Maß- und Maßstablosigkeit

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Sind menschliche Werte nur subjektiv? Eine Klarstellung zu einschlägigen Auseinandersetzungen der letzten Zeit.

In der aus aktuellen Anlässen begonnenen Debatte rund um die Werte, die aber eine Eigendynamik entwickelt hat und auch ins Prinzipielle hineinreicht, taucht auch eine Frage auf, die nicht nur für ein akademisches Fachpublikum interessant ist, sondern wegen ihrer enormen praktischen Auswirkung auch eine breitere Öffentlichkeit angeht: Sind die menschlichen Werte, obwohl sie unbestreitbar im Subjekt und auf das Subjekt wirken, deswegen auch schon rein subjektiv? Manche - wie Konrad Paul Liessmann - beantworten diese Frage kurzerhand und apodiktisch mit Ja und erklären alle Versuche, die Werte auch objektiv zu begründen und in einer höheren als der subjektiven Wirklichkeit zu verankern, als "gescheitert". Müssen, ja dürfen wir uns als philosophisch denkende Menschen dieser Feststellung anschließen und hören wir auf, auf der Höhe der Zeit zu stehen, wenn wir eine Gegenposition einnehmen?

Mitnichten. Die Tatsache subjektiver Wertentscheidungen und Optionen schließt die Existenz objektiver Werte nicht nur nicht aus, sondern setzt sie geradezu voraus. Wohl gibt es Bereiche, in denen vorwiegend bis ausschließlich das subjektive Werten vorherrscht, so im ökonomischen Bereich im Verhältnis des Käufers zu einer Ware. Es ist das Verdienst der weltberühmten Wiener Schule der Nationalökonomie, die Bedeutung des Wertes und des Grenznutzens für den Wert einer Ware herausgearbeitet und in den Mittelpunkt dieser Disziplin gestellt zu haben. Im übrigen gibt es im Hinblick auf übergeordnete Werte und den Grundwert der menschlichen Würde Materien, die ab ovo vom Markt und seiner Automatik ausgeschlossen sind, so der Menschen- und Drogenhandel. Für diese menschlichen Missbräuche gibt es nur einen illegalen, von der Rechts- und Wertordnung verpönten Markt. Daher trifft auch die freie Option am freien Markt nur weitgehend, aber nicht lückenlos zu.

Prinzip der Verschwendung

Was im ökonomischen Bereich doch weitgehend zutrifft, gilt nicht für die höheren geistigen, die religiösen, ethischen und ästhetischen Werte. Dass die genannten Werte die höheren sind, lässt sich aber nicht rein empirisch und psychologisch begründen, sondern nur ontologisch und aus einer aus der Wirklichkeit tatsächlich nachweisbaren Wertehierarchie, die im 20. Jahrhundert vor allen von zwei Philosophen erstellt wurde: von Nicolai Hartmann und Max Scheler.

Besonders Max Scheler - dem 1928 erst 54-jährig verstorbenen deutschen Philosophen, den Martin Heidegger, sub specie aeternitatis selbst ein Anwärter auf die Position des größten Philosophen des vergangenen Jahrhunderts, in einem Nachruf als dessen besten philosophischen Kopf bezeichnet hat - ist es zu verdanken, eine über den Kantschen Formalismus des kategorischen Imperativs hinausgehende "materiale Wertethik" begründet und ausgeführt zu haben. Scheler lässt es nicht mit bloßen Behauptungen und willkürlichen Setzungen bewenden, sondern gibt Kriterien an, die uns erlauben, ja, dazu zwingen, die Werte in niedere und höhere, fundierende und abgeleitete einzuteilen und deren Stellenwert objektiv zu bestimmen.

Um im vorliegenden Zusammenhang nur ein solches Kriterium, das vielleicht auch das wichtigste ist, anzuführen: die höheren und geistigen Werte zeichnen sich im Gegensatz etwa zu den ökonomischen, die auf Knappheit, auf Aus- und Abgrenzung beruhen, dadurch aus, dass sie durch Mitteilungen an andere nicht vermindert werden und auch nicht bloß erhalten bleiben, sondern sich vervielfachen und bis ins Unerschöpfliche gehen. So wird ein Kunstwerk dadurch, dass es von vielen genossen und verinnerlicht wird, nicht weniger, sondern mehr. In der Welt des Geistes herrscht das Prinzip der Verschwendung, aus dem heraus auch Gott als der höchste Wert sich den Menschen in seiner Schöpfung, in der Welt der Natur und des Geistes, mitgeteilt hat und auch laufend mitteilt.

