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DIE ZEHNTE MUSE

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Hier und da zieht ein Kunstwerk den Vorhang vor der Zukunft einen Spalt weit auseinander und läßt dahinter Möglichkeiten ahnen, an die niemand gedacht hatte. Ein solcher Blick öffnete sich mir, als ich Stefan H I a w a s Szene zu Giraudoux' Schauspiel „Intermezzo“ sah. Einen Augenblick lang sah ich die Versöhnung der alten und der neuen Kunst, der abstrakten und der lebendigen Schönheit.

Das Bühnenbild des ersten und des zweiten Aktes besteht im Grunde nur aus zwei Elementen: In fast lebensgroßen Photographien von Auen und Ufern ist die ganze Schönheit der Natur in einer Zartheit da, wie man sie auf der Bühne zu zeigen überhaupt noch nicht gewagt hat, und im Film nur selten, so zum Beispiel in dem russischen Film „La jeunesse d'un poete“ der nächtliche Park von Zarskoje Selo. Aber diese Welt der Natur ist nicht geschlossen. Wie durch Risse, die nach einer magischen Geometrie in unbegreiflichen und faszinierenden Kurven verlaufen, schaut eine andere „Natur“ herein, jene, die Hölderlin „aorgisch“ genannt hat: ein Oesterreich in Marmor und Schiefer. Beide „Naturen , so verschieden, sind — und darin besteht das Geniale dieser szenischen Erfindung — doch nur zwei Erscheinungsweisen desselben Wesens. An der Grenze, dort wo die zwei Welten sich schneiden und berühren, steht der Mond, der beiden Naturen angehört, beide verklammert und an beiden teilhat: an dem Wandelbaren von Laub und Wasser und an dem Unwandelbaren der Sterne. Und dort sollte nach dem ursprünglichen Entwurf, ■ -den die Regie leider aufgegeben hafyeruch der „Geist“ erscheinen. Dieses Hereiriwirken“ einer anderen Welt in die hiesige entspricht ja auf das genaueste dem Thema des Stückes / Nur scheint es mir in den Bildern der Bühne tiefer aufgefaßt zu sein als in dem Text, welcher der Romantik gerade in ihren Schwächen zu nahe bleibt. Gespalten von diesen hieroglyphischen Bruchlinien, wird der Anblick unserer vertrauten Landschaft auf eigentümliche Weise „rührend“: die Weidenbäume sind menschlichem Wesen nahe, wie der Lorbeer der Daphne. Die stummen Eisfiguren der abstrakten Kunst aber beginnen bei der Berührung mit der Wärme der Natur, auch der nur in getreuen Bildern anwesenden, zu tönen, wie die Memnosstatuen unter den Sonnenstrahlen. So zu trennen und zu verbinden ist heute wahrscheinlich die einzige Art, uns eine Erfahrung nahezubringen, die man immer den Griechen verdanken wird: das Doppelgesichtige der Menschenwelt, die Einheit des Reizenden und des Erschreckenden, Nomos und Mimesis, Pyfhagoras und Theokrit. Dem Erfinder dieser Szene hat sich — ohne einen Rückblick auf das Griechische — eine unbestreitbare Wahrheit offenbart. Man ahnt, dafj es in der Kunst Versöhnungen gibt, die in der Wirklichkeil ausgeschlossen erscheinen.

Es wäre noch manches darüber zu sagen, wie diese Szene technisch „gemacht“ und ihre tragende Idee durchgeführt ist. Zum Beispiel durch die wirksame Vorfäuschung, daß nämlich die Nafurbilder im Grau der vergrößerten Photographie gegeben sind, die „abstrakten“ Partien aber in dunklem Grün. Oder die geistreiche Verwendung flacher Kulissen. Wer da sagen wollte, das alles sei schließlich nur das Prinzip der „Montage“, überfragen auf ein Bühnenbild, hätfe das Wesentliche übersehen. — Ich möchte aber etwas anderes dazu sagen.

Als ich diese Szene befrachtete, kam mir das wahre Theater wie eine Arche Noah vor, auf die der Weltgeist nach höherem Befehl die Künste gerettet hat, damals, als im 19. Jahrhundert die große Flut hereinbrach, die lebendige Vergangenheit verschluckte und in Häßlichkeit ertränkte. Diese.Arche trägt nicht nur die Künste der Bühne durch die graue Oede des Zeitalters der „Massen“, sondern auch — in ihren Scheinbildern wirklicher als in der massiven Wirklichkeit draußen — die Idee der Architektur, der Skulptur, der Malerei, des Ornaments. In ihr „vertragen“ sich die Künste noch miteinander; in ihr ist die Architektur noch nicht an den Ingenieur verraten, die Skulptur begnügt sich nicht mit dem Maschinenbestandteil oder dem Schneeklumpen, die Malerei nicht mit dem Schachbrett oder dem Krawatfenmusfer.

Das Museum ist ein glänzendes Obdachlosenasyl der Kunst oder jener Friedhof des alten Europas, nach dem Iwan Karamasow sich gesehnt und dessen Tote er beweint hat. Die Besucher dieser Mausoleen sprechen und bewegen sich wie Menschen, die unter den Denkmälern Abgeschiedener umhergehen. Hier ist es unendlich schwer, an die „Auferstehung der Väter“ zu glauben. Auf den Brettern der Bühne aber Ieb1 die Kunst. Auch noch in dem schlecht aufgeführten Shakespeare lebt sie mit einem ganz anderen Leben als in dem am besten konservierten Rembrandt, und in einem guten Bühnenbild ist oft mehr von der Idee und Substanz der bildenden Künste mitgegeben als in einer ganzen modernen Stadt.

Das wahre Theater ist der Zauberpalasf der Armida. Als die Welt banal wurde und die Fesflosigkeit sich in ihr ausbreitete, hat Armida die Musen in ihr Haus ohne Fenster eingeladen. Welche Kunst den Reigen der Künste anführt, darüber haben seit den Tagen der Renaissance Künstler und Liebhaber der Künste gestritten: einmal wurde die Architektur für die erste der Künste gehalfen, die Dichtung, die Malerei, sogar die Gartenkunst, dann, seit der Romantik, die Musik. Heute könnte man die Palme mit Grund dem Zauberer der Szene geben, den man den Bühnenbildner nennt; der zehnten Muse. Ihm allein ist es nicht nur erlaubt, sondern geboten, was der Architekt, der Maler nie tun kann, ohne zum Schauspieler im schlechten Sinn zu werden: sich in alle Masken zu werfen, alle Zeiten zu vermischen, Geister der Vergangenheit zu zitieren, Stile zu regieren, alles mif der Sprache zu verknüpfen, die den Menschen zum Menschen macht.

Jene Kunst aber, welche in einem bestimmten Augenblick der Geschichte an die Spitze der anderen treten darf, sieht auch am weitesten voraus. Sie wird prophetisch. Sie sieht den Gipfel des Ararat und vielleicht sogar die Taube mit dem Oelzweig. Sie wird das Tor des Zauberpalastes öffnen, wenn die geretteten Künste aus ihrer Höhle heraustreten und die Zeit der Feste unter die Menschen zurückbringen.

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