Tiefgründiger Anreiz der Lebenskräfte

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Heute herrscht ein Kult um die Schönheit, ihre tiefere Bedeutung aber bleibt meist verborgen. Nicht im Gehirn, sondern in der europäischen Geistesgeschichte findet sich der Schlüssel, warum wir die Welt ästhetisch verstehen sollten.

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Heute herrscht ein Kult um die Schönheit, ihre tiefere Bedeutung aber bleibt meist verborgen. Nicht im Gehirn, sondern in der europäischen Geistesgeschichte findet sich der Schlüssel, warum wir die Welt ästhetisch verstehen sollten.

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Es waren die Jahrzehnte um die Jahrtausendwende, als in den USA und in Deutschland die "Dekaden des Gehirns" ausgerufen wurden: Die Hirnforschung wurde damit zu einer Leitwissenschaft für das 21. Jahrhundert geadelt. Die Nachbeben dieser offiziell geschürten Begeisterung sind heute noch an allen Ecken und Enden zu spüren - selbst im Bereich der Ästhetik. Dass Schönheit letztlich in den Gehirnwindungen des Betrachters liegt, ist nunmehr das Credo der Neuroästhetik, die sich in den vergangenen Jahren als neues Forschungsfeld etabliert hat. Ästhetisches Empfinden soll hier mit naturwissenschaftlichen Methoden ergründet werden. Fraglich jedoch bleibt, ob dieser Ansatz imstande ist, der Tiefendimension der Ästhetik gerecht zu werden.

Der Blick der Philosophen

Denn in der Regel denken wir heute viel zu gering über die Bedeutung des Schönen. Wir assoziieren damit Phänomene wie Mode, Design oder Lifestyle samt den dazugehörenden Hochglanzmagazinen mit Bildern prominenter Schönlinge, die ihre Waschbrettbäuche, aufgespritzten Lippen und Silikonbusen zur Schau stellen. Allerdings ist das Ästhetische viel mehr als das Glatte und Glänzende, das einem in unserer aufpolierten Lebenswelt überall entgegenblickt. In den seltenen Fällen, in denen die Wahrnehmung des Schönen zum Teil eines Alltagsgesprächs wird, sind dazu meist dieselben unzureichenden Meinungen zu hören. Um in die Tiefendimension der Ästhetik einzutauchen, ist es zunächst notwendig, diese verstellenden Auffassungen zu beseitigen.

Erstens ist häufig zu hören: Da Schönheit rein subjektiv sei, lässt sich durch die ästhetische Erfahrung keine allgemeingültige Erkenntnis gewinnen. Die Geschmäcker sind eben verschieden und ein verbindliches Urteil über das Schöne sei nun einmal schwer herzustellen. Zweitens wird darauf verwiesen, dass sich Schönheitsideale im Laufe der Geschichte verändert haben und sich etwa die wohlgenährten Modelle der Barockzeit - man denke an Rubens - doch erheblich von den heutigen, meist anorektischen Laufsteg-Models unterscheiden. Was schön ist, sei historischen und kulturellen Wandlungen unterworfen: also auch insofern eine höchst relative Angelegenheit.

Drittens wird behauptet, Schönheitsideale hätten etwas Stachliges, denn all jene, die nicht ins Idealbild fallen, werden indirekt durch einen vergleichenden Blick abgewertet. Schön, wer den ästhetischen Forderungen des Zeitgeists genügt; fatal aber für jene, die es nicht tun. Viertens, so das Fazit, werde man durch die Beschäftigung mit dem Schönen geblendet, denn diese lenke vom Übel und den Missständen der Gegenwart ab. Ja, es sei sogar in einem gewissen Sinn unethisch, sich angesichts des Elends in der Welt mit dem Schönen zu befassen.

Die vier Argumente stimmen, aber nur unter der Prämisse des neuzeitlichen Anthropozentrismus, der das Schöne vom Menschen her denkt. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass bis zum Mittelalter die Kunst und das Schöne nicht ästhetisch, sondern metaphysisch, über den Menschen hinausgehend verortet wurden. Gewiss braucht es den Menschen, um das Schöne zu erleben. Aber dass es auch der Mensch ist, der die Dinge durch sein Auge schön macht, ist ein Fehlschluss: Vielmehr muss etwas bereits schön sein, erst dann kann es als schön erlebt werden. Über die Bedeutung des Schönen haben sich die Philosophen viele Gedanken gemacht -ganz egal, wer es erfährt und an welchem Ding oder Erlebnis sich die Erfahrung entzündet.

