicht.

Dennoch ist die’se Schau indessen nicht nur als Wagner-Huldigung zu verstehen. Szeemann will nämlich vor allem den Beweis antreten, daß es höchst aktuell ist, über das „Gesamtkunstwerk“ wieder zu reden. Denn — die „Gesamtkunstwerker“ sind unter uns!

Als unvoreingenommener Besucher der Schau wird man das Gefühl nicht recht los, in einen hermetischen Zirkel’ eingetreten zu sein, in einen Sektiererklan. Oder daß man unter die Teilnehmer einer Höhlenforscherexpedition geraten ist. Überall steht man Monumenten gegenüber, die nach magischen Chiffren aussehen. In merkwürdige Abgründe der Seele muß man sich abseilen, um diese Genies zu verstehen. Und doch bleibt man etwas ratlos.

Denn wie sich Genies nicht über einen Leistungsleisten schlagen lassen, auch wenn sie mit dem Schlagwort Gesamtkunstwerk operieren, so fügen sich diese Dokumente — Gemälde, Skulpturen, Architekturmodelle, Fotos, Briefe, Ambiente, Rekonstruktionen - nirgends zum Ganzen. Als stumme Zeugen, die - kapriziös wie ihre Schöpfer selbst - erst erschlossen und enträtselt werden wollen, durchziehen sie Europas Kulturgeschichte.

Szeemann beweist es: Seit dem Ahnherrn Richard Wagner, dem wir die Wortschöpfung Gesamtkunstwerk verdanken, ist dieser „moderne“ Drang der Künstler, Thema ihres Werks zu sein und sich selbst im Werk zu Überhöhen, im Spekulativen wie in den Versuchen der Verwirklichung bis in unsere Gegenwart nicht mehr ab-

• gerissen. Auch wenn vielleicht der geringe Abstand zu unseren Zeitgenossen den Blick für solche Tendenzen bisher etwas verstellt hat, werden doch merkwürdige Verwandtschaftsverhältnisse durchschaubar: zwischen Filmregisseur Syberberg, Wagner selbst und Bayerns baubesessenen König Ludwig II., zwischen Rudolf Steiner, dem Gründer des Goe- theanums, Kurt Schwitters Kathedrale und den sozialen Kunstkonzepten eines Joseph Beuys, zwischen dem Aktions- und Klangmagier John Cage und einem Mystikerarchitekten wie Antonio Gaudi, dem deutschen Allegoriengestalter Anselm Kiefer und Max Reinhardt usw. Und noch konsequenter ist etwa Werner Hofmann im Essayteil des gewaltigen Katalogs, wenn er den Anspruch des Gesamtkunstwerks Wien, einer theatralischen Fiktion der Jahrhundertwende, als unvergleichliche Summe des ge- samtkunstwerklich orientierten , Kosmopolitismus Europas preist.

Man muß Beispiele und immer wieder Beispiele nennen, um den Begriff leichter abstecken zu kön nen. Für Wagner bedeutete Gesamtkunstwerk die Vereinigung aller Künste zu einem totalen, synthetischen Werk von höchstem, die daran Teilnehmenden sogar verändernden Anspruch. Der Künstler als Schöpfergott — eine typische, dämonisierte Vorstellung der säkularisierten Kunst des 19. Jahrhunderts - verschmilzt die bestehenden Kunstgattungen zum neuen zukunftsweisenden Kunstwerk, das in der Gegenwart Utopie bleibt.

Ausgesprochen oder unausgesprochen schwingt diese Vorstellung vom „Kunstwerk der Zukunft“ seither in allen Visionen, mit denen Künstler ihr Jahrhundert zu überragen trachten. Die gemeinsame Basis dieser Arbeit am Kunstwerk der Zukunft ist allerdings eine geistig-seelische Haltung - das Pathos, das zur entscheidenden Antriebskraft wird.

Da merkt man aber gerade in der Zürcher Kunsthalle, daß selbst phantasievolle Ausstellungsgestalter hier an eine Grenze stoßen: Sie sind dazu verdammt, nur Teile dieser künstlerischen Zelebrationen vorführen zu können, Fragmente einer Kunstwelt, Fragmente aus den Phantasieschüben der Künstler, die ihr Leben und Werk der Utopie der Ganzheit gewidmet haben - auch wenn sie irgendwann vielleicht zu der fatalen Erkenntnis gelangten, daß die totale Verwirklichung „Arretierung der Wunschenergien“ bedeuten würde, also Umwandlung von Phantasiedenken in Besitzsicherung und damit Abwendung von Gewalt zur Absicherung der Macht.

Doch auch diesen Weg sind manche gegangen: vor allem die „politischen“ Künstler: Wagner, d’Annunzio oder der paranoide Phantast auf dem Königsthron, Ludwig II., der sein welkendes Gottesgnadenkönigtum in theatralischen Fiktionen, in Rekonstruktionen von Gralsburgen, in Mysterienmaskeraden und Wagner-Weihfestspielen konservieren wollte.

Überleben in einer Utopie war die Idee. Und ist sie geblieben - auch wenn der „politische Gesamtkunstwerker von heute“, etwa der charismatische Schamane Joseph Beuys, nicht mehr Maskeraden inszeniert, sondern durch Kunst einen neuen sozialen Organismus schaffen will, an dem die Menschen in Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben als kreative Plastiker mitgestalten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung