7008767-1987_51_26.jpg
Digital In Arbeit

Erfahrung des Schönen

Werbung
Werbung
Werbung

Ratlosigkeit, Befremden, gleichgültiges Achselzucken, aggressive Ablehnung, avantgardistische Bej ahung, Mitläuf ertum aus der uneingestandenen Angst, von der „Szene“ als Banause entlarvt zu werden — das sind wohl die durchschnittlichen Reaktionen des Publikums auf die Werke der modernen Kunst. Die Diskrepanz zwischen dem gängigen Vorverständnis von Kunst auf Seiten des Publikums und dem Kunstverständnis des Künstlers hat zu einer Unsicherheit geführt, die sich nicht zuletzt an den kulturpolitischen Querelen manifestiert.

Kunst, so scheint es, ist zu einer vieldeutigen Wortmarke geworden, die auf das Heterogenste geklebt werden kann. Der Unterschied von Kunst und NichtKunst, von künstlerischen und nichtkünstlerischen Vollzügen und Verhaltensweisen, von künstlerischen und nichtkünstlerisehen Werken scheint wie verschwunden, so nicht der Werkbegriff überhaupt verabschiedet wird. Kunst ist anscheinend das, was als Kunst deklariert wird. Dazu paßt das Auftauchen von Ersatzkriterien: Gegenwärtig scheint unter Mithilfe von Kunsthandel und Kunstrichtern zum Großteil der ökonomische Wert den künstlerischen Rang zu bestimmen.

In Anbetracht dieser sattsam bekannten Situation empfiehlt sich weniger die Suche nach neuen Werten, sondern die kritische, das heißt sich an der möglichst ursprünglichen Erfahrung orientierende Rückfrage nach dem immer noch herrschenden Vorverständnis des Schönen und der Kunst, das von den herabgesunkenen Philosophemen der Ästhetik durchsetzt ist. Für das Bildungsbewußtsein ist Kunst allenthalben erstens schöne Kunst, zweitens Kunst des Genies; und drittens besitzt Kunst einen religiösen Nimbus, wenn sie nicht überhaupt Religionsersatz ist - wie sie dies zum Beispiel für Richard Wagner in Gestalt des Gesamtkunstwerks - des Kunstwerks der Zukunft - gewesen ist.

Es könnte viel zur Entkrampfung der gegenwärtigen Einstellung so mancher Beteiligter zur Kunst beitragen und dem Kampf um die sogenannte Freiheit der Kunst etwas von'seiner Gereiztheit nehmen, würde genügend realisiert, daß die Ästhetik eine keineswegs sich von selbst verstehende Deutung ist. Weder für die Antike noch für das Mittelalter war etwa das Schöne und die Kunst ein ästhetisches Phänomen. Auch wäre zu überlegen, ob der juridische Begriff der Freiheit der Kunst, also der Freiheit von der Bevormundung durch Zensurbehörden, einfach mit Bin-dungslosigkeit zusammenfällt.

Das gegenwärtige Problem einer Unterscheidbarkeit von Kunst und Nicht-Kunst markiert das Ende der Ästhetik, von dem nicht behauptet werden kann, es falle mit dem Ende der Kunst zusammen. Kunst muß keineswegs schon aufhören, wenn sie etwa aufhören sollte, eine im Sinne der Ästhetik schöne Kunst zu sein. Die Ästhetik ist ja eine relativ späte Erscheinung in der europäischen Geschichte: Sie ist die unter den Prämissen der neuzeitlichen Subjektivitätsmetaphysik stehende Bestimmung des Schönen und der Kunst. Sie ist eine Reaktion auf das neuzeitliche Erkenntnisideal, auf das Wissen im Zeichen der Methode, den Erfahrungsbegriff — und das damit zusammenhängende Verständnis von Wirklichkeit - mit sinnfreier Faktizität gleichzusetzen. Die Ästhetik versucht unter Anerkennung dieser Vorentscheidungen das dabei zu kurz Gekommene zu rehabilitieren—das aber ist etwas anderes, als die Vorentscheidungen selbst auf ihre Legitimität hin zu befragen!

Indem die Ästhetik die Rolle der Naturwissenschaft als Verwalterin von Erkenntnis und Wahrheit unangetastet läßt und die Reduktion des Wahren auf das bloß Faktische heimlich übernimmt, trennt sie das Schöne endgültig vom Wahren und führt den „Antagonismus von .wahr' und .schön' und ,gut'“ (Friedrich Nietzsche) herauf. Diesen Bruch sucht sie durch die Etablierung eines autonomen Bereichs der Schönheit zu kompensieren. Was sich - historisch gesehen — als Rettung verstanden wissen wollte — etwa das Geltendmachen des poetischen Weltverständnisses auf der Basis einer vollkommen ausgebildeten Sinnerkenntnis gegenüber der rationalistischen Weltbewältigung bei Alexander Gottlieb Baumgarten, dem Begründer der Ästhetik in Deutschland—, führt allerdings zu einer Preisgabe. Die ästhetische Bestimmung ordnet das Schöne einem Gefühlszustand des Subjekts zu und begreift es primär von seiner Wirkung her. Ästhetisch gesehen ist Schönheit nicht der Glanz, darin Wirklichkeit in einer die Fassungskraft des Menschen übersteigenden Weise sich zeigt, sondern letztlich der leere, der Wirklichkeit — das heißt: der bloßen Faktizität—entgegengesetzte Schein.