Ohne Werthierarchie...

Die Subjektivisten, die nur das wertende Subjekt und seine wertenden Akte sehen, verfehlen den Zusammenhang mit dem objektiven Geist einer bestimmten Zeit und Räumlichkeit und mit dem absoluten Geist, an dem sowohl der objektive als auch der subjektive partizipiert. Eine solche Betrachtung schneidet den Weg zu den höheren Bezogenheiten ab und führt nicht zu einer Bereicherung der Reflexion, sondern zu deren Verarmung, sie dient nicht einem besseren Verständnis der relevanten Zusammenhänge, sondern dessen Reduzierung.

Besonders wird die Unergiebigkeit der subjektivistischen und reduktionistischen Perspektive am Beispiel der Kunst deutlich. Wer die Kunst nur als Projektion menschlicher Subjektivität versteht, verfehlt deren Wirklichkeit und Wirken ebenso, wie eine vom ontologischen Stufenbau der Wirklichkeit absehende Philosophie das Verständnis für das Ganze und die sie durchziehenden Zusammenhänge verliert. Selbst der Atheist Arthur Schopenhauer kam in seiner Philosophie der Kunst im Rahmen seines Hauptwerkes "Die Welt als Wille und Vorstellung" nicht umhin, das eigentliche Objekt und Movens der Kunst in der "platonischen Idee" zu erblicken. Umso mehr muss eine christlich vertiefte Wertlehre und Kunstphilosophie die Kunst als Abglanz einer höheren Wirklichkeit verstehen. Wohl gibt es auch in der Kunst einen Spielraum subjektiver Einschätzung, das ändert aber nichts daran, dass es ästhetische Kriterien gibt, die es ermöglichen, das Kunstwerk zum Kunstwerk zu machen und es als solches zu erkennen.

Noch mehr gilt diese Aussage für die Sphäre der Moral: die Tatsache, dass es verschiedene Ausprägungen und Systeme der Moral gibt, bedeutet nicht, dass moralische Normen beliebig sind und der freien Willkür des einzelnen unterliegen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass jeder, der versucht, die Werte und das Werten von der platonischen Trias des Wahren, Guten und Schönen zu lösen und bloß dem subjektiven Ermessen des einzelnen zu überlassen, der Philosophie keinen guten Dienst erweist, sondern ihren Verfall und Zusammenbruch vorantreibt. Ohne den Wahrheitsbegriff nämlich verliert die Philosophie ihren Zentralwert, so wie das menschliche Recht ohne das Streben nach Gerechtigkeit zur Willkür entartet und die Kunst ohne die disziplinierende Kraft der Schönheit und anderer ästhetischer Kriterien - so Symmetrie und Proportionalität im Zusammenhang mit dem menschlichen Körper - den Halt verliert und, da sie sich nicht den objektiven Maßstäben unterwirft, Gefahr läuft, maßstablos und damit auch maßlos zu werden und sich einem gültigen Urteil zu entziehen.

... ist alles erlaubt

Die schon genannten Wertphilosophen waren weit davon entfernt, die Bedeutung des Wertungsaktes auf Seiten des Subjekts zu unterschätzen, ja, sie haben auch die Tragik erkannt, die in der Tatsache liegt, dass wir nicht alle Werte sondern nur einige auf Kosten anderer gleichzeitig verwirklichen können. Sie haben in diesem Zusammenhang auch von der "Antinomie des Wertvorzugs" gesprochen, der darin besteht, dass wir in der Entfaltung unserer Existenz immer hinter den uns fordernden Werten zurück bleiben müssen und ihnen nie vollkommen gerecht werden können. Sie haben aber daraus nicht den falschen Schluss der Nicht-Existenz objektiver Werte und der Entbehrlichkeit derselben gezogen, sondern nur den, den Werten gegenüber aufgeschlossen und wachsam zu bleiben und unser angeborenes "Wertfühlen" als Instrument der Wahrheits- und Sinnfindung einzusetzen.

Gäbe es keine Werthierarchie, so wäre auch die Entscheidung der Nazis, den biologischen Wert der "arischen Abstammung" zum höchsten Wert zu erklären, legitim. Mit allen schrecklichen Folgen, die diese grundfalsche Entscheidung für unzählige Menschen bedeutet hat. Nun belehrt uns aber eine Werthierarchie und strukturelle Anthropologie, dass der Geist über dem rein biologischen Wert steht und es daher unzulässig ist, diese Seinsordnung umzukehren.

Der Autor ist Leiter des Ludwig Boltzmann-Institutes für neuere österreichische Geistesgeschichte.

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