Hören wir uns nur bei den großen Denkern um: Das Schöne enthüllt das Wahre und das Gute (Platon), es zeigt die harmonische Ordnung der Dinge (Pseudo-Dionysius Areopagita), es ist eine der transzendentalen Bestimmungen Gottes (Thomas von Aquin). In der Schönheit scheint die Welt in ihrer Vollkommenheit (Baumgarten). Das Schöne ist Symbol des Sittlich-Guten, es befördert die Lebenskräfte (Kant), ermöglicht die Erfahrung der Freiheit (Schiller), ist Aufenthaltsort des absoluten Geistes (Hegel), die Instanz, die dem Nihilismus Einhalt gebietet (Nietzsche) und die "Seinsvergessenheit" aufhebt (Heidegger). Durch die ästhetische Erfahrung wird der kapitalistischen Kolonialisierung der Wirklichkeit ein Korrektiv entgegengehalten (Marcuse, Adorno). Und nicht zuletzt: Der Vorschein des Schönen und das Einleuchten des Verstehens sind wesensverwandt (Gadamer).

Zur Ästhetik des Nylonsacks

Das Schöne ist für die Lebensorientierung notwendig, denn ästhetische Erfahrung vermag kraft ihres Lichtcharakters Wirklichkeitsbereiche zu beleuchten, die sonst im Dunkeln bleiben würden. Weil das Schöne "höchst klar Erscheinendes und höchst Liebenswertes" ist - die Formel Platons -, vermag es die höheren Werte sichtbar zu machen, die Lebensideale transparent zu halten und die ethischen Belange zu regeln.

Dass sich das Schöne auch an völlig wert- und belanglosen Dingen entzünden kann, demonstriert etwa der Film "American Beauty" (USA, 1999). Vor allem durch die berühmte "Nylonsack-Szene", in der ein junger Mann (Ricky Fitts) seiner Freundin (Jane Burnham) das Schönste zeigt, das er je gefilmt hat: einen durch den Wind tanzenden Nylonsack. Das tanzende "Sackerl" ist deshalb so wichtig für Ricky, weil er durch dieses Erlebnis zu einer bedeutenden Erkenntnis gelangt: "Diese Tüte hat einfach mit mir getanzt, 15 Minuten lang, wie ein kleines Kind, das dauernd bettelt, mit mir zu spielen. 15 Minuten lang. An dem Tag ist mir klar geworden, dass hinter allen Dingen Leben steckt und diese unglaubliche gütige Kraft, die mich wissen lassen wollte, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben, nie wieder. Ein Video ist ein armseliger Ersatz - ich weiß. Aber es hilft mir, mich zu erinnern, und ich muss mich erinnern. Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt ( )."

Erlösung vom Leiden am Dasein

"American Beauty" hat viele spannende Interpretationen erfahren. Was jedoch allen Interpreten entgangen ist, ist die Tatsache, dass in Rickys Nylonsack-Szene der platonische Topos der kalokagathía eingeschrieben ist, die Erfahrung des "Schön-Guten" durch das ästhetische Erlebnis. In Lebensphilosophie gewendet: Die Erfahrung des Schönen sagt uns nicht nur: "Du musst Dein Leben ändern"(Rilke), sondern verankert diese Erfahrung im Vertrauen darauf, dass die Neugestaltung des Lebens auch gelingen wird - egal in welch schwieriger Situation man auch steckt.

Dass die tief gehende Erfahrung des Schönen etwas Erlösendes hat, weiß bereits der Mythos. Sisyphos wurde von den Göttern gezwungen, eine sinnlose Arbeit zu verrichten. Es gibt einen einzigen Moment, an dem Sisyphos wirklich ein glücklicher Mensch war - so wie Albert Camus meinte, dass wir ihn uns vorstellen müssen. Als Orpheus seine Frau Euridike verloren hatte, durch seinen Trauergesang die Götter erweichte und Zutritt zum Hades erhielt, trat er singend in die Unterwelt ein: Eine Art Siegeshymne ob der Wiedervereinigung mit Eurydike anstimmend, sang Orpheus überwältigend schön. Dies Lied vernahm Sisyphos. Das sei der einzige Moment gewesen, in dem er seine Arbeit vergaß, sich auf seinen Stein setzte und dem Liebreiz des Gesangs lauschte. Die Kunst, sagte einst Schopenhauer, führe zur guten Selbstvergessenheit und damit zur zeitweiligen Erlösung vom Leiden am Dasein. Erfahrungen des Schönen vermitteln Urvertrauen: Genau darum brauchen wir eine zutiefst ästhetische Weltbetrachtung.

Der Autor ist Philosoph, Psychotherapeut sowie Universitätsdozent an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien

Ästhetik als Therapie

Therapie als ästhetische Erfahrung. Von Martin Poltrum, Ulf Heuner (Hrsg.). Parodos Verlag, 2015.204 Seiten, kart., € 20,60

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