Das kann eine Zeitlang verdeckt sein, zum Beispiel durch die Erhebung des Schönen in den Rang eines Symbols des Sittlich-Guten, wobei dieser Vorschein einer Aufhebung von Natur in Freiheit nur mehr durch ein Postulat vom Dasein Gottes abgesichert ist, wie bei Immanuel Kant. Das ästhetische Paradigma kann es aufs Ganze gesehen nicht verhindern, daß Schönheit zur bloßen Überhöhung der sinnleeren Faktizität herabsinkt und damit ideologisch wird. Die in der Kunst vorweggenommene Beschwörung der für die Theorie unverfügbaren Natur als Retterin der Menschheit — wie etwa in der Frühromantik oder bei Richard

Wagner -, die Rolle des Genies als eine Art neuer Heiland sind nur Verzögerungen der Einsicht in die nackte Wahrheit: daß die an die Stelle Gottes getretene und nun mit seinen Prädikaten ausgestattete Natur nicht eine sinnstiftende, sondern eine destruktive Macht ist. „Wir haben die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehn“, sagt Nietzsche.

Die ästhetisch-schöne Kunst wird zum Uberlebens-Mit-tel, sie macht die Sinnlosigkeit des Ganzen zumindest temporär erträglich. Diese Funktionalisie-rung—ermöglicht durch die Auto-nomisierung—ist nur die Folgeerscheinung einer Uberforderung, in die die Kunst unter den Bedingungen einer für gültig erachteten negativen Religionskritik gerät: Religionsersatz zu sein. An die Stelle einer liturgischen Feier tritt die Kunstfeier. Einmal jedoch funktionalisiert ist das Schöne und die Kunst durch andere Mittel ersetzbar. Therapie kann zum Beispiel denselben, wenn nicht gar einen besseren Dienst leisten, zumal dann, wenn Sinn als Korrelat eines Bedürfnisses begriffen wird. Nach Sigmund Freud versetzt uns die Kunst in eine „milde Narkose“.

Es ist demnach gerade die ästhetische Bestimmung, welche den Unterschied von Kunst und Nicht-Kunst aufhebt und im Grunde bedeutungslos macht, was umso bemerkenswerter ist, als die Ästhetik bei ihrem Beginn auf die Unterscheidung von Kunst und Natur, ästhetischer und mechanischer Kunst — kurz auf die Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst - größten Wert gelegt hat. Autonomie endet in Beliebigkeit, die nicht einmal mehr langweilt.

In der Tat gibt so manche Erscheinung der Kunstszene zu denken—.freilich nicht schon das, was der kulturpolitische Kampf um die Freiheit der Kunst bedenkenswert findet. Nicht deshalb sind noch so schockierend geplante Provokationen des sogenannten Bürgertums unfruchtbar, weil sie infolge von erhöhten Reizschwellen irgendwann einmal uninteressant werden — weshalb man vermutlich besser daran täte, sie sich selbst zu überlassen —, sondern weü sie als bloße Antithesen selbst noch gerade in ihrer Heftigkeit dem zutiefst verhaftet sind, wogegen sie auftreten: als anti-ästhetische Aktionen bewegen sie sich innerhalb des Bestimmungsfeldes der Ästhetik. Sie zeigen zwar deren Fraglichkeit an, übernehmen jedoch deren Voraussetzungen.

Gerade auf diese aber käme es an. Dazu wäre freilich eine Besinnung erforderlich, die mit Goethes Bemerkung, „das Schöne ist ein Urphänomen“, ernstmacht. Die Schwierigkeit solch einer Besinnung wird umgangen, wo man meint, die Schönheit als vorweggenommene Befriedigung eines Bedürfnisses ansetzen zu müssen, wie dies gegenwärtig zuweilen geschieht. Nicht nur wird hier völlig kritiklos der Mensch primär als ein Bedürfniswesen begriffen, sondern es bleibt weiterhin eine Zuständlichkeit des Subjekts für die Bestimmung des Schönen maßgeblich: es wird ästhetisch gedeutet. Die Chance, die das Ende der Ästhetik eröffnet, bleibt ungenützt: Unter bewußter Suspendierung . der ästhetischen Grundbegriffe sich auf die persönliche Erfahrung des Schönen einzulassen.

Der Autor ist Universitätsprofessor für Philosophie in